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[Der Gerichtshof vertagt sich bis 14.00 Uhr.]

Nachmittagssitzung.

OBERST ROBERT G. STOREY, ANKLÄGER FÜR DIE VEREINIGTEN STAATEN: Hoher Gerichtshof! Mit Zustimmung von Oberstleutnant Griffith-Jones möchte ich den Verteidigern gern eine Mitteilung machen.

Heute abend um 7.30 Uhr wird den Verteidigern der Rest des Films, den die Vereinigten Staaten als Beweismaterial unterbreiten, im Gerichtssaal vorgeführt werden. Wir bitten alle Verteidiger dringend, um 7.30 Uhr zu erscheinen.

Dr. DIX: Ich glaube, namens der Verteidiger erklären zu können, daß es uns nicht notwendig erscheint, daß uns Filme vor der Hauptverhandlung, also doppelt gezeigt werden. Wir erkennen die Aufmerksamkeit und die Bereitschaft, uns unsere Arbeit zu erleichtern, auch in diesem Angebot durchaus und dankbar an; unsere Abendstunden sind aber außerordentlich durch die Verarbeitung des Prozeßstoffes und auch durch die notwendigen Rücksprachen mit unseren Klienten in Anspruch genommen. Was nun Filmvorführungen anlangt, so stehen diese ja auf einem ganz anderen Brett, wie zum Beispiel Dokumente. Dokumente will man gerne vorher, mindestens gleichzeitig oder kurz nachher lesen. Aber genau so, wie wir die Zeugenaussagen erst in der Hauptverhandlung aufnehmen und verarbeiten müssen, so sind wir natürlich in viel höherem Maße in der Lage und bereit, den Film als Beweismaterial erst in der Hauptverhandlung in uns aufzunehmen. Wir glauben, daß sich die Anklagevertretung nicht die Mühe zu machen braucht, uns diese Filme zweimal, nämlich immer an irgendeinem Abend vorher, vorzuführen. Wir bitten, das nicht als eine – wie soll ich sagen – Demonstration in irgendeiner Hinsicht aufzufassen; sondern es liegt wirklich nur daran, da die Herren mit den ebenerwähnten Arbeiten so in Anspruch genommen sind, daß wir jede überflüssige Arbeit sowohl der Staatsanwaltschaft als auch uns ersparen können. Ich wiederhole aber und unterstreiche, daß die grundsätzliche Bereitschaft der Staatsanwaltschaft, unsere Arbeit zu erleichtern, mit dieser Ankündigung der Filmvorführung erfüllt worden ist, und wir dies durchaus und dankbar anerkennen; ich bitte, meine Worte in diesem Sinne zu verstehen.

VORSITZENDER: Verstehe ich richtig, daß Sie der Ansicht sind, die Filmvorführung sei für die Verteidiger unnötig, bevor sie im Beweisvortrag der Hauptverhandlung erfolgt ist? Wollten Sie das zum Ausdruck bringen?

DR. DIX: Ja, das ist das, was ich gesagt habe.

VORSITZENDER: Oberst Storey! Ich bin nicht sicher, ob Sie hier waren, als Dr. Dix seine Bemerkung vortrug. Soweit ich verstehe, ist er der Ansicht, daß angesichts der erheblichen Vorbereitungsarbeiten, die die Verteidiger zu bewältigen haben, sie es nicht für notwendig erachten, diese Filme zu sehen, bevor sie als Beweismittel aufgenommen sind. Gleichzeitig aber möchte er seinem Dank für die Bereitwilligkeit der Anklagevertretung Ausdruck geben.

OBERST STOREY: Sehr einverstanden! Es ist uns recht; wir wollten es lediglich im Interesse der Verteidigung tun.

VORSITZENDER: Sehr gut.

