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[Das Gericht vertagt sich bis

16. Januar, 10.00 Uhr.]

Fünfunddreißigster Tag.

Mittwoch, 16. Januar 1946.

Vormittagssitzung.

HAUPTMANN SPRECHER: Hoher Gerichtshof! Ich komme jetzt zu Schirachs Tätigkeit, die in der Begehung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit besteht, wie sie unter Punkt 1 der Anklageschrift beschrieben sind. Die Darlegung der besonderen Handlungen bezieht sich auf den Reichsgau Wien. Zunächst möchte ich mich jedoch auf zwei wichtige Punkte der früheren Beweisführung beziehen, mit denen ich zeigen will, daß Schirach für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantwortlich ist, die sich auf ganz Europa erstrecken. Auf Grund seiner Vereinbarungen mit Himmler stellte er durch die Hitlerjugend viele, wenn nicht die meisten Jugendlichen der SS zur Verfügung, die in der Hauptsache in den Konzentrationslagern eingesetzt war, und deren in ganz Europa begangene Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit allgemein bekannt sind.

Auch wollen wir nicht auf weitere spezielle Handlungen Schirachs eingehen, ohne den weiteren Punkt zu erwähnen, daß Schirach sich nicht seiner Verantwortung dafür entziehen kann, daß er in die Herzen der Jugend die allgemeine Nazi-Ideologie eingepflanzt hat mit ihren Grundsätzen über »Herrenrasse«, »Untermenschentum«, »Lebensraum« und »Weltherrschaft«: Diese Ideen stellen die psychologischen Vorbedingungen für die Anstiftung und die Billigung jener Greueltaten dar, die fanatische Nazis in Deutschland und den besetzten Ländern verübt haben.

Um Schirachs Verantwortung für die Verbrechen darzulegen, die in Wien begangen wurden, wo Schirach Gauleiter und Reichskommissar von Juli 1940 bis zum Zusammenbruch war, müssen die grundlegenden Funktionen dieser beiden Ämter in Betracht gezogen werden.

Das erste Dokument, auf das ich mich beziehe, ist Urkunde 1893-PS. Es handelt sich um einen Auszug aus dem Organisationsbuch der NSDAP vom Jahre 1943, der Schirach auf der Höhe seiner Tätigkeit im Reichsgau Wien zeigt. Ich beziehe mich auf Seite 42 des Dokumentenbuchs und auf die Seiten 70, 71, 75, 98, 136 und 140b des Organisationsbuches der Partei. Auszüge aus jeder dieser Seiten befinden sich im Dokumentenbuch des Gerichtshofs.

Aus den angegebenen Seiten gehen die folgenden Höhepunkte der Tätigkeit des Gauleiters hervor, die ich nur kurz umschreiben möchte. Da der Hohe Gerichtshof das Organisationsbuch der Partei amtlich zur Kenntnis nehmen kann, ist es auch möglich, es nach Belieben einzusehen, falls der Gerichtshof nicht wünscht, daß ich die eine oder andere spezielle Anordnung verlesen soll. Aus diesen Anweisungen geht hervor, daß der Gauleiter Hitlers höchster Vertreter in seinem Gau war, daß er der Souveränitätsträger, der höchste Hoheitsträger war, und daß er politische Hoheitsrechte besaß. Darüber hinaus war er für die gesamte politische Lage in seinem Gau verantwortlich. Er konnte, und wir glauben, daß dies sehr wesentlich ist, die SA- und SS-Führer heranziehen »wenn sie zur Lösung einer politischen Aufgabe benötigt wurden«. Ferner war es seine Pflicht, mindestens einmal monatlich mit den Leitern der angeschlossenen Parteiorganisationen seines Gaues, einschließlich der SS, zusammenzutreffen.

