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[Das Gericht vertagt sich, bis 14.00 Uhr.]

Nachmittagssitzung.

MAJOR JONES: Hoher Gerichtshof! Ich möchte nun die Aufmerksamkeit des Gerichtshofs auf Dokument C-23, US-49, auf Seite 3 des Dokumentenbuchs lenken; in ihm wird festgestellt, daß die tatsächliche Wasserverdrängung gewisser deutscher Schlachtschiffe um zwanzig Prozent größer gewesen ist, als sie den Engländern angegeben wurde. Meines Erachtens ist dies für die Täuschungsmanöver Raeders typisch.

Das nächste Dokument, auf das ich kurz verweisen möchte, ist C-166, US-48, auf Seite 36 des Dokumentenbuchs. Es ist ein weiteres betrügerisches Dokument, in welchem befohlen wird, daß Hilfskreuzer, die heimlich gebaut wurden, als »Transportschiffe« bezeichnet werden sollten.

Das nächste Dokument C-29, US-46, auf Seite 8 des Dokumentenbuchs ist von Raeder unterschrieben und befaßt sich mit der Unterstützung der deutschen Rüstungsindustrie durch die deutsche Marine; meiner Ansicht nach beleuchtet es Raeders Mitwirkung an allgemeinen Dingen der Nazi-Politik und die enge Verbindung zwischen Nazi-Politikern, deutschen Truppenbefehlshabern und deutschen Rüstungsindustriellen.

VORSITZENDER: Ist es schon vorgelegt worden?

MAJOR JONES: Es ist als Beweisstück US-46 schon vorgelegt worden.

Einen Rechenschaftsbericht über die Flottenaufrüstung nach 1939 stellt das Dokument C-155 auf Seite 24 des Dokumentenbuchs dar. Es ist ein neues Dokument und wird Beweisstück GB-214. Es ist ein an die deutsche Kriegsmarine gerichteter Brief Raeders vom 11. Juni 1940. Das jetzt dem Gerichtshof überreichte Original zeigt, in wie großem Umfange dieser Brief verteilt wurde. Die Verteilungsliste enthält eine Aufstellung über 467 Abdrucke. Dieser Brief ist ein Versuch Raeders, sich selbst zu rechtfertigen und zu entschuldigen. Die Auszüge haben folgenden Wortlaut:

»Von den zahlreichen Fragen, die im Offizierkorps Gegenstand der Erörterung sind, steht derzeit die Torpedolage und das Problem, ob das Bauprogramm der Kriegsmarine bis Herbst 1939 der Möglichkeit des Kriegsausbruchs bereits 1939 Rechnung getragen hat, oder ob nicht von vornherein der Schwerpunkt auf den Bau von U-Booten hätte gelegt werden müssen, im Vordergrund...

Wenn Stimmen in dem Offizierkorps laut werden, daß das gesamte Schiffsbauprogramm der Kriegsmarine falsch angelegt worden ist und daß man bei Beginn der Wiederaufrüstung zunächst den Schwerpunkt auf die U-Bootwaffe und nach deren Ausbau auf die großen Schiffe hätte legen sollen, so muß ich dazu folgendes feststellen:

Der Aufbau der Flotte richtete sich nach den politi schen Erfordernissen. Sie wurden durch den Führer bestimmt. Der Führer hoffte bis zuletzt, die drohende Auseinandersetzung mit England bis zum Jahre 1944/45 verlegen zu können. Zu diesem Zeitpunkt hätte die Kriegsmarine über einen Flottenbestand verfügt, der eine gewaltige Überlegenheit der U-Bootwaffe und ein sehr viel günstigeres Stärkeverhältnis in allen anderen Schiffstypen, besonders den für den Hochseekrieg geeigneten, gezeigt hätte. Die Entwicklung der Ereignisse hat die Kriegsmarine – gegen die Erwartung auch des Führers – in einen Krieg gezwungen, den sie noch im Anfangsstadium ihres Rüstungsaufbaues annehmen mußte, so daß die Auffassung, der Schwerpunkt hätte von vornherein auf dem Ausbau der U-Bootwaffe liegen müssen, ihren Vertretern scheinbar Recht gibt. Ich lasse unerörtert, wie weit dieser Ausbau, abgesehen von Personal-, Ausbildungs- und Werftschwierigkeiten, allein durch die politischen Bindungen des deutsch-englischen Flottenabkommens überhaupt gegenüber dem tatsächlichen wesentlich hätte gesteigert werden können. Ich lasse auch unerörtert, wie die zunächst notwendige Schaffung einer wirksamen Luftwaffe den wünschenswerten Ausbau der anderen Wehrmachtteile zurücktreten lassen mußte. Ich weise aber mit Stolz auf die vorzügliche und trotz aller politischen Hemmungen sehr weitgehende Vorbereitung des U-Bootbaues in den Jahren der Systemzeit hin, die nach der Machtübernahme den ungeheuer schnellen Aufbau der U-Bootwaffe nach Material und Personal erst ermöglichte...«

Es tritt hier, wie der Gerichtshof sieht, nicht die Spur eines Widerstrebens, an dem Nazi-Programm mitzuarbeiten, in Erscheinung. Im Gegenteil zeigt das Beweismaterial, daß Raeder die Macht der Nazis willkommen hieß und eine ihrer Stützen wurde. Ich werde nun die Beziehungen zwischen Raeder, der Marine und der Nazi-Partei zu schildern versuchen.

Nach Ansicht der Anklagebehörde war es Raeder, der mehr als irgendein anderer dafür sorgte, daß die deutsche Kriegsmarine der Nazi-Bewegung eine widerspruchslose Ergebenheit entgegenbrachte. Diese Ergebenheit gestaltete Dönitz später sogar noch fester und fanatischer.

Raeders Einverständnis mit Hitler zeigte sich besonders klar am 2. August 1934, dem Tag von Hindenburgs Tod, als er und alle seine ihm unterstellten Männer unter großen Feierlichkeiten einen neuen Treueid ablegten, dieses Mal auf Adolf Hitler und nicht mehr auf das Vaterland. Den Eid finden Sie im Dokument D-481, auf Seite 101 des Dokumentenbuchs. Es wird Beweisstück GB-215. Es mag den Gerichtshof interessieren, zu erfahren, wie der neue Eid lautete. Der letzte Absatz heißt:

»Der Diensteid der Soldaten der Wehrmacht lautete: ›Ich schwöre bei Gott diesen heiligen Eid, daß ich dem Führer des Deutschen Reiches und Volkes, Adolf Hitler, dem Oberbefehlshaber der Wehrmacht, unbedingten Gehorsam leisten und als tapferer Soldat bereit sein will, jederzeit für diesen Eid mein Leben einzusetzen.‹«

Der Gerichtshof wird daraus ersehen, daß Raeder »Vaterland« durch »Führer« ersetzte.