OBERSTLEUTNANT GRIFFITH-JONES: Als sich der Gerichtshof vertagte, hatte ich gerade den Brief von Herrn Daladier an Hitler vom 26. August verlesen. Am 27. August antwortete Hitler auf diesen Brief; ich glaube, es ist unnötig, die Antwort hier zu verlesen. Der Sinn ist ziemlich derselbe wie der des Schreibens, das er an den britischen Ministerpräsidenten in Beantwortung des Briefes richtete, den er zu Anfang derselben Woche erhalten hatte.

Diese beiden Briefe sind dem Deutschen Weißbuch entnommen, das ich als Beweisstück GB-58 vorlege. Ich bitte den Gerichtshof, beide Briefe unter derselben Nummer einzuordnen. Danach könnte niemand behaupten, daß die Deutsche Regierung sich irgendwie im Zweifel über die Stellungnahme der Britischen und der Französischen Regierung für den Fall eines deutschen Angriffs auf Polen befand.

Aber die Bemühungen, den Frieden zu erhalten, waren damit nicht beendet. Am 24. August schrieb Präsident Roosevelt an Hitler sowohl wie an den Präsidenten der Polnischen Republik. Ich zitiere lediglich die ersten Absätze dieses Briefes:

»In der Botschaft, die ich Ihnen am 14. April übersandte, sagte ich, daß es die Führer der Großmächte offensichtlich in der Hand hätten, ihre Völker vor dem drohenden Verderben zu retten, daß aber, wenn nicht unverzüglich und mit gutem Willen auf allen Seiten darauf hingearbeitet würde, eine friedliche und konstruktive Lösung der bestehenden Streitfrage zu finden, die Krise, der sich die Welt gegenübersähe, zur Katastrophe führen müsse. Heute scheint diese Katastrophe in der Tat sehr nahe bevorzustehen.

Auf die Botschaft, die ich Ihnen im letzten April sandte, habe ich keine Antwort erhalten; jedoch in dem zuversichtlichen Glauben, daß die Sache des Weltfriedens – die die Sache der Menschheit selbst ist – allen anderen Erwägungen vorangeht, wende ich mich erneut an Sie, in der Hoffnung, daß der drohende Krieg und das daraus für alle Völker folgende Unheil doch noch vermieden werden kann.

Ich bitte Sie daher dringend und mit allem Ernst – ich richte dieselbe Bitte an den Präsidenten der Polni schen Republik – daß die Deutsche und Polnische Regierung gemeinsam darin übereinkommen, für einen annehmbaren, begrenzten Zeitabschnitt von Feindseligkeiten jeglicher Art Abstand zu nehmen, und daß sie auf ähnliche Weise gemeinsam darin übereinkommen, die zwischen ihnen entstandenen Streitpunkte auf einem der drei folgenden Wege zu lösen:

1. durch direkte Verhandlungen,

2. dadurch, daß sie diese Streitfrage einem unparteiischen Schiedsgericht, zu dem sie beide Vertrauen haben können, unterbreiten, oder

3. durch die Bereitwilligkeit, diese Streitpunkte auf dem Vergleichswege zu lösen.«

Ich glaube, es ist nicht notwendig, noch mehr zu verlesen. Wie ich schon vorher dem Gerichtshof mitgeteilt habe, war die Antwort darauf der Befehl an seine Wehrmacht, am folgenden Morgen Polen anzugreifen. Dieses Dokument ist Beweisstück TC-72, Nr. 124, das GB-59 wird. Ich lege auch das nächste Dokument als Beweisstück vor, TC-72, Nr. 126, GB-60, nämlich die Antwort des Präsidenten der Polnischen Republik auf diesen Brief; er nimmt darin das Angebot, die Streitfragen auf einem der vorgeschlagenen friedlichen Wege zu lösen, an.