Die Stellung des Reichsstatthalters in Wien war irgendwie eigenartig, denn nach dem Anschluß wurde der österreichische Bundesstaat aufgelöst und in sieben Reichsgaue aufgeteilt, deren wichtigster der Reichsgau Wien unter Schirach war. Jedes statistische Handbuch des Reiches aus dieser Zeit beweist, daß Wien damals eine Bevölkerungszahl von über zwei Millionen hatte. Sie zählte daher zu den bedeutendsten Städten des Reiches. Wir bitten den Gerichtshof, von dem Gesetz im Reichsgesetzblatt 1939, Teil I, Seite 777 amtlich Kenntnis zu nehmen, das sich als unser Dokument 3301-PS auf Seite 107 des Dokumentenbuchs befindet. Es handelt sich um das Grundgesetz über den Verwaltungsaufbau in Österreich. Es wurde im April 1939 erlassen, also etwas über ein Jahr vor der Ernennung Schirachs zum Reichsstatthalter. Dieses Gesetz zeigt, daß Schirach als Statthalter der Vertreter des deutschen Staatsoberhaupts Hitler war, daß er Verordnungen und Weisungen innerhalb der von den Obersten Reichsbehörden gesetzten Grenzen erlassen konnte, daß er speziell unter der Dienstaufsicht des Reichsministers des Innern, des Angeklagten Frick, stand, und daß er auch die Stellung eines Oberbürgermeisters von Wien bekleidete. Während der Zeit, in der er Gauleiter und Reichsstatthalter von Wien war, war er auch Reichsverteidigungskommissar von Wien; und nach 1940 befand sich das Reich im Kriegszustand.

Wegen seiner weitreichenden Verantwortung und Vollmachten in diesen Stellungen wird seitens der Anklagevertretung geltend gemacht, daß Schirach für alle Verbrechen der Nazi-Verschwörer im Reichsgau Wien ausdrücklich als schuldig zu betrachten ist, und zwar auf Grund der Tatsache, daß er diese Verbrechen entweder anstiftete, sie billigte, ausführte oder ihnen Vorschub leistete. Wir werden besondere Beispiele anführen, aus denen hervorgeht, daß Schirach persönlich und aktiv in die Nazi-Verbrechen verstrickt war, und daß, wenn er prahlerisch wurde, ein Charakteristikum, an dem es bei den meisten der Angeklagten niemals mangelte, er selbst seine Beteiligung bei Handlungen zugab, die als Verbrechen unter die Zuständigkeit dieses Gerichtshofs fallen.

Ich komme zunächst zur Sklavenarbeit.

Das Sklavenarbeitsprogramm spielte natürlich bei der Arbeiterbeschaffung für die Industrien in einer so großen und wichtigen Stadt wie Wien eine besondere Rolle. Die allgemeine Art dieses Programms und die sich daraus ergebenden Verbrechen wurden bereits teilweise von Herrn Dodd dargelegt. Die Anklagevertretung der Sowjetunion wird später weiteres Material dafür vorbringen. Unser Dokument 3352-PS, das sich auf Seite 116 des Dokumentenbuchs befindet, und das ich als Beweisstück US-206 vorlegen möchte, gibt Auszüge aus einer Reihe von Verfügungen der Parteikanzlei wieder. Jede dieser Anweisungen, aus denen die Auszüge entnommen sind, beziehen sich auf die Verantwortung des Gauleiters gegenüber dem Arbeitseinsatz und seiner Nutzbarmachung. Sie beweisen in einfacher und unmißverständlicher Sprache, daß die Gauleiter unter der Leitung des erfahrenen früheren Gauleiters Sauckel, des Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz, die höchsten und wirksamsten Mitarbeiter der Nazi-Verschwörer auf dem Gebiet des gesamten Zwangsarbeitsprogramms wurden. Aus Seite 116 des dem Gerichtshof vorliegenden Dokumentenbuchs, Seite 508 des Originaltextes, geht hervor, daß der Angeklagte Göring als Beauftragter für den Vierjahresplan dem Vorschlage Sauckels zustimmte, nach dem die Gauleiter herangezogen werden sollten, um die höchste Leistungsfähigkeit im Arbeitseinsatz zu erzielen. Auf Seite 117 des Dokumentenbuchs, Seite 511 der Verfügungen der Parteikanzlei, ernannte Sauckel im Juli 1942 die Gauleiter zu seinen besonderen Bevollmächtigten für den Arbeitseinsatz in ihren Gauen mit dem Auftrage, eine harmonische Zusammenarbeit aller in Betracht kommenden Kreise zu gewährleisten. Tatsächlich wurden die Gauleiter die obersten Schiedsrichter für alle widerstreitenden Interessen, die sich während des Krieges bezüglich des Arbeitseinsatzes ergaben. Mit dem gleichen Befehl wurden die Präsidenten der Landesarbeitsämter und ihre Mitarbeiter

»angewiesen, den Gauleitern zu jeglicher Auskunft und Beratung zur Verfügung zu stehen und die Anregungen und Wünsche der Gauleiter zum Zwecke von Verbesserungen beim Arbeitseinsatz... zu erfüllen«.