Ich möchte die Zeit des Gerichtshofs nicht für eine nochmalige Darstellung der Maßnahmen in Anspruch nehmen, durch welche die deutsche Kriegsmarine allmählich in engste Verbindung zur Nazi-Partei gebracht wurde. Ich erinnere den Gerichtshof nur an historische Tatsachen, wie die Anbringung des Hakenkreuzes in der Flagge der deutschen Kriegsmarine und das Tragen des Hakenkreuzes auf der Uniform von Marineoffizieren und Mannschaften. Das sind Tatsachen, die für sich selbst sprechen.

Die Nazis ihrerseits waren für Raeders Folgsamkeit und Mitarbeit nicht undankbar. Seine Verdienste um den Wiederaufbau der deutschen Kriegsmarine wurden durch Nazi-Propagandisten und die Nazi-Presse voll anerkannt. An seinem 66. Geburtstag veröffentlichte das Hauptparteiorgan, der »Völkische Beobachter«, einen Sonderartikel über ihn; auf diesen Artikel möchte ich den Gerichtshof aufmerksam machen. Er befindet sich im Dokumentenbuch auf Seite 100. Es ist Dokument D-448, GB-216. Es ist eine wertvolle Zusammenfassung von Raeders Beiträgen für den Aufstieg der Nazis:

»Es war Raeders Verdienst,« – schreibt der »Völkische Beobachter« – »trotz der Fesseln von Versailles schon damals aus der zahlenmäßig kleinen Flotte ein schlagkräftiges Instrument gemacht zu haben.

Mit der Machtübernahme durch den Nationalsozialismus begann auch für die deutsche Flotte die fruchtbarste Zeit des Wiederaufbaues. Der Führer gab seiner Anerkennung für die treuen Dienste und die aufopferungsvolle Mitarbeit Raeders dadurch äußeren Ausdruck, daß er ihn am 20. April 1936 zum Generaladmiral ernannte.«

VORSITZENDER: Halten Sie es für notwendig, das ganze Dokument zu verlesen?

MAJOR JONES: Ich wollte noch aus dem vorletzten Absatz lesen, Herr Vorsitzender; mir erscheint es zweckmäßig:

»Als Soldat und Seemann hat sich der Großadmiral gleich bewährt, er ist der erste und der nächste seemännische Mitarbeiter des Führers.«

Meiner Ansicht nach bringt dies deutlich seinen Rang und seine Stellung im Nazi-Deutschland zum Ausdruck.

Ich möchte mich jetzt mit Raeders persönlichem Anteil an der Nazi-Verschwörung befassen. Das Beweismaterial zeigt, daß Raeder vom Zeitpunkt der Machtübernahme der Nazis an mehr und mehr die Verantwortung für die allgemeine Politik des Nazi- Staates mitübernahm.

Lange vor seiner Beförderung zum Generaladmiral im Jahre 1936 wurde er Mitglied des streng geheimen Reichsverteidigungsrats; er trat diesem am Tage der Gründung, dem 4. April 1933, bei. Auf diese Weise war er schon von einem frühen Zeitpunkt an sowohl militärisch als auch politisch in die Nazi-Verschwörung verwickelt. Das hierfür erhebliche Dokument ist EC-177, US-390, auf Seite 68 des Dokumentenbuchs; es enthält, wie ich den Gerichtshof erinnern möchte, die klassische Nazi-Devise:

»Mündlich übermittelte Dinge sind nicht nachweisbar, sie können in Genf von uns abgestritten werden.«

Am 4. Februar 1938 wurde Raeder zum Mitglied des neugebildeten Geheimen Kabinettsrats für auswärtige Angelegenheiten ernannt. Das ergibt sich aus Dokument 2031-PS, GB-217, auf Seite 88 des Dokumentenbuchs.

Drei Wochen später ordnete ein Erlaß Hitlers an, daß Raeder als einem Reichsminister im Range gleichstehend auch an Kabinettssitzungen teilzunehmen hätte. Das war schon in dem Dokument 2098-PS ausgeführt, das als Beweisstück GB-206 vorgelegt wurde.

Es ist daher meines Erachtens offensichtlich, daß sich die Verantwortlichkeit Raeders für die politischen Entscheidungen des Nazi-Staates von 1933 bis 1938 ständig vergrößerte, und daß er im Laufe der Zeit Mitglied aller Beratungsausschüsse in der großen Politik wurde. In der Tat war er ein aktives Mitglied des inneren Rates der Verschwörer und muß meines Erachtens mit ihnen die Verantwortung für die Handlungen, die zu der deutschen Invasion Polens im Jahre 1939 und zum Kriegsausbruch führten, tragen.

Zur Veranschaulichung möchte ich den Gerichtshof daran erinnern, daß Raeder zwei Schlüsselbesprechungen beiwohnte, in denen Hitler seine Absicht, benachbarte Staaten anzugreifen, offen aussprach. In Dokument 386-PS, US-25, auf Seite 81 des Dokumentenbuchs befindet sich, wie sich der Gerichtshof erinnern wird, eine Sitzungsniederschrift einer Besprechung Hitlers in der Reichskanzlei am 5. November 1937 über Fragen, die für zu wichtig gehalten wurden, um sie im größeren Kreis des Reichskabinetts zu erörtern. Das Dokument, das Herr Alderman vorgelegt hat, liefert den schlagenden Beweis dafür, daß die Nazis ihre Verbrechen gegen den Frieden vorher genau ausgeklügelt hatten.

Bei einer anderen Besprechung Hitlers am 23. Mai 1939, deren Niederschrift sich im Dokument L-79, US-27, auf Seite 74 des Dokumentenbuchs befindet, bestätigte Hitler, wie sich der Gerichtshof erinnern wird, seine wohlüberlegte Absicht, bei der ersten passenden Gelegenheit Polen anzugreifen, wobei er sich bewußt war, daß dies zu einem sich über Europa ausbreitenden Krieg führen würde.

Dies waren die zwei wichtigsten Besprechungen. Bei vielen, vielen anderen war Raeder zugegen, um seine Kenntnisse und seine beruflichen Fähigkeiten in den Dienst der Nazi-Kriegsmaschine zu stellen.

Seine aktive Förderung der militärischen Planung und Vorbereitung für den polnischen Feldzug ist dem Gerichtshof zur Genüge bekannt; ich will daher nicht noch einmal auf dieses Beweismaterial zurückkommen. Gleich nach Kriegsbeginn erwies sich der Angeklagte Raeder jedoch als Meister in einer sehr typischen Kunst der Verschwörer, nämlich des Betrugs im großen. Es gibt kaum einen besseren Beweis für diese Behauptung als seine Behandlung des »Athenia« – Falles.

Wie dem Gerichtshof bekannt ist, war die »Athenia« ein Passagierdampfer, der am Abend des 3. September 1939 auf dem Wege nach Amerika versenkt wurde; dabei fanden ungefähr hundert Menschen den Tod.