Nachdem keine Antwort von der Deutschen Regierung eingetroffen war, schrieb Präsident Roosevelt am 25. August nochmals:

»Soeben erhielt ich voitt Polnischen Präsidenten eine Antwort auf die Botschaft, die ich Eurer Exzellenz und ihm gestern abend übersandt hatte.«

Es folgt der Text der polnischen Antwort; dann heißt es weiter:

»Euer Exzellenz haben wiederholt öffentlich erklärt, daß die Ziele und Zwecke, die das Deutsche Reich verfolgt, gerecht und vernünftig seien. In seiner Antwort auf meine Botschaft hat der Präsident Polens dargelegt, daß die Polnische Regierung gewillt ist, auf der in meiner Botschaft niedergelegten Grundlage die Streitfragen, die zwischen der Polnischen Republik und dem Deutschen Reich entstanden sind, durch direkte Verhandlungen oder auf dem Vergleichswege zu lösen. Zahllose Menschenleben können noch gerettet werden, und noch kann man die Hoffnung hegen, daß die Nationen der heutigen Welt auch jetzt noch die Grundlagen für friedliche und glücklichere Beziehungen zueinander errichten können, sofern Sie und die Reichsregierung den Weg einer friedlichen Regelung beschreiten wollen, dem die Polnische Regierung bereits zugestimmt hat. Die ganze Welt betet, daß Deutschland ebenfalls zustimmen wird.«

Aber, Herr Vorsitzender, Deutschland wollte nicht zustimmen, wollte auch nicht die Mahnungen des Papstes annehmen, die in dem nächsten Dokument enthalten sind.

Ich vergaß zu erwähnen, daß die Antwort des polnischen Präsidenten TC-72, Nummer 127 ist und GB-61 wird.

Deutschland wollte weder diese Vorschläge annehmen, noch der dringenden Mahnung des Papstes Beachtung schenken, die sich im Dokument TC-72, Nr. 139, findet. Es trägt ebenfalls das Datum des 24. August und wird Beweisstück GB-62. Ich glaube nicht, daß es notwendig ist, dieses Dokument zu verlesen, da sich seine Mahnung in ähnlichen Wendungen hält. Es liegt noch ein weiterer Appell des Papstes, vom 31. August, vor; er befindet sich in TC-72, Nr. 14, und wird GB-63. Ich bitte um Entschuldigung, es ist 141, TC-72, Nr. 141. Ich glaube, in der Übersetzung des Gerichtshofs ist der Druck schlecht:

»Der Papst möchte nicht die Hoffnung aufgeben, daß die schwebenden Verhandlungen doch noch zu einer gerechten, friedlichen Lösung, für die die ganze Welt dauernd betet, führen mögen.«

Ich glaube, es ist nicht nötig, auch noch das übrige zu verlesen. Wäre sich der Papst darüber klar gewesen, daß jene Verhandlungen, die er als »schwebende Verhandlungen« bezeichnete, in den letzten Tagen des August, mit denen wir uns jetzt zu beschäftigen haben, vollkommene Scheinverhandlungen waren – Scheinverhandlungen, soweit sie Deutschland angingen –, dann würde er sich wahrscheinlich die Mühe erspart haben, diese letzte Mahnung auszusprechen. Denn sie wurden tatsächlich, wie ich hoffe, dem Gerichtshof sogleich beweisen zu können, nur in dem Bestreben von Deutschland fortgesetzt, England durch Drohung oder Bestechung davon abzuhalten, seine Verpflichtungen gegen Polen zu erfüllen.

Es ist offensichtlich, daß die letzten deutschen Angebote, denen ich mich jetzt zuwende, nicht Angebote im gebräuchlichen Sinn dieses Wortes waren; ihnen lag keinerlei Absicht zugrunde, auf Erörterungen, Verhandlungen, auf einen richterlichen Entscheid oder irgendeine andere Form friedlicher Regelung mit Polen einzugehen. Es handelte sich hierbei lediglich um einen Versuch, Polen auf einfachere Art und Weise zu besetzen und zu erobern, als dies möglich erschien, wenn England und Frankreich den von ihnen übernommenen Verpflichtungen nachkämen.

Bevor ich mich mit diesen Dokumenten befasse, sollte ich vielleicht in wenigen Worten diese letzten Verhandlungen zusammenfassen.