Auf Seite 118 und 119 des Dokumentenbuchs, Seite 567 der Verfügungen der Parteikanzlei, ordnete der Angeklagte Sauckel an, daß sich seine besonderen Bevollmächtigten, die Gauleiter, mit den allgemeinen Merkblättern für die Ostarbeiter vertraut machen sollten. Er erklärte als sein unmittelbares Ziel,

»zu verhindern, daß politisch ungeschickte Betriebsführer den Ostarbeitern ein Übermaß an Betreuung zukommenlassen und damit berechtigte Verärgerung unter den deutschen Arbeitern hervorrufen«.

Wir behaupten, Hoher Gerichtshof, daß, wenn Schirach als Gauleiter sich selbst mit solchen Einzelheiten des Arbeitseinsatzes beschäftigen mußte, wie mit dem angeblichen Ärger deutscher Arbeiter wegen der Betreuung der Ostarbeiter, es nicht notwendig ist, auf weitere Einzelheiten des Arbeitseinsatzprogramms einzugehen, um Schirachs Verbindung mit dem Sklavenarbeiterprogramm im Reichsgau Wien und seine Verantwortlichkeit hierfür festzustellen.

Ich gehe nun zum Thema der Kirchenverfolgung über.

Die Ausschaltung der religiösen Jugendorganisationen unter Leitung Schirachs als Nazi-Reichsjugendführer wurde bereits erwähnt. Im März 1941 wurden zwei Briefe, der eine von dem Angeklagten Bormann, der andere von dem Verschwörer Hans Lammers...

VORSITZENDER: Hauptmann Sprecher, haben Sie irgendein anderes Beweismaterial, das die Verbindung von Schirach zum Arbeitseinsatzprogramm darlegt?

HAUPTMANN SPRECHER: Ich beabsichtigte, nichts weiter vorzubringen, Herr Vorsitzender. In Anbetracht der Tatsache, daß unsere russischen Kollegen weitere Einzelheiten über das Arbeitseinsatzprogramm, besonders im Osten, vorbringen werden, dachte ich, daß das Hauptziel unter Anklagepunkt 1 sein sollte, die allgemeine Verantwortlichkeit des Angeklagten Schirach für das Sklavenarbeitsprogramm festzustellen, während die Behandlung einzelner Tatbestände im späteren Verlaufe des Verfahrens erfolgen soll.

VORSITZENDER: Sehr gut.

HAUPTMANN SPRECHER: Ich möchte nur einen weiteren Punkt erwähnen: Wenn ich in einigen Minuten auf die Behandlung der Juden zu sprechen komme, dann werde ich ein oder zwei besondere Beispiele anführen.

VORSITZENDER: Sie befassen sich jetzt mit den Kirchenverfolgungen, nicht wahr?

HAUPTMANN SPRECHER: Jawohl, Herr Vorsitzender.

Ich verweise den Gerichtshof auf die Urkunde R-146, auf Seite 5 des Dokumentenbuchs und unterbreite sie als Beweisstück US-678.

Ich bin im Zweifel, ob ich in Anbetracht unseres gemeinsamen Wunsches, den Prozeß so schnell wie möglich voranzutreiben, das ganze Dokument verlesen soll. Aber vielleicht kann ich seinen Inhalt kurz umschreiben und es nur dann verlesen, wenn der Gerichtshof dies nicht für ausreichend erachtet.