Am 23. Oktober 1939 veröffentlichte die Zeitung der Nazi-Partei, der »Völkische Beobachter«, einen Artikel mit der schreienden Schlagzeile »Churchill versenkte die ›Athenia‹«. Ich möchte auf Dokument 3260-PS, GB-218, auf Seite 97 des Dokumentenbuchs hinweisen und bitte den Gerichtshof, einen Augenblick die Kopie des »Völkischen Beobachters« hier einzusehen, um das Ausmaß dieser vorbedachten Lüge voll und ganz zu erfassen. Ich besitze eine Photokopie der betreffenden Seite des »Völkischen Beobachters« dieses Datums. Es ist die dritte Seite, und der Gerichtshof wird auf dem Titelblatt, dick rot unterstrichen, die Worte finden: »Jetzt hat der Angeklagte Churchill das Wort.«

Der Auszug aus dem »Völkischen Beobachter« auf Seite 97 des Dokumentenbuchs lautet wie folgt:

»Churchill versenkte die ›Athenia‹.

Das Bild oben« – und der Gerichtshof wird finden, daß es ein gutes Bild dieses schönen Schiffes ist – »zeigt die stolze ›Athenia‹, den Ozeanriesen, den Churchills Verbrechen vernichtete. Deutlich sieht man die große Funkanlage an Bord des Dampfers. Nirgends aber wurden SOS-Rufe des Schiffes vernommen. Warum schwieg die ›Athenia‹? Weil ihr Kapitän der Welt nichts mitteilen durfte. Er hütete sich wohlweislich, die Welt darüber aufzuklären, daß Winston Churchill den Versuch unternommen hatte, das Schiff durch Explosion einer Höllenmaschine zu versenken. Er wußte es wohl, aber er mußte schweigen. Fast 1500 Menschen wären ums Leben gekommen, hätte der ursprüngliche Anschlag Churchills das Ergebnis gehabt, das der Verbrecher wünschte. Ja, er hoffte sehnlich, daß die 100 Amerikaner, die auf dem Dampfer fuhren, den Tod in den Fluten finden möchten, damit sich der Zorn des von ihm belogenen amerikanischen Volkes gegen Deutschland als den vermutlichen Urheber der Tat richten sollte. Ein Glücksfall war es, daß die Mehrzahl dem ihnen von Churchill zugedachten Schicksal entging. Unser Bild rechts zeigt 2 verwundete Passagiere. Sie wurden von dem Frachtdampfer ›City of Flint‹ gerettet und, wie hier ersichtlich, dem amerikanischen Küstenschutzboot ›Gibb‹ zur weiteren ärztlichen Behandlung übergeben. Sie sind eine stumme Anklage gegen den Verbrecher Churchill. Sie rufen ihn ebenso wie die Scharen der Umgekommenen vor das Gericht der Welt und legen dem britischen Volk die Frage vor: Wie lange noch darf ein Mörder eines der traditionsreichsten Ämter versehen, das Großbritanniens Geschichte kennt?«

Angesichts der Boshaftigkeit dieser Bekanntmachung des »Völkischen Beobachters«, und um den Männern der britischen Handelsmarine gerecht zu werden, halte ich es für angebracht, zu erwähnen, daß im Gegensatz zur Behauptung dieses Nazi-Blattes die »Athenia« natürlich wiederholt drahtlose Notsignale ausgesandt hatte, die in der Tat von H. M. S. »Electra«, einem Begleitschiff, und auch von dem norwegischen Dampfschiff »Knut Nelson« und der Jacht »Southern Cross« aufgefangen und beantwortet wurden.

Ich werde dem Gerichtshof Beweismaterial unterbreiten, welches ergibt, daß die »Athenia« tatsächlich von dem deutschen U-Boot U-30 versenkt wurde. So ungerechtfertigt war jedoch die Torpedierung der »Athenia«, daß sich die deutsche Marine auf die Fälschung einer ganzen Zahl ihrer Aufzeichnungen und auf andere unehrliche Maßnahmen in der Hoffnung einließ, dadurch das Geheimnis ihrer Schuld zu verbergen. Der Gerichtshof hat erkannt, daß die Nazi- Propagandisten ihrer beliebten Lügenhaftigkeit frönten, die Verantwortlichkeit den Briten in die Schuhe zu schieben.

Der Kommandant des U-30, Oberleutnant Lemp, fiel bei einem späteren Unternehmen, aber einige Männer der ursprünglichen Besatzung des U-30 sind noch am Leben und können jetzt als Kriegsgefangene über den Vorgang aussagen. Um diese Episode restlos aufzuklären, lege ich dem Gerichtshof die eidesstattliche Erklärung eines Mannschaftsmitglieds des U-30 vor; sie behandelt die Versenkung der »Athenia« und die eine Seite des Versuchs, die wahren Tatsachen zu verschleiern.

Ich beziehe mich auf Dokument D-654, GB-219, auf Seite 106 des Dokumentenbuchs. Diese eidesstattliche Erklärung lautet:

»Ich, Adolf Schmidt, Stammrollnummer N 1043-33 T der deutschen Kriegsmarine und ehemaliges Mitglied des Unterseebootes U-30, erkläre hiermit an Eidesstatt, daß:

1) Ich befinde mich als Kriegsgefangener im kanadischen Lager No. 133 Lethbridge, Alta.

2) daß am ersten Kriegstage, 3. September 1939, ein Schiff von ungefähr 10000 Tonnen von der U-30 in den späten Abendstunden torpediert wurde;

3) daß ungefähr eine halbe Stunde nach der Torpedierung des Schiffes wir aufgetaucht waren, und der Kommandant mich auf den Turm rief, um mir das torpedierte Schiff zu zeigen;

4) daß ich das Schiff mit meinen eigenen Augen gese hen habe, aber daß ich nicht glaube, daß das Schiff unser U-Boot wegen der besonderen Position des Mondes zu dieser Zeit sehen konnte;

5) daß nur wenige Leute der Besatzung eine Gelegenheit hatten, auf den Turm zu gehen, um das torpedierte Schiff zu sehen;

6) daß außer mir Oberleutnant Hinsch auf dem Turm war, als ich das Schiff nach dem Angriff sah;

7) daß ich beobachtete, daß das Schiff eine Schlagseite hatte;

8) daß kein Warnungsschuß vor dem Abschuß des Torpedos abgefeuert wurde;

9) daß ich selbst beobachtet hatte, daß auf dem torpedierten Schiff rege Bewegung herrschte;

10) daß ich glaube, daß das Schiff nur einen Schornstein hatte;

11) daß bei dem Angriff auf dieses Schiff ein oder zwei Torpedos abgefeuert wurden, die nicht explodierten, aber daß ich selbst die Explosion des Torpedos gehört habe, das den Dampfer getroffen hat;

12) daß Oberleutnant Lemp bis zur Dunkelheit mit dem Wiederauftauchen wartete;

13) daß ich am 14. September 1939 durch Flieger schwer verwundet wurde;

14) daß mich Oberleutnant Lemp kurz vor meiner Ausschiffung in Reykjavik am Vormittag des 19. September 1939 im Unteroffiziersraum besuchte, wo ich schwer verwundet lag;