Am 22. August wurde, wie bekannt, das Deutsch- Russische Abkommen unterzeichnet. Am 24. August wurde den Truppen der Befehl gegeben, am nächsten Morgen zu marschieren. Nachdem diese Befehle gegeben waren, erhielt die Deutsche Regierung anscheinend die Nachricht, daß die Britische und Polnische Regierung tatsächlich einen formellen Nichtangriffs- und gegenseitigen Beistandspakt unterzeichnet hatten. Bis zu diesem Zeitpunkt war – – wie Sie sich erinnern werden – die Lage so, daß der Premierminister im Unterhaus eine Erklärung abgegeben hatte und ein gemeinsames Kommuniqué herausgegeben worden war, ich glaube am 6. April, wonach sie einander Beistand leisten wollten, wenn einer von ihnen angegriffen würde; ein formelles Abkommen war jedoch nicht unterzeichnet worden.

Am 24. August, nachdem jene Befehle bereits erteilt waren, erhielt nun die Deutsche Regierung die Nachricht, daß eine solche formelle Urkunde unterzeichnet worden war; der Angriff wurde lediglich aus dem Grunde verschoben, einen letzten Versuch zu machen, England und Frankreich dem Kriege fernzuhalten, nicht um den Krieg zu beenden, nicht um den Krieg zu vermeiden, sondern ausschließlich, um sie von dem Krieg fernzuhalten.

Um dies zu erreichen, gab Hitler am 25. August, nach Aufschub der Invasion, einen mündlichen Bescheid an Sir Nevile Henderson, der, wie der Gerichtshof sehen wird, eine Mischung von Bestechung und Bedrohung war; er hoffte, damit England zu überreden, sich aus dem Krieg herauszuhalten.

Am 28. August überreichte Sir Nevile Henderson Hitler die Antwort der Britischen Regierung auf seinen Bescheid. Die Antwort unterstrich, daß die Schwierigkeiten durch Verhandlungen bereinigt werden sollten. Die Britische Regierung legte ihre Ansicht dar, daß für Danzig eine Garantie gegeben und auch jedes spätere Abkommen durch andere Mächte garantiert werden sollte, ein Vorschlag, der selbstverständlich und in jedem Fall für das Deutsche Reich vollkommen unannehmbar war.

Man braucht sich nicht zu überlegen, was annehmbar oder unannehmbar gewesen sein würde, nachdem in der Antwort der Britischen Regierung vom 28. August vollkommen klargestellt wurde, daß England nicht davon abzubringen war, Polen im Falle eines deutschen Angriffes zu Hilfe zu kommen. Die Deutsche Regierung war in Wirklichkeit auch an weiteren Verhandlungen nicht interessiert, sie suchte lediglich für sich selbst eine Art Rechtfertigung, damit es später nicht so aussehen sollte, als hätte sie alle an sie gerichteten Appelle an die Vernunft schlankweg abgelehnt.

Um 7.15 Uhr abends des 29. August überreichte Hitler Sir Nevile Henderson die Antwort der Deutschen Regierung auf die Erwiderung der Britischen Regierung vom 28. Auch aus diesem Dokument geht wiederum ganz deutlich hervor, daß sein ganzer Zweck darin bestand, Vorschläge zu machen, die vollkommen unannehmbar waren. Hitler versprach direkte Unterhandlungen, wie sie von der Britischen Regierung vorgeschlagen waren, forderte jedoch, daß die Grundlage dieser Unterhandlungen die Rückgabe Danzigs sowie des gesamten Korridors an das Reich sein müsse.

Sie werden sich erinnern, daß damals, als er behauptete, Polen sei von dem Vertrag des Jahres 1934 zurückgetreten, er lediglich die Rückkehr Danzigs sowie die Errichtung einer exterritorialen Autobahn und Eisenbahnlinie durch den Korridor nach Ostpreußen verlangte. Dies war damals unannehmbar. Um nun ganz sicher zu gehen, fordert er jetzt den gesamten Korridor; eine Autobahn oder Eisenbahnlinie stand nicht mehr zur Debatte. Das ganze Gebiet müsse deutsch werden.