Diese Dokumente zeigen klar, daß Schirach und zwei andere Beamte während eines Besuches von Hitler in Wien bei dem Führer Beschwerde mit dem Ziel erhoben, daß die unter verschiedenen Vorwänden erfolgte Beschlagnahme von Kirchengütern in Österreich zugunsten der Gaue und nicht zugunsten des Reiches erfolgen solle. Später entschied der Führer zugunsten des von Schirach vertretenen Standpunktes, nämlich zugunsten des Gaues. Ich erwähne dies nur, um Schirachs Verbindung mit den Kirchenverfolgungen darzulegen, bezüglich derer bereits früher sehr viel Beweismaterial vorgelegt worden ist.

MR. BIDDLE: Darüber ist noch kein Beweismaterial vorhanden. Sie haben noch kein Beweismaterial vorgelegt. Wir können von einer Sache nur dann amtlich Kenntnis nehmen, wenn Sie uns darum ersuchen.

HAUPTMANN SPRECHER: Bedeutet dies nach den Vorschriften des Gerichtshofs, daß es nur dann als Beweismaterial gilt, wenn ich es verlese?

MR. BIDDLE: Ich mache keinerlei Vorschriften; ich wollte Ihnen lediglich sagen, daß uns das letzte Schriftstück nicht als Beweismaterial unterbreitet wurde.

HAUPTMANN SPRECHER: Ich glaube, daß es unter diesen Umständen besser ist, wenn ich dieses Dokument verlese:

»München 33, den 20. März 1941, Braunes Haus. Persönlich – Geheim – An alle Gauleiter.

Betrifft: Beschlagnahme von Kirchengütern (Klosterbesitz u. dgl.).

In der letzten Zeit mußten in größerem Umfang, namentlich in der Ostmark, wertvolle Besitzungen der Kirchen beschlagnahmt werden; diese Beschlagnahmen erfolgten, wie dem Führer von den Gauleitern berichtet wurde, vielfach wegen der Verstöße gegen Verordnungen der Kriegswirtschaft (z.B. wegen Hamstern von irgendwelchen Lebensmitteln, von Stoffen, Lederwaren etc.), in weiteren Fällen wegen Verstößen gegen das Heimtückegesetz und endlich vielfach wegen unbefugten Waffenbesitzes. Bei Beschlagnahmen aus den vorgenannten Gründen kommt selbstverständlich die Zahlung einer Entschädigung an die Kirchen nicht in Frage.

Mit Rücksicht auf die weiteren Beschlagnahmen haben verschiedene Gauleiter der Ostmark bei dem letzten Besuch des Führers in Wien die Frage geklärt, wem der beschlagnahmte Besitz zufallen solle; die Entscheidung des Führers bitte ich aus dem Schreiben des Reichsministers Dr. Lammers an den Reichsminister des Innern vom 14. März 1941, das ich auszugsweise in Abschrift beifüge, zu ersehen. (gez.) M. Bormann.«

Ich habe dieses Dokument als US-Beweisstück 678 vorgelegt.

Wünscht der Gerichtshof, daß ich die dazu gehörige Beilage verlese?

MR. BIDDLE: Ich verlange nicht, daß Sie etwas verlesen. Ich wollte nur darauf hinweisen, daß dies, da Sie es nicht verlesen hatten, nicht als Beweismaterial vorlag.

HAUPTMANN SPRECHER: In diesem Falle will ich fortfahren. Hoher Gerichtshof. Die Abschrift lautet wie folgt:

»Berlin, den 14. März 1941, Der Reichsminister und Chef der Reichskanzlei. An den Herrn Reichsminister des Innern. Betrifft: Entwurf einer Verordnung zur Ergänzung der Vorschriften über die Einziehung volks- und staatsfeindlichen Vermögens.

Der Reichsstatthalter und Gauleiter von Schirach sowie Dr. Jury und Eigruber haben kürzlich beim Führer Klage darüber geführt, daß der Reichsfinanzminister immer noch den Standpunkt vertrete, die Einziehung volks- und staatsfeindlichen Vermögens müsse zugunsten des Reichs und nicht zugunsten der Reichsgaue erfolgen.

Der Führer hat mich daraufhin davon unterrichtet, daß er die Einziehung der in Frage stehenden Vermögen nicht zugunsten des Reiches, sondern zugunsten desjenigen Reichsgaues wünsche, in dem sich das eingezogene Vermögen befindet...«

VORSITZENDER: Sie brauchen nicht weiter daraus zu zitieren.