15) daß Oberleutnant Lemp den Offiziersraum von allen Leuten räumen ließ, um mit mir allein zu sein;

16) daß Oberleutnant Lemp mir dann eine eidesstattliche Erklärung vorlegte, derzufolge ich mich verpflichten mußte, über die Vorfälle an Bord der U-30 am 3. September 1939 nichts zu erwähnen;

17) daß der Wortlaut dieser eidesstattlichen Erklärung ungefähr wie folgt lautete:

Ich Endesgefertigter schwöre hiermit, daß ich alle Vorfälle vom 3. September 1939 an Bord der U-30 verschweigen werde, egal ob Freund oder Feind, und alle Vorfälle dieses Tages aus meinem Gedächtnis verlöschen werde‹;

18) daß ich diese eidesstattliche Erklärung, die von dem Kommandanten in seiner eigenen Handschrift geschrieben wurde, mit der linken Hand – sehr undeutlich – unterschrieben habe;

19) daß mir später in Island, als ich von der Versenkung der Athenia erfuhr, der Gedanke kam, daß die U-30 am 3. September 1939 die Athenia versenkt haben könnte, zumal der Kapitän mich zur Unterschreibung der oben erwähnten Erklärung veranlaßte;

20) daß ich bis zum heutigen Tage zu niemandem über diese Ereignisse gesprochen habe;

21) daß angesichts der Beendigung des Krieges ich mich von meinem Eid enthoben fühle.«

Der Anteil Dönitz' an der »Athenia«-Episode ist in einer von ihm beschworenen eidesstattlichen Erklärung beschrieben; es ist Dokument D-638, GB-220, auf Seite 102 des Dokumentenbuchs. Die eidesstattliche Erklärung wurde in englischer Sprache beschworen. Ich bitte den Gerichtshof, den Zusatz von vier Worten zu beachten, den Dönitz in seiner eigenen Handschrift am Ende der Erklärung angefügt hat. Die Bedeutung dieses Zusatzes wird sogleich klar werden.

Der Angeklagte Dönitz erklärt:

»U-30 lief ungefähr Mitte September wieder in den Hafen ein. Ich traf den Kommandanten, Oberleutnant Lemp, an der Schleuse in Wilhelmshaven, als das Boot in den Hafen einfuhr, und er bat mich sofort um eine private Besprechung. Ich sah sofort, daß er sehr unglücklich aussah und er erzählte mir gleich, daß er dachte, daß er für die Versenkung der ›Athenia‹ im Nordkanalgebiet verantwortlich sei. Gemäß meiner früheren Anordnung hatte er scharf auf das mögliche Auftauchen von Hilfskreuzern in den Anlaufwegen zu den Britischen Inseln aufgepaßt, und er hat ein Schiff torpediert, welches er später durch einen Rundfunkbericht als die ›Athenia‹ erkannte, da er unter dem Eindruck war, es handelte sich um einen Hilfskreuzer auf Vorpostenstation. Während meines Belehrungsunterrichtes habe ich niemals einen bestimmten Schiffstyp als Hilfskreuzer bezeichnet und habe auch keinen Namen von Schiffen genannt. Ich habe Lemp mit einem Flugzeug nach Berlin geschickt, um sich bei der SKL zu melden, und mittlerweile befahl ich strengste Geheimhaltung als eine vorübergehende Maßnahme. Später, am selben Tage oder in der Frühe des nächsten Tages, bekam ich von Kapitän zur See Fricke folgenden mündlichen Befehl:

1. Die Angelegenheit muß als strengstes Geheimnis behandelt werden.

2. Das OKM ist der Ansicht, daß ein Kriegsgericht nicht angebracht sei, weil es sich davon überzeugte, daß der Kommandant in gutem Glauben gehandelt habe.

3. Erklärungen politischer Natur sollen von dem OKM selbst behandelt werden.

An irgendwelchen politischen Angelegenheiten, in welchen der Führer behauptete, daß kein U-Boot die ›Athenia‹ versenkt habe, habe ich nicht teilgenommen.

Nachdem Lemp von Berlin nach Wilhelmshaven zurückkehrte, habe ich ihn über die Versenkung eingehend verhört und hatte den Eindruck gewonnen, daß er nicht genügend Vorsicht bewahrte, um die Bezeichnung des Schiffes eindeutig zu überprüfen, als er es angriff, obwohl er dabei eine gewisse Vorsicht zeigte.

Schon bevor diese Angelegenheit passierte, hatte ich strengsten Befehl erteilt, daß alle Handelsschiffe und Neutrale nach Prisenverordnung behandelt werden müssen. Aus diesem Grunde habe ich ihn unter Kammerarrest gesetzt, da ich überzeugt war, daß er von einem Kriegsgericht freigesprochen werden würde, welches nur unerwünschte Publizität und...«

Nun kommen die von Dönitz eingefügten Worte

»... gleichzeitig Verlust von Zeit zur Folge haben konnte.«

Es scheint mir richtig, hinzuzufügen, daß die Behauptung Dönitz', der Kommandant der U-30 habe die ›Athenia‹ versenkt, weil er sie irrtümlich für ein Handelsschiff gehalten habe, im Licht eines Dokuments zu würdigen ist, das Oberst Phillimore vorgelegt hat. Es ist Dokument C-191, GB-193, das den Befehl Dönitz vom 22. September 1939 enthält, daß:

»...eine warnungslose Versenkung eines Handelsschiffes mit der möglichen Verwechslung mit Kriegsschiff bzw. Hilfskreuzer begründet werden müßte.«

Die U-30 kehrte am 27. September 1939 nach Wilhelmshaven zurück. Ich lege ein anderes betrügerisches Marine-Dokument vor, und zwar Dokument D-659, GB-221, Seite 110 des Dokumentenbuchs. Es ist ein Auszug aus dem Kriegstagebuch des Oberbefehlshabers der U-Boote vom 27. September 1939 und lautet:

»U-30 läuft ein. Es hat versenkt:

Dampfer ›Blairlogie‹ 4.475 t

Dampfer ›Fanad Head‹ 5.274 t.«

Ein Hinweis auf die Versenkung der »Athenia« ist natürlich überhaupt nicht vorhanden.

Die vielleicht sorgfältigst ausgearbeitete Fälschung im Zusammenhang mit dieser Episode war jedoch die Fälschung des Logbuchs der U-30, die für die Versenkung der »Athenia« verantwortlich war. Ich lege nun das Originallogbuch dem Gerichtshof als Dokument D-662, GB-222, vor. Ein Auszug aus der ersten und erheblichen Seite befindet sich auf Seite 111 des Dokumentenbuchs. Ich möchte den Gerichtshof bitten, das Original zu überprüfen, weil nach Ansicht der Anklagebehörde die erste Seite dieses Logbuchs eine Fälschung ist, aber eine Fälschung, die eine merkwürdig undeutsche Nachlässigkeit in den Einzelheiten aufweist. Der Gerichtshof wird erkennen, daß die erste Seite des Textes an die Stelle von Seiten getreten ist, die entfernt wurden. Die Daten in der ersten Spalte dieser Seite weisen arabische Zahlen auf. Auf der zweiten und viel glaubwürdiger aussehenden Seite, sowie auf allen anderen Seiten des Logbuchs, finden sich dagegen römische Zahlen.