Um nun doppelt sicher zu sein, daß sein Angebot nicht angenommen werden würde, sagte er:

»Die Deutsche Reichsregierung ist unter diesen Umständen... damit einverstanden, die vorgeschlagene Vermittlung der Königlich Britischen Regierung zur Entsendung einer mit allen Vollmachten versehenen polnischen Persönlichkeit nach Berlin anzunehmen. Sie rechnet mit dem Eintreffen dieser Persönlichkeit für Mittwoch, den 30. August 1939.«

Dieses Angebot machte er am 29. August um 7.15 Uhr abends. Es mußte zunächst nach London weitergeleitet werden, dann von London nach Warschau, und die Polnische Regierung mußte ihrerseits von Warschau aus ihrem Gesandten in Berlin die notwendigen Vollmachten geben. Die Zeitspanne machte es daher völlig unmöglich, dem Gesandten in Berlin die notwendigen Vollmachten bis Mitternacht des nächsten Tages zu erteilen. Es gab ihr keinerlei Möglichkeit, die Angelegenheit zu besprechen. Wie Sir Nevile Henderson es bezeichnete, grenzte das Angebot an ein Ultimatum.

Um Mitternacht des 30. August, das heißt zu dem Zeitpunkt, an dem der polnische Generalbevollmächtigte erwartet wurde, besuchte Sir Nevile Henderson Ribbentrop. Ich möchte Ihnen den Bericht dieser Unterredung verlesen, in deren Verlauf Sir Nevile Henderson Ribbentrop in Beantwortung der Note, die ihm am vorhergehenden Abend übermittelt worden war, eine weitere Mitteilung machte. Ribbentrop verlas daraufhin in deutscher Sprache ein zwei- oder dreiseitiges Dokument, welches angeblich die deutschen Vorschläge enthielt, die bei der Unterredung zwischen der Deutschen und der Polnischen Regierung erörtert werden sollten. Er verlas sie schnell in deutscher Sprache. Er weigerte sich, dem Englischen Botschafter eine Kopie auszuhändigen. Er gab auch keinerlei Kopie an den Polnischen Botschafter. Aus diesem Grunde bestand für die Polen nicht die geringste Gelegenheit, sich tatsächlich über die Vorschläge klar zu werden, die Deutschland ihnen so gnädig und so großmütig zur Diskussion vorlegte.

Am folgenden Tage, dem 31. August, besuchte Herr Lipski Ribbentrop, konnte aber nichts weiter erreichen, als daß ihm die Frage vorgelegt wurde, ob er Vollmacht besitze. Auf die Antwort, daß er keine solche besitze, sagte Ribbentrop, daß er die Lage dem Führer vortragen würde. Tatsächlich war es jedoch zu diesem Zeitpunkt schon viel zu spät, eine Stellungnahme des Führers herbeizuführen, denn am 31. August – leider bin ich nicht in der Lage, den genauen Zeitpunkt anzugeben – am 31. August aber hatte Hitler jedenfalls seine Weisung Nr. 1 schon herausgegeben und die X-Stunde auf ein Viertel vor fünf des folgenden Morgens, des 1. September, festgesetzt. Am Abend des 31. August um 9 Uhr übertrug der deutsche Rundfunk die Vorschläge, die Ribbentrop am vorhergehenden Abend Sir Nevile Henderson vorgelesen hatte. Es wurde erklärt, daß diese Vorschläge die Grundlage für eine Diskussion hätten darstellen sollen, daß sie aber nunmehr von der Deutschen Regierung als abgelehnt angesehen würden, da inzwischen kein polnischer Bevollmächtigter eingetroffen sei, um sie zu erörtern. Durch diesen Rundfunkbericht vom Abend des 31. August, 9 Uhr, erfuhren die Polen erstmals von diesen Vorschlägen. Genau genommen lernten auch die Britische Regierung und ihre diplomatischen Vertreter in Berlin sie erstmals dadurch kennen, abgesehen von dem, was sie erfuhren, als Ribbentrop am Abend des 30. die Vorschläge verlas und sich weigerte, eine Abschrift zu übermitteln. Nach dieser Rundfunksendung um 9.15 Uhr, vielleicht also noch, als die Sendung gerade lief, erhielt Sir Nevile Henderson zum ersten Male eine Kopie der Vorschläge.