HAUPTMANN SPRECHER: Ich gehe jetzt zum Thema der Judenverfolgung über.

Die Anklagevertretung bemerkt schließlich ergebenst, daß Schirach antisemitische Maßnahmen billigte, lenkte und an ihnen teilnahm. Selbstverständlich war die gesamte Ideologie und Lehre der Hitlerjugend auf dem Rassemythos der Nazis aufgebaut. Schirach hielt vor dem Krieg eine Rede auf einer Versammlung des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes, dessen Führer er von 1929 bis 1931 gewesen war.

Das Dokument 2441-PS, das ich als Beweisstück US-679 einführe, stellt eine eidesstattliche Erklärung von Gregor Ziemer dar. Ich möchte daraus nur vom Ende der Seite 95 des Dokumentenbuchs bis zum Ende des ersten Absatzes auf Seite 96 dieses Buchs verlesen.

Der Zeuge Ziemer bezieht sich auf ein Treffen in Heidelberg, Deutschland, dem er einige Zeit vor Beginn des Krieges beigewohnt hat, und auf dem Baldur von Schirach eine Ansprache an den Studentenbund, dessen Führer er selbst einst war, gehalten hat...

VORSITZENDER: Um was für ein Dokument handelt es sich?

HAUPTMANN SPRECHER: Um eine eidesstattliche Erklärung von Gregor Ziemer.

»Er« – nämlich Schirach – »erklärte, daß die wichtigste Phase des deutschen Universitätslebens im Dritten Reich das Programm des NSDSTB wäre. Er pries verschiedene Maßnahmen des Bundes. Er erinnerte die Jungen an den Dienst, den sie während der jüdischen Säuberungsaktion geleistet hätten. Dramatisch zeigte er über den Fluß auf die alte Universitätsstadt Heidelberg, in der verschiedene ausgebrannte Synagogen stumme Zeugen für die Tüchtigkeit der Heidelberger Studenten waren. Die Ruinen dieser Gebäude würden für Jahrhunderte stehen bleiben als Mahnmal für künftige Studenten, als Warnung für die Feinde des Staates.«

Wenn wir versuchen, den wahren Umfang der teuflischen Behandlung der Juden unter Schirach vor Augen zu führen, dann müssen wir seine Tätigkeit im Reichsgau Wien und die seiner Gehilfen, der SS und der Gestapo in Wien, betrachten.

Das Dokument 1948-PS, Seite 63 im Dokumentenbuch, wird als Beweisstück US-680 unterbreitet. Der Gerichtshof wird bemerken, daß es auf dem Briefpapier des ehemaligen Reichsstatthalters von Wien geschrieben ist.

VORSITZENDER: Hauptmann Sprecher, ich habe in diesem Dokument, 2441-PS, auf Seite 96 des Dokumentenbuchs weitergelesen. Meiner Ansicht nach sollten Sie die nächsten drei Abschnitte auf Seite 96 verlesen, von der Stelle an, wo Sie aufgehört haben.

HAUPTMANN SPRECHER: Jawohl.

VORSITZENDER: Den zweiten, dritten und vierten Absatz.

HAUPTMANN SPRECHER:

»Ebenso wie das Heidelberger Schloß der Beweis dafür wäre, daß das alte Deutschland zu schwach gewesen wäre, um den einfallenden Franzosen, die es zerstörten, Widerstand zu leisten, so würden die schwarzen Ruinen der Synagogen ein ewiges Denkmal der Stärke des neuen Deutschlands für zukünftige Generationen sein.

Er erinnerte die Studenten daran, daß es immer noch Länder gäbe, die ihre Zeit und Energie an Bücher und unnötige Diskussionen über philosophische und metaphysische Themen verschwendeten. Diese Tage wären vorüber. Das neue Deutschland wäre ein Land der Tat. Die anderen Länder befänden sich in tiefem Schlaf.