Der Gerichtshof wird auch erkennen, daß keinerlei Hinweise auf das Unternehmen der Versenkung der »Athenia« am 3. September vorhanden sind. Die Eintragungen sind zur Bequemlichkeit des Gerichtshofs auf Seite 111 des Dokumentenbuchs übersetzt.

Das Logbuch zeigt, daß die Lage der U-30 am 3. September um 14.00 Uhr mit AL 0278 angegeben war; der Gerichtshof wird erkennen, daß dies eine der wenigen Positionen ist, die überhaupt auf dieser Seite angegeben sind. Sie befindet sich in der Tat 200 Meilen westlich von der Stelle, wo die »Athenia« versenkt wurde. Der Kurs nach Süden und die Geschwindigkeit von 10 Knoten, wie sie im Logbuch verzeichnet sind, sind Eintragungen, die ganz offensichtlich dazu bestimmt sind vorzutäuschen, daß das U-30 am 3. September von der Position der »Athenia« weit entfernt war.

Schließlich wird es der Gerichtshof als sehr merkwürdig ansehen, daß Lemps Unterschrift auf der Seite, die sich mit dem 3. September befaßt, sich von seinen anderen Unterschriften im Text unterscheidet. Seite 1 zeigt, daß Lemps Unterschrift ein römisches »p« am Ende seines Namens enthält, während die anderen Unterschriften ein deutsches »p« aufweisen; daraus ziehe ich den Schluß, daß entweder die Unterschrift eine Fälschung ist, oder daß sie Lemp an einem anderen und höchstwahrscheinlich viel späteren Zeitpunkt nachgeholt hat.

Meiner Ansicht nach ist der gesamte »Athenia«- Zwischenfall ein klarer Beweis dafür, daß die deutsche Marine unter Raeder den Weg des bewußten Betrugs eingeschlagen hatte. Selbst vor Eingang des Berichts von Lemp hatte die deutsche Admiralität wiederholt die Möglichkeit abgestritten, daß ein deutsches U-Boot in dem betreffenden Gebiet operiert haben könnte. Die von Oberst Phillimore eingeführten Karten, die die operationsmäßige Aufstellung der U- Boote und die Position der »Athenia« zur Zeit der Versenkung zeigen, lassen die völlige Unehrlichkeit dieser Bekanntmachungen klar erkennen. Meine Ansicht über diese Angelegenheit ist daher folgende: Raeder kannte als Chef der deutschen Kriegsmarine alle diese Tatsachen. Die Zensur und die Nachrichtenkontrolle in Nazi-Deutschland waren so umfassend, daß Raeder als Chef der Kriegsmarine an der im »Völkischen Beobachter« veröffentlichten Fälschung beteiligt gewesen sein mußte. Es war ein ganz ehrloser Versuch der Nazi-Verschwörer, das Gesicht vor ihrem eigenen Volke zu wahren und den Mythos eines unfehlbaren Führers, der sich auf eine unfehlbare Kriegsmaschine stützte, aufrecht zu erhalten.

Der Gerichtshof hat erkannt, daß es bei der Nazi- Propaganda wenig auf die Wahrheit ankam; es sieht auch so aus, als ob sich Raeder bei seinen Tarnungsmanövern nicht darauf beschränkte, seine Schiffe anzustreichen oder sie unter englischer Flagge segeln zu lassen, wie es beim Angriff auf Norwegen und Dänemark der Fall war.

Was nun diese letzte Sache, den Einfall in Norwegen und Dänemark angeht, so halte ich es kaum für notwendig, den Gerichtshof an die führende Rolle zu erinnern, die Raeder bei diesem hinterlistigen Nazi- Angriff spielte. Beweise hierfür sind bereits vorgetragen worden. Ich glaube, ich brauche nur noch Raeders stolze Bemerkungen zu diesen brutalen Einfällen anzufügen, die in seinem Brief in Dokument C-155, auf Seite 25 des Dokumentenbuchs, enthalten sind. Das Dokument liegt dem Gerichtshof schon als GB-214 vor. Es handelt sich um einen Brief Raeders an die Kriegsmarine, aus dem ich einen Teil bereits verlesen habe, und wo es heißt:

»Die Operation der Kriegsmarine zur Besetzung des norwegischen Raumes wird für alle Zeiten die große Waffentat der Kriegsmarine in diesem Kriege bleiben.«

Nach der glücklich vollzogenen Besetzung Norwegens und des größten Teils Westeuropas, richtete Hitler, wie der Gerichtshof gesehen hat, sein Augenmerk auf Rußland. Zugunsten Raeders muß ich feststellen, daß er selbst gegen den Angriff auf Rußland war und sein möglichstes versuchte, Hitler davon abzubringen. Aus den Dokumenten geht jedoch hervor, daß Raeder dieses Problem mit völligem Zynismus behandelte. Er widersetzte sich dem Angriffskrieg auf Rußland nicht, weil dieser rechtswidrig, unmoralisch oder unmenschlich wäre. Sein einziger Einwand bestand darin, daß er unzeitgemäß wäre. Er wollte zuerst England erledigen, ehe er sich in einen weiteren Feldzug einließ.

Die Einzelheiten der Rolle Raeders bei den Beratungen über den Krieg gegen Rußland sind in dem Dokument C-170 auf Seite 37 des Dokumentenbuchs aufgezeichnet; es ist schon als US-136 vorgelegt worden. Dieses Dokument besteht aus Auszügen einer deutschen Zusammenstellung von amtlichen Marineaufzeichnungen der deutschen Seekriegsleitung.

Die erste Eintragung auf Seite 47 des Dokumentenbuchs unter dem Datum des 26. September 1940, Seite 11 des Dokuments C-170, zeigt, daß Raeder Hitler im Gegensatz zu einer kontinentalen Landpolitik eine aggressive Mittelmeerpolitik vorschlug, in deren Durchführung die Flotte eine Spitzenrolle spielen sollte.