Nachdem ich damit zur Erleichterung für den Gerichtshof, wie ich hoffe, die zeitliche Entwicklung der Ereignisse in dieser letzten Woche zusammengefaßt habe, bitte ich, kurz auf die noch übrig bleibenden Dokumente in dem Dokumentenbuch verweisen zu dürfen.

Ich unterbreite zunächst als Beweisstück einen Auszug aus dem Verhör des Angeklagten Göring vom 29. August 1945.

DR. STAHMER: Als Verteidiger des Angeklagten Göring widerspreche ich der Vorlage der Urkunde, die einen Protokollauszug aus einer Zeugenvernehmung des Angeklagten Göring darstellt. Der Angeklagte Göring ist hier an Gerichtsstelle, kann jederzeit auf den Zeugenstand gerufen und unmittelbar zu dem Thema, das hier in dieser Urkunde behandelt ist, gehört werden.

VORSITZENDER: Ist dies Ihr Einwand?

DR. STAHMER: Jawohl.

VORSITZENDER: Angesichts der Artikel 15 c) und 16 b) und c) des Statuts versteht der Gerichtshof den Grund Ihres Einspruches nicht. Artikel 15 c) sieht vor, daß die Hauptanklagevertreter unter anderem die Pflicht haben, »Vorverhöre aller benötigten Zeugen und der Angeklagten« durchzuführen. Artikel 16 sieht vor, daß:

»Zwecks Wahrung der Rechte der Angeklagten folgendes Verfahren eingeschlagen werden soll:...

b. Während eines vorläufigen Verfahrens... soll der Angeklagte berechtigt sein, auf jede der gegen ihn erhobenen Beschuldigungen eine erhebliche Erklärung abzugeben.

c) Die vorläufige Vernehmung des Angeklagten... soll in einer Sprache geführt oder in eine Sprache übersetzt werden, die der Angeklagte versteht.«

Diese Bestimmungen des Statuts zeigen nach Ansicht des Gerichtshofs, daß die Angeklagten verhört werden können und daß diese Verhöre als Beweismaterial verwendet werden können.

DR. STAHMER: Ich bin nur davon ausgegangen, daß, wenn die Möglichkeit besteht, über eine Beweisfrage einen Anwesenden als Zeugen zu verhören, diesem Verhör eines Zeugen der Vorzug zu geben ist, weil es das stärkere Beweismittel darstellt.

VORSITZENDER: Sie werden jedenfalls die Möglichkeit haben, den Angeklagten, den Sie verteidigen, aufzufordern, selbst Zeugnis abzulegen, aber das hat mit der Zulässigkeit seines Verhörs, seines Vorverhörs, nichts zu tun.

OBERSTLEUTNANT GRIFFITH-JONES: Dieser Auszug ist TC-90 und wird als Beweisstück GB-64 vorgelegt. Ich zitiere aus der Mitte der ersten Antwort, am Ende der 7. Zeile. Der Angeklagte Göring sagt dort:

»Am Tage, an dem England Polen seine offizielle Garantie gab, rief mich der Führer telephonisch an und sagte mir, er hätte die geplante Invasion in Polen aufgehalten. Daraufhin fragte ich ihn, ob dies nur zeitweilig sei oder endgültig. Er sagte: ›Nein, ich werde sehen müssen, ob wir Englands Einmischung ausschalten können.‹...«

VORSITZENDER: Wollen Sie nicht erst die Frage verlesen?