Aber er wäre dafür, daß man sie schlafen ließe. Je tiefer sie schlummerten, desto mehr Gelegenheit hätten die Männer des Dritten Reiches, sich für weitere Taten vorzubereiten. Der Tag würde kommen, an dem die Heidelberger Studenten ihren Platz an der Seite von Legionen anderer Studenten einnehmen würden, um die Welt für die Ideologie des Nationalsozialismus zu erobern.«

Ich stand im Begriff, den Hohen Gerichtshof auf das Dokument 1948-PS zu verweisen, das sich auf Seite 63 des Dokumentenbuchs befindet, und das ich als Beweisstück US-680 vorlege. Wie Sie bemerken werden, ist es auf einem Briefbogen des Reichsstatthalters in Wien geschrieben:

»... 7. November 1940.

Betrifft: Pflichtarbeit von arbeitsfähigen Juden.

1. Vermerk:

Am 5. November 1940 telefonische Rücksprache mit der Geheimen Staatspolizei, Standartenführer Huber. Die Gestapo hat vom Reichssicherheitshauptamt interne Anweisung, wie die arbeitsfähigen Juden zur Pflichtarbeit herangezogen werden sollen. Sie führt zurzeit Erhebungen durch, wie viel arbeitsfähige Juden noch zur Verfügung stehen, um dann über die geplanten Masseneinsätze zu disponieren. Vermutlich stehen nicht mehr viel Juden zur Verfügung. Falls aber doch, so sieht die Gestapo auch keine Bedenken, die Juden auch zur Beseitigung der zerstörten Synagogen heranzuziehen.

SS-Standartenführer Huber wird dem Herrn Regierungspräsidenten noch persönlich darüber Bericht erstatten.

Ich habe dem Herrn Regierungspräsidenten in diesem Sinne vorgetragen. Die Sache soll weiter im Auge behalten werden.«

Die Unterschrift stammt von Dr. Fischer.

Ich möchte den Gerichtshof auf die Bedeutsamkeit des Titels »Regierungspräsident« hinweisen. Der Standartenführer der SS sollte, wie Sie bemerken werden, dem Regierungspräsidenten Bericht erstatten. Wenn Sie sich den Erlaß vergegenwärtigen, durch den der Reichsgau Wien geschaffen wurde, Reichsgesetzblatt 1939, Teil I, Seite 777, Dokument 3301-PS, so werden Sie finden, daß der Regierungspräsident Schirachs persönlicher Vertreter in der Verwaltung der Stadt Wien war.

Es scheint uns, daß dieses von Fischer unterschriebene Dokument 1948-PS, das sich mit der Pflichtarbeit von arbeitsfähigen Juden beschäftigt, auf das Argument Antwort gibt, daß Leute vom Range eines Gauleiters von den Greueltaten, die von der Gestapo und dem SD in ihrer eigenen Umgebung begangen wurden, nichts gewußt hätten. Es zeigt weiter, daß selbst die Mitarbeiter der Gauleiter über die Einzelheiten der Verfolgungspläne, die damals im Gange waren, genau unterrichtet waren.

Schirach hatte auch Interesse und Kenntnis von dem Wohnungsmangel in Wien, der für einige Angehörige der behaupteten »Herrenrasse« dadurch gemildert wurde, daß ihnen die Häuser der unglücklichen Juden zugewiesen wurden, die man in Polen der Vergessenheit anheimfallen ließ.

Am 3. Dezember 1940 schrieb der Verschwörer Lammers einen Brief an Schirach. Es handelt sich um unser Dokument 1950-PS, Seite 64 des dem Gerichtshof vorliegenden Dokumentenbuchs, das ich als Beweisstück US-681 einführe. Dieser Brief ist sehr kurz:

»Berlin, 3. Dezember 1940.«

Er ist auf dem Briefbogen des Reichsministers und Chef der Reichskanzlei geschrieben und trägt den Vermerk »Geheim«. Er ist an den Reichsstatthalter von Wien, Gauleiter von Schirach, gerichtet.