Die Eintragung lautet:

»Oberbefehlshaber der Marine beim Führer: Ob.d.M. trägt seine Lage-Auffassung vor: Suezkanal muß mit deutscher Unterstützung genommen werden. Von Suez aus Vorgehen durch Palästina, Syrien; Türkei dann in unserer Gewalt, Rußland-Problem erhält dann anderes Aussehen, Rußland hat im Grunde Furcht vor Deutschland. Fraglich, ob dann noch Vorgehen gegen Rußland von Norden nötig sein werde.«

Die nächste Eintragung auf Seite 48 des Dokumentenbuchs unter dem 14. November:

»Oberbefehlshaber der Marine beim Führer: Führer ist ›immer noch geneigt‹, die Auseinandersetzung mit Rußland zu betreiben. Ob.d.M. empfiehlt Verschiebung auf Zeit nach dem Siege über England, da deutsche Kräfte zu stark beansprucht werden und Ende der Kriegführung nicht abzusehen sei.«

Dann findet sich eine Eintragung auf Seite 50 unter dem 27. Dezember 1940:

»Oberbefehlshaber der Marine beim Führer: Ob.d.M. betont erneut, daß straffe Konzentration unserer gesamten Kriegsmacht gegen England als unseren Hauptgegner das dringende Gebot der Stunde sei. England habe einerseits durch die unglückliche italienische Kriegführung im östlichen Mittelmeer und durch die wachsende amerikanische Unterstützung an Stärke gewonnen. Es könne andererseits durch die bereits wirksam werdende Abschnürung seines Seeverkehrs tödlich getroffen werden. Was für U-Bootbau und Aufbau der See-Luftwaffe geschehe, sei viel zu wenig. Unser gesamtes Kriegspotential müsse für Stärkung der Kriegführung gegen Eng land, also für Marine und Luftwaffe, arbeiten; jede Kräftezersplitterung sei kriegsverlängernd und gefährde den Enderfolg. Ob.d.M. äußert schwere Bedenken gegen Rußlandfeldzug vor Niederringung Englands.«

Auf Seite 52 des Dokumentenbuchs, unter dem 18. Februar 1941, lautet die Eintragung:

»SKL legt Wert auf Besetzung Maltas noch vor ›Barbarossa‹.«

Auf der nächsten Seite, unter dem 23. Februar, befindet sich folgende interessante Eintragung:

»Unterrichtung durch OKW, daß Wegnahme Maltas, ›für den Herbst 1941 nach Durchführung ›Barbarossa‹ vorgesehen ist‹.«

Der Gerichtshof dürfte dies als ein glänzendes Beispiel dafür ansehen, daß hier der Wunsch der Vater des Gedankens war.

Die nächste Eintragung unter dem 19. März 1941 auf Seite 54 des Dokumentenbuchs zeigt, daß Raeder im März 1941 begonnen hatte, zu erwägen, welche Aussichten auf Flottenunternehmungen der Angriff auf Rußland eröffnen würde. Die Eintragung lautet:

»Für ›Barbarossa‹ bezeichnet Ob.d.M. Besetzung Murmansk als dringende Marineforderung. Chef OKW hält Erfüllung für sehr schwierig...«

Wie die Eintragungen in diesem Dokument zeigen hatte Mussolini der Lakai der Nazis, eine aktivere Mittelmeerpolitik der Nazis gefordert. Ich verweise auf Seite 57 des Dokumentenbuchs, die Eintragung für den 30. Mai. Das Wort »Duce« fehlt in der ersten Zeile. Die Eintragung sollte lauten:

»Duce fordert dringend entscheidende Offensive Ägypten – Suez für Herbst 1941; 12 Divisionen seien notwendig; ›dieser Stoß würde für englisches Weltreich tödlicher sein als Einnahme Londons!‹ – SKL stimmt voll zu...«

Die Eintragung für den 6. Juni schließlich, die die strategischen Ansichten Raeders und der deutschen Marine zu diesem Zeitpunkt zeigt, lautet wie folgt Sie steht auf Seite 58 des Dokumentenbuchs:

»Oberbefehlshaber der Marine beim Führer: Denkschrift der SKL: ›Betrachtung über die strategische Lage im östlichen Mittelmeer nach Balkanfeldzug und Kretabesetzung und die weitere Kampfführung‹.«

Ein paar Sätze weiter unten heißt es:

»Die Denkschrift zeigt in eindrucksvoller Klarheit die kriegsentscheidenden Ziele im Nahen Osten auf, deren Erreichung durch die Erfolge im Ägäischen Raum für uns in greifbare Nähe gerückt ist und betont, daß die offensive Ausnutzung der jetzt geschaffenen Gunst der Lage mit größter Beschleunigung und Energie erfolgen müsse, bevor England mit Hilfe der USA seine Stellung im Nahen Osten wieder verstärkt hat. Sie findet sich mit der als unabänderlich angesehenen Tatsache ab, daß der Feldzug gegen Rußland binnen kurzem eröffnet werden wird, fordert aber, daß das Unternehmen ›Barbarossa‹, ›das an Hand der Größe seiner Zielsetzung naturgemäß im Vordergrund der operativen Pläne der Wehrmacht führung steht‹, auf keinen Fall zu einer ›Aufgabe, Verminderung oder Verzögerung der Kampfführung im östlichen Mittelmeer führen darf‹.«

Auf diese Weise suchte Raeder während der ganzen Zeit eine aktive Rolle für seine Marine in den Kriegsplänen der Nazis zu finden.

Nun Hitler einmal seinen Entschluß gefaßt hatte, Rußland anzugreifen, suchte Raeder eine Rolle für die Marine im russischen Feldzug. Der erste Marine-Operationsplan gegen Rußland war besonders hinterlistig. Ich verweise den Gerichtshof auf Dokument C-170, aus dem ich gerade verlesen habe, und zwar auf Seite 59 des Dokumentenbuchs. Der Gerichtshof wird dort eine Eintragung für den 15. Juni 1941 finden:

»Auf Antrag SKL...wird Waffeneinsatz gegen russische U-Boote südlich Nordgrenze Ölandwarngebiet ab sofort freigegeben; rücksichtslose Vernichtung ist anzustreben.«

Der Angeklagte Keitel gab einen charakteristisch unehrlichen Vorwand für diese Aktion in seinem Brief, Dokument C-38, GB-223, auf Seite 11 des Dokumentenbuchs. Der Gerichtshof sieht, daß Keitels Brief das Datum vom 15. Juni 1941 trägt:

»Betrifft: Waffeneinsatz gegen feindliche U-Boote in der Ostsee.

An OKM (SKL). Der Waffeneinsatz gegen U-Boote südlich der Linie Memel-Südspitze Öland wird freigegeben, falls die Boote bei Annäherung deutscher See streitkräfte nicht einwandfrei als schwedisch festgestellt werden.