OBERSTLEUTNANT GRIFFITH-JONES: Ich wiederhole die Frage:

»Frage: War es nicht ziemlich klar, daß eine friedliche Lösung unmöglich war, nachdem die Verhandlungen des Polnischen Außenministers in London Ende März oder Anfang April 1939 zum Abschluß des Englisch- Polnischen Vertrages geführt hatten?

Antwort: Jawohl, sie war meiner Überzeugung nach unmöglich, nicht aber nach der Überzeugung des Führers. Als dem Führer gesagt wurde, England habe Polen seine Garantie gegeben, sagte er, daß England auch Rumänien eine Garantie gegeben habe, aber als die Russen dann Bessarabien einnahmen, sei nichts geschehen, und dies hätte einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht.

Ich habe mich hier geirrt: Zu dieser Zeit war Polen eine Garantie nur versprochen worden. Die Garantie selbst wurde erst kurz vor Kriegsausbruch gegeben. Am Tage, an dem England Polen seine offizielle Garantie gab, rief mich der Führer telephonisch an und sagte mir, er hätte die geplante Invasion von Polen aufgehalten. Darauf fragte ich ihn, ob dies nur zeitweilig sei oder endgültig. Er sagte: ›Nein, ich werde sehen müssen, ob wir Englands Einmischung ausschalten können.‹ Daraufhin fragte ich ihn: ›Glauben Sie, daß es in 4 oder 5 Tagen anders sein wird?‹

Zu dieser Zeit – ich weiß nicht, Herr Oberst, ob Sie hiervon wissen – stand ich durch einen besonderen Kurier außerhalb des gewöhnlichen diplomatischen Weges mit Lord Halifax in Verbindung, um alles zu tun, einen Krieg mit England zu vermeiden.

Nachdem die Garantie gegeben war, hielt ich eine englische Kriegserklärung für unvermeidlich. Ich sagte ihm das schon im Frühjahr 1939, nach der Besetzung der Tschechoslowakei, daß er von jetzt an mit der Feindschaft Englands werde rechnen müssen, falls er versuchen sollte, die polnische Frage zu lösen. Das war 1939, also nach dem Protektorat.

Frage: Ist es nicht eine Tatsache, daß die Vorbereitungen für den Polenfeldzug ursprünglich bis Ende August 1939 beendet sein sollten?

Antwort: Jawohl.

Frage: Und daß der Befehl für den Feldzug gegen Polen zwischen dem 15. und dem 20. August 1939, nach der Unterzeichnung des Vertrages mit Sowjetrußland endgültig herausgegeben wurde?

Die Daten sind hier offensichtlich falsch.

Antwort: Jawohl, das stimmt.

Frage: Ist es nicht außerdem Tatsache, daß der Feldzug für den 25. August befohlen worden war, daß er aber am 24. August nachmittags auf den 1. September aufgeschoben wurde, um die Resultate erneuter diplomatischer Manöver mit dem Englischen Botschafter abzuwarten?

Antwort: Jawohl.«

Mein Kommentar zu diesem Dokument bezieht sich auf den zweiten Absatz, in dem Göring behauptet, daß er keinen Krieg mit England wolle. Der Gerichtshof wird sich erinnern, daß Göring es war, der nach der berühmten Ansprache vom 22. August an die Oberbefehlshaber aufstand, dem Führer für seine Ermahnungen dankte und ihm versicherte, daß die Wehrmacht ihre Aufgabe erfüllen werde.

Ich überspringe das nächste Dokument, das diesen Tatbestand nur noch weiter entwickelt, und wende mich Hitlers Verbal-Kommuniqué zu, wie es im Britischen Blaubuch genannt wird; er überreichte es am 25. August dem Britischen Botschafter Sir Nevile Henderson, nachdem er von der Unterzeichnung des Englisch-Polnischen Vertrages unterrichtet worden war, mit der Absicht, England von der Erfüllung seiner Verpflichtungen abzuhalten.