»Wie mir Reichsleiter Bormann mitteilt, hat der Führer auf einen von Ihnen erstatteten Bericht entschieden, daß die in dem Reichsgau Wien noch wohnhaften 60000 Juden beschleunigt« – also noch während des Krieges – »wegen der in Wien herrschenden Wohnungsnot ins Generalgouvernement abgeschoben werden sollen. Ich habe diese Entscheidung des Führers dem Herrn Generalgouverneur in Krakau sowie dem Reichsführer SS mitgeteilt und darf Sie bitten, gleichfalls von ihr Kenntnis nehmen zu wollen. gez. Lammers.«

Als letzten aufschlußreichen Beweis gegen dieses jüngste Mitglied auf der Anklagebank zitiere ich seinen eigenen Ausspruch, der in ganz Wien veröffentlicht wurde, und tatsächlich, bereits damals, ganz Deutschland und der ganzen Welt zur Kenntnis kommen sollte. Er erscheint in der Wiener Ausgabe des »Völkischen Beobachter« vom 15. September 1942. Er trägt die Nummer 3048-PS und befindet sich in dem Dokumentenbuch auf Seite 106. Er ist bereits als Beweisstück US-274 eingeführt.

Ich möchte darauf hinweisen, daß diese Worte im Jahre 1942 an den sogenannten europäischen Jugendbund in Wien gerichtet wurden.

Der Gerichtshof wird sich erinnern, daß Schirach damals noch Reichsjugendführer der NSDAP war:

»Jeder Jude, der in Europa wirkt, ist eine Gefahr für die europäische Kultur. Wenn man mir den Vorwurf machen wollte, daß ich aus dieser Stadt, die einst die europäische Metropole des Judentums gewesen ist, Zehntausende und aber Zehntausende von Juden ins östliche Ghetto abgeschoben habe, muß ich antworten: Ich sehe darin einen aktiven Beitrag zur europäischen Kultur.«

Obwohl Schirachs Hauptbeitrag zu der Verschwörung darin bestand, daß er die deutsche Jugend den Zielen der Verschwörer dienstbar machte, hat er sich ebenfalls als hoher Partei- und Regierungsbeamter der abscheulichsten Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht, nachdem die Verschwörung zu der unvermeidlichen Verwicklung der Angriffskriege geführt hatte.

Damit, Hoher Gerichtshof, beende ich die Beweisführung über die Verantwortlichkeit des Angeklagten Schirach.

Die Anklagevertretung wird sich nun mit der Verantwortlichkeit des Angeklagten Martin Bormann befassen, dessen Fall von Leutnant Lambert vorgetragen werden wird.

DR. SAUTER: Herr Präsident! Zu verschiedenen Unrichtigkeiten im Vorbringen der Anklagevertretung gegen Schirach werde ich dann Stellung nehmen, wenn wir Verteidiger an der Reihe sind. Ich möchte aber jetzt schon gegen einen Übersetzungsfehler in einer Urkunde Stellung nehmen. Es ist das die Urkunde 3352-PS. Es ist das ein Befehl der Reichskanzlei an die untergeordneten Stellen, und dieser Befehl spricht davon, daß die Arbeitsämter in gewisser Beziehung den Gauleitern zur Verfügung stehen mußten. Im deutschen Original dieses Befehls heißt es »Anregungen und Wünsche«, Anregungen und Wünsche, und das ist nun...

VORSITZENDER: Auf welcher Seite des Dokuments steht das?

DR. SAUTER: Das ist, ich – ich glaube, Seite 512 der Urkunde 3352-PS. Ich glaube, auf Seite 117 des Dokumentenbuchs.

Dieser deutsche Ausdruck »Anregungen und Wünsche« ist nun in der englischen Übersetzung wiedergegeben mit »suggestions« für »Anregung« und »demands« für »Wünsche«. Die erste Übersetzung für Anregung halten wir für richtig, aber die zweite Übersetzung – demands – die halten wir für falsch, denn dieses Wort bedeutet unseres Wissens im Deutschen »Befehl«, oder »Forderungen«. Wir würden es für richtig halten, wenn in der englischen Übersetzung das Wort »demands« ersetzt würde durch ein anderes Wort, nämlich durch das Wort »wishes«: »Wünsche« – wishes –. Ich weiß nicht, ob ich das Wort im Englischen richtig ausgesprochen habe.

Soviel für diesen Augenblick. Danke sehr.

VORSITZENDER