Als Begründung ist bis zum B-Tag zu unterstellen, daß die eigenen Seestreitkräfte es mit eingedrungenen britischen U-Booten zu tun zu haben glaubten.«

Das war am 15. Juni 1941. Der Gerichtshof wird sich erinnern, daß der Nazi-Angriff auf Rußland nicht vor dem 22. Juni 1941 stattfand. In der Zwischenzeit hatte Raeder Hitler schon am 18. März 1941 gedrängt, das Kampfgebiet des Weltkriegs dadurch auszudehnen, daß Japan zum Überfall auf Singapore veranlaßt würde. Das betreffende Dokument ist C-152, GB-122, auf Seite 23 des Dokumentenbuchs. Nur einen Absatz möchte ich mit Erlaubnis des Gerichtshofs verlesen. Das Dokument beschreibt die Besprechung Raeders mit Hitler am 18. März; die Eintragungen geben in der Tat Raeders eigene Ansichten wieder:

»Japan muß sobald wie möglich zur Wegnahme von Singapore schreiten, da die Gelegenheit so günstig wie nie wieder ist (Bindung der ganzen englischen Flotte, Nichtbereitschaft der USA gegen Japan Krieg zu führen; Unterlegenheit der USA-Flotte gegenüber der japanischen). Japan bereitet zwar diese Aktion vor, will sie nach allen Äußerungen japanischer Offiziere aber erst ausführen, wenn Deutschland zur Landung in England schreitet. Alle Bemühungen Deutschlands müssen sich daher darauf einstellen, Japan zu sofortigem Vorgehen zu veranlassen. Hat Japan Singapore, so sind alle ande ren ostasiatischen Fragen gegenüber USA und England damit gelöst (Guam, Philippinen, Borneo, Niederländisch-Indien).

Japan will den Krieg gegen USA möglichst vermeiden, kann dies auch, wenn es entschlossen baldigst Singapore nimmt.«

Die Japaner dachten jedoch, wie die Ereignisse bewiesen haben, darüber anders.

Es ist erwiesen, daß Hitler am 20. April 1941 dem Vorschlag Raeders, die Japaner zu veranlassen, die Offensive gegen Singapore zu eröffnen, zugestimmt hat. Ich beziehe mich wiederum auf Dokument C-170, auf eine Eintragung auf Seite 56 des Dokumentenbuchs unter dem 20. April 1941. Ich verlese einige Sätze davon:

»Oberbefehlshaber der Kriegsmarine beim Führer: Ob.d.M. fragt nach Ergebnis Matsuoka-Besuchs, und nach Beurteilung japanisch-russischen Paktes... Führer hat Matsuoka mitgeteilt, ›daß Rußland nicht angefaßt wird, wenn es sich gemäß Vertrag freundschaftlich verhält. Andernfalls behält er sich Vorgehen vor‹. Japan- Rußland-Pakt sei nach Vereinbarung mit Deutschland abgeschlossen und solle Japan von Vorgehen gegen Wladiwostok abhalten und zum Angriff auf Singapore veranlassen.«

Einen interessanten Kommentar zu diesem Dokument finden wir in Dokument C-66 auf Seite 13 des Dokumentenbuchs. Das Dokument C-66 ist bereits als Beweisstück GB-81 vorgelegt worden. Ich möchte den Gerichtshof auf den dritten Absatz auf Seite 13 des Dokumentenbuchs verweisen.

Zu diesem Zeitpunkt war der Führer zu einem überraschenden Angriff auf Rußland fest entschlossen, ohne Rücksicht auf die russische Einstellung zu Deutschland. Nach den eingehenden Nachrichten änderte sich diese häufig, und dann folgt jener interessante Satz:

»Die Mitteilung an Matsuoka war lediglich auf Tarnung und Sicherung der Überraschung eingestellt.«

Die Achsenpartner waren nicht einmal zueinander ehrlich; dies scheint mir typisch für die Art von Dschungel-Diplomatie, die sich Raeder zu eigen machte.

Mit Erlaubnis des Gerichtshofs gehe ich nun von dem Gebiet der Diplomatie zum letzten Teil des Falles gegen Raeder, zu den Verbrechen auf See über.

Nach Ansicht der Anklagebehörde brachte Raeder während seiner ganzen Laufbahn allen internationalen Regeln oder Kriegsgebräuchen, wenn sie mit seiner Absicht, das Nazi-Eroberungsprogramm durchzuführen, nur im mindesten in Widerspruch standen, eine vollkommene Mißachtung entgegen. Ich möchte dem Gerichtshof nur ein paar Beispiele anführen, wie Raeder die Gesetze und Gebräuche der zivilisierten Staaten verhöhnte.

Raeder selbst hat seine Einstellung besonders trefflich in Dokument UK-65 zusammengefaßt; es wird GB-224 und befindet sich auf Seite 98 des Dokumentenbuchs. Das Dokument UK-65 ist eine sehr lange Denkschrift, die Raeder und die deutsche Seekriegsleitung am 15. Oktober 1939, das heißt, also nur wenige Wochen nach Kriegsausbruch, zusammengestellt hatten. Die Denkschrift befaßte sich mit der Verschärfung des Seekriegs. Ich möchte die Aufmerksamkeit des Gerichtshofs auf den letzten Absatz auf Seite 98 des Dokumentenbuchs lenken, der die Überschrift trägt:

»Möglichkeiten der zukünftigen Seekriegführung.

I. Militärische Forderungen für den Entscheidungskampf gegen England:

Die militärische Seekriegführung muß die zur Verfügung stehenden Kampfmittel so wirksam wie möglich zum Einsatz bringen. Hierbei sind die größten militärischen Erfolgsaussichten zu erwarten, wenn mit rücksichtsloser Schärfe gegen die englischen Seeverbindungen überall da, wo sie für uns erreichbar sind, vorgegangen wird mit dem Endziel, jede Einfuhr nach England sowie jede Ausfuhr aus England zu verhindern. Die Schonung der neutralen Interessen ist anzustreben, soweit es ohne Beeinträchtigung militärischer Erfordernisse möglich ist. Eine Stützung der getroffenen militärischen Maßnahmen auf das bestehende Völkerrecht bleibt erwünscht; militärisch als notwendig erkannte Maßnahmen müssen aber, sofern sie kriegsentscheidende Erfolge erwarten lassen, auch dann durchgeführt werden, wenn das geltende Völkerrecht nicht auf sie Anwendung finden kann. Grundsätzlich muß daher das militärische zur Brechung der feindlichen Widerstandskraft wirksame Kriegsmittel rechtspolitisch gestützt werden,« – welcher Art ist nicht angegeben – »auch wenn damit neues Seekriegsrecht geschaffen wird.