Er erklärte im ersten Absatz, daß er nach Anhörung des Englischen Botschafters noch einen weiteren Versuch machen wolle, den Krieg zu vermeiden; im zweiten Absatz behauptet er wieder, daß die Provokationen Polens untragbar seien. Ich zitiere Absatz 2:

»Deutschland sei unter allen Umständen entschlossen, diese mazedonischen Zustände an seiner Ostgrenze zu beseitigen, und zwar nicht nur im Interesse von Ruhe und Ordnung, sondern auch im Interesse des europäischen Friedens.

Das Problem Danzig und Korridor müsse gelöst werden. Der britische Ministerpräsident habe eine Rede gehalten, die nicht im geringsten geeignet sei, einen Wandel in der deutschen Einstellung herbeizuführen. Aus dieser Rede könne höchstens ein blutiger und unübersehbarer Krieg zwischen Deutschland und England entstehen. Ein solcher Krieg würde blutiger sein, als der von 1914 bis 1918. Im Unterschied zu dem letzten Krieg würde Deutschland keinen Zweifrontenkrieg mehr zu führen haben.«

Man sieht in diesem Abschnitt die Drohungen, die versteckten Drohungen.

»Das Abkommen mit Rußland sei bedingungslos und bedeute eine Wende in der Außenpolitik des Reiches auf längste Zeit. Rußland und Deutschland würden unter keinen Umständen mehr die Waffen gegeneinander ergreifen. Davon abgesehen würden die mit Rußland getroffenen Abmachungen Deutschland auch wirtschaftlich für eine längste Kriegsperiode sichern.

Dem Führer habe immer an der deutsch-englischen Verständigung gelegen. Ein Krieg zwischen England und Deutschland könne im günstigsten Falle Deutschland einen Gewinn bringen, England aber überhaupt nichts.«

Dann kommen wir zur Bestechung.

»Der Führer erklärt, daß das deutsch-polnische Problem gelöst werden müsse und gelöst werden würde. Er ist aber bereit und entschlossen, nach der Lösung dieses Problems noch einmal an England mit einem großen umfassenden Angebot heranzutreten. Er ist ein Mann großer Entschlüsse und wird auch in diesem Falle zu einer großen Handlung fähig sein. Dann bejaht er« – großmütig – »das britische Imperium und ist bereit, sich für dessen Bestand persönlich zu verpflichten und die Kraft des Deutschen Reiches dafür einzusetzen, wenn seine kolonialen Forderungen, die begrenzt sind, auf friedlichem Wege ausgehandelt werden können, ... seine Verpflichtungen Italien gegenüber nicht tangiert werden.«

Wiederum betont er seinen unwiderruflichen Entschluß, niemals in einen Krieg gegen Rußland einzutreten. Ich zitiere die beiden letzten Absätze:

»Wenn die Britische Regierung diese Gedanken erwägen würde, so könnte sich daraus ein Segen für Deutschland...«

VORSITZENDER: Warum verlesen Sie nicht die ersten Zeilen des Absatzes 3?

OBERSTLEUTNANT GRIFFITH-JONES: Ja, ich habe Absatz 3 zusammengefaßt. »Er wünscht ebenso den unverrückbaren Entschluß Deutschlands zu betonen, nie mehr mit Rußland in einen Konflikt einzutreten.«

VORSITZENDER: Ja.

OBERSTLEUTNANT GRIFFITH-JONES: Ich zitiere die letzten zwei Absätze:

»Wenn die Britische Regierung diese Gedanken erwägen würde, so könnte sich daraus ein Segen für Deutschland und auch für das britische Weltreich ergeben. Wenn sie diese Gedanken ablehnt, wird es Krieg geben. Auf keinen Fall würde Großbritannien aus diesem Krieg stärker hervorgehen. Schon der letzte Krieg habe dies bewiesen.

Der Führer wiederholt, daß er ein Mann großer und ihn selbst verpflichtender Entschlüsse sei und dies sein letzter Vorschlag wäre.«

VORSITZENDER: Der Gerichtshof wird sich vertagen und die Beweisführung kann dann fortgesetzt werden.