Die oberste Kriegsleitung muß...entscheiden, welches militärische und kriegsrechtspolitische Verfahren zur Anwendung kommen soll. Ist die Entscheidung für die schärfste Handelskriegsform in Richtung der militärischen Forderung gefallen, so muß an ihr unter allen Umständen und endgültig festgehalten werden. Keinesfalls darf, wie es im Weltkrieg verhängnisvoll geschehen ist, der einmal gefaßte Entschluß für die schärfste Form des Handelskrieges unter dem politischen Gegendruck der Neutralen wieder fallen gelassen werden oder eine spätere Auflockerung erfahren. Sämtliche Einsprüche der Neutralen müssen zurückgewiesen werden. Auch Drohungen mit einem Eintritt weiterer Staaten, insbesondere der Vereinigten Staaten von Amerika in den Krieg, der bei langer Fortdauer des Krieges mit Sicherheit erwartet werden muß, dürfen nicht zu Einschränkungen in der einmal aufgenommenen Handelskriegsform führen. Je brutaler die Handelskriegführung, umso früher die Wirkung, umso kürzer also der Krieg. Die sich aus den militärischen Maßnahmen ergebenden wirtschaftlichen Folgen für unsere eigene Kriegswirtschaft müssen klar erkannt und durch sofort einsetzende Umsteuerung der deutschen kriegswirtschaftlichen Maßnahmen und entsprechende Vereinbarungen mit den neutralen Staaten –« – und nun folgen die Schlußworte – »nötigenfalls unter stärkstem politischen und wirtschaftlichen Druck ausgeglichen werden.«

Diese Bemerkungen sind meines Erachtens höchst aufschlußreich; es ist die allgemeine Ansicht der Anklagebehörde, daß Raeder als aktives Mitglied des Inneren Rates des Nazi-Staates bis zum Jahre 1943 solche Gedankengänge vertreten hat und deshalb die Verantwortung für die vielen Kriegsverbrechen tragen muß, die von seinen Bundesgenossen und ihren Untergebenen im Laufe des Krieges begangen wurden.

Aber ganz abgesehen von dieser Gesamtverantwortlichkeit Raeders gibt es gewisse Verbrechen, die nach Ansicht der Anklagebehörde im wesentlichen von Raeder selbst eingeleitet und auf dem Dienstwege an untergeordnete Marinedienststellen weitergeleitet wurden.

Ich beziehe mich auf Dokument C-27, GB-225, auf Seite 7 des Dokumentenbuchs. Es ist eine Sitzungsniederschrift über eine Besprechung zwischen Hitler und Raeder am 30. Dezember 1939. Mit Erlaubnis des Gerichtshofs werde ich den zweiten Absatz verlesen, der wie folgt beginnt:

»Chef SKL erbittet Vollmacht an SKL zur Vornahme Verschärfung je nach Lage und Kampfmittel.

Führer gibt grundsätzlich Zustimmung zur warnungslosen Versenkung griechischer Schiffe im amerikanischen Sperrgebiet und neutraler Handelsschiffe in den Teilen des amerikanischen Sperrgebiets, in denen die Fiktion von Minentreffern aufrechterhalten werden kann, z.B. im Bristol-Kanal.«

Damals waren natürlich griechische Schiffe, wie dem Gerichtshof bekannt ist, noch neutral. Meines Erachtens ist dies ein weiterer Beweis dafür, daß Raeder ein Mann ohne Grundsätze war.

Diese Anstiftung zum Verbrechen war meines Erachtens ein typisches Gruppenbestreben, denn in Dokument C-12, auf Seite 1 im Dokumentenbuch wird der Gerichtshof sehen, daß am 30. Dezember 1939 vom OKW mit der Unterschrift des Angeklagten Jodl eine Weisung erlassen wurde, die jener Auffassung der Marine Wirksamkeit verlieh. Das Dokument C-12 wird GB-226. Es ist ein interessantes Dokument, trägt das Datum vom 30. Dezember 1939 und hat folgenden Wortlaut:

»Der Führer und Oberste Befehlshaber der Wehrmacht hat am 30. Dezember 1939 nach Vortrag durch den Ob.d.M. entschieden:

1. Griechische Handelsschiffe sind in der durch USA und England erklärten Sperrzone wie feindliche zu behandeln.

2. Im Bristol-Kanal ist das warnungslose Vorgehen gegen jeglichen Schiffsverkehr freigegeben, wobei nach außen Minentreffer vorzutäuschen sind.

Beide Maßnahmen sind mit sofortiger Wirkung freigegeben.«

Ein weiteres Beispiel für die gefühllose Einstellung der deutschen Marine unter dem Befehl Raeders gegen die neutrale Schiffahrt findet sich in einer Eintragung in Jodls Tagebuch...

VORSITZENDER: Ich glaube, Sie sollten die Bleistiftnotiz verlesen, nicht wahr?

MAJOR JONES: Die Bleistiftnotiz im Dokument C-12 lautet:

»Zu 1. Angriff muß unbemerkt erfolgen. Die Ableugnung der Versenkung dieser Dampfer im Falle der zu erwartenden Proteste muß möglich sein.«

Herr Vorsitzender! Ich wollte gerade ein weiteres Beispiel für die empfindungslose Einstellung der Raederschen Marine gegen die neutrale Schiffahrt anführen. Es befindet sich in einer Eintragung im Tagebuch Jodls vom 16. Juni 1942 auf Seite 112 des Dokumentenbuchs, Dokument 1807-PS, GB-227. Der Auszug aus Jodls Tagebuch trägt das Datum vom 16. Juni 1942 und hat folgenden Wortlaut:

»Am 29. Mai hat die SKL die Freigabe des Waffeneinsatzes gegen die brasilianischen See- und Luftstreitkräfte beantragt. Sie hält ein schlagartiges Zupacken gegen brasilianische Kriegs- und Handelsschiffe zum jetzigen Zeitpunkt, wo Abwehrmaßnahmen noch unvollständig und die Möglichkeit zur Überraschung gegeben sei, für zweckmäßig, da Brasilien praktisch gegen Deutschland Seekrieg führe.«

Die Herren Richter werden erkennen, daß dies ein Plan für eine Art brasilianisches »Pearl Harbor« war, weil, wie Sie sich erinnern werden, der Krieg zwischen Deutschland und Brasilien nicht vor dem 22. August 1942 ausbrach. Raeder selbst hat auch die Marine veranlaßt, an Kriegsverbrechen, die von anderen Verschwörern angeordnet waren, teilzunehmen. Ich werde nur ein Beispiel dafür anführen.

Wie aus Dokument C-179, US-543, auf Seite 63 des Dokumentenbuchs ersichtlich ist, leitete der Chef der Seekriegsleitung Hitlers berüchtigten Befehl vom 18. Oktober 1942 über die Erschießung von Kommandos, der meines Erachtens darauf hinauslief, den gefangengenommenen Kommandos den Schutz des Genfer Abkommens zu entziehen, an die Marinebefehlsstellen weiter.

Der Gerichtshof wird sich daran erinnern, daß das Dokument das Datum vom 28. Oktober 1942 trägt und lautet:

»Anliegend wird ein Erlaß des Führers über die Vernichtung von Terror- und Sabotagetrupps übersandt.

Dieser Befehl darf schriftlich nicht über Flottillenchefs bzw. Abteilungskommandeuren gleichgestellte Offiziere hinaus verteilt werden. Er ist von diesen, nach mündlicher Bekanntgabe an die unterstellten Einheiten, an die nächsthöhere Dienststelle, die für die Einziehung verantwortlich ist, zur Vernichtung zurückzugeben.«

Welch klareren Beweis für die Billigung der Ungerechtigkeit der von Hitler befohlenen Morde durch die Befehlsstellen der Marine könnte es geben als die Art dieser Belehrungen?

VORSITZENDER: Wollen wir uns jetzt für zehn Minuten vertagen?