[Das Gericht vertagt sich bis
24. Januar 1946, 10.00 Uhr.]
Zweiundvierzigster Tag.
Donnerstag, den 24. Januar 1946.
Vormittagssitzung.
OBERST CHARLES W. MAYS, GERICHTSMARSCHALL: Hoher Gerichtshof! Der Angeklagte Streicher und der Angeklagte Kaltenbrunner sind heute Morgen beide wegen Krankheit abwesend.
SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Hoher Gerichtshof! Ehe der Gerichtshof gestern die Verhandlung vertagte, besprach ich die Teilnahme des Angeklagten von Neurath am Angriff gegen Österreich. Bevor ich zur nächsten Phase übergehe, möchte ich den Gerichtshof ersuchen, das Originalbeweisstück zu betrachten, aus welchem ich verlesen werde, Dokument 3287-PS, US-128, ein Schreiben dieses Angeklagten an Sir Nevile Henderson, den damaligen Britischen Botschafter. Ich möchte den Gerichtshof nur bitten, sich Seite 92 des Dokumentenbuches anzusehen. Ich nenne es ein Originaldokument, und zwar ist es eine vom britischen Außenministerium beglaubigte Abschrift des Originals. Der Gerichtshof wird sehen, daß dieses dem Briefkopf nach vom Präsidenten des Geheimen Kabinettsrats stammt. An diesen Punkt möge sich der Gerichtshof erinnern. Die Frage wurde hier aufgeworfen, ob dieser Kabinettsrat überhaupt bestand und tätig war; der Briefkopf stammt jedoch vom Angeklagten in seiner obengenannten Stellung.
Die nächste Phase im Angriff gegen Österreich ist folgende: Als Österreich besetzt wurde, gab dieser Angeklagte Monsieur Mastny, dem Tschechoslowakischen Gesandten in Berlin, die Zusicherung der Aufrechterhaltung der Unabhängigkeit der Tschechoslowakei. Es ist das eine Dokument auf Seite 123, TC-27, das ich bereits als GB-21 vorgelegt habe. Es war an Lord Halifax, den damaligen Außenminister, gerichtet. Ich möchte, wenn es mir gestattet ist, den zweiten Absatz verlesen, nur, um dem Gerichtshof in Erinnerung zu bringen, unter welchen Umständen es geschrieben wurde. Monsieur Masaryk sagt:
»Demzufolge bin ich seitens meiner Regierung angewiesen worden, der Regierung Seiner Majestät folgende Tatsachen amtlich zur Kenntnis zu bringen. Gestern abend (am 11. März) hat Feldmarschall Göring Herrn Mastny, dem Tschechoslowakischen Gesandten in Berlin, zwei voneinander unabhängige Erklärungen gemacht, in denen er ihm die Versicherung gab, daß die Ereignisse in Österreich in keiner Weise einen nachteiligen Einfluß auf die Beziehungen zwischen dem Deutschen Reich und der Tschechoslowakei haben würden. Er betonte weiterhin nachdrücklich das fortgesetzte aufrichtige Bestreben seitens Deutschlands, die gegenseitigen Beziehungen zu verbessern.«
Darauf folgen Einzelheiten darüber, wie es dem Angeklagten Göring mitgeteilt wurde, was bereits dem Gerichtshof zur Kenntnis gebracht wurde, weshalb ich es nicht wiederholen will. Der sechste Absatz beginnt:
»Mastny war in der Lage, ihm bestimmte und bindende Zusicherungen in dieser Beziehung zu geben«,
das heißt, dem Angeklagten Göring bezüglich der tschechischen Mobilmachung; es geht dann weiter:
»und sprach heute mit Baron von Neurath, der ihm unter anderem im Namen von Herrn Hitler die Versicherung gab, daß Deutschland sich selbst noch immer an den im Oktober 1925 in Locarno abgeschlossenen deutsch-tschechoslowakischen Schiedsvertrag gebunden fühle.«
Angesichts der Tatsache, daß der Angeklagte von Neurath bei der Konferenz am 5. November, vier Monate vorher, anwesend war, kannte er Hitlers Ansichten über die Tschechoslowakei und wußte, daß nur sechs Monate vorher der tatsächlich abgeschlossene Vertrag plötzlich nicht mehr eingehalten wurde. Diese Stelle ist meiner Ansicht nach ein ausgezeichnetes Beispiel für die Technik, in der dieser Angeklagte Meisterlehrer war.
Ich komme nunmehr zum Angriff auf die Tschechoslowakei. Am 28. Mai 1938 hielt Hitler eine Konferenz der bedeutendsten Führer ab, darunter Beck, von Brauchitsch, Raeder, Keitel, Göring und Ribbentrop, bei der Hitler erklärte, daß Vorbereitungen für eine militärische Aktion gegen die Tschechoslowakei für Oktober getroffen werden müßten. Es wird angenommen, obwohl – wie ich offen zugebe – nicht bewiesen, daß der Angeklagte von Neurath dabei anwesend war. Ein Hinweis auf diese Besprechung befindet sich im Protokoll in Band III, Seite 53.
VORSITZENDER: Sir David, haben wir einen Beweis dafür?
SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Nein. Herr Präsident werden sich an die Dokumente erinnern, eine ganze Reihe von Dokumenten, in denen jedoch nicht vermerkt ist, wer anwesend war. Darum erkläre ich dies mit diesem Vorbehalt.
Am 4. September 1938 erließ die Regierung, der von Neurath angehörte, ein neues geheimes Reichsverteidigungsgesetz, worin die verschiedenen Geschäftsbereiche in offener Erwartung eines Krieges festgelegt wurden. Dieses Gesetz sah genau wie das vorherige geheime Reichsverteidigungsgesetz einen »Reichsverteidigungsrat« als oberste Behörde für alle Kriegsvorbereitungen vor. Ich habe bereits, wie der Gerichtshof noch wissen wird, auf Dokument 2194-PS verwiesen, US-36, das diese Tatsachen beweist.
Dann kam das Münchener Abkommen vom 29. September 1938. Trotz dieses Abkommens marschierten deutsche Truppen am 14. März 1939 in die Tschechoslowakei ein. Dokument TC-50, GB-7, ist die Proklamation Hitlers an das deutsche Volk und der Befehl an die Wehrmacht. Der Gerichtshof wird sie auf Seite 124 des Dokumentenbuches finden. Es ist bereits darauf verwiesen worden, und ich werde sie nicht noch einmal verlesen.
Am 16. März 1939 erließ die Deutsche Regierung, deren Mitglied von Neurath immer noch war, den Erlaß des Führers und Reichskanzlers über das Protektorat Böhmen und Mähren. Das Datum ist der 16. März 1939. Es ist Dokument TC-51, GB-8, und steht auf Seite 126 des Dokumentenbuches. Im Augenblick möchte ich nicht weiter darauf eingehen, sondern werde später darauf zurückkommen, wenn ich die Errichtung des Protektorats besprechen werde. Ich werde gleich darauf zurückkommen und Artikel 5 verlesen. Um jedoch die Ereignisse chronologisch zu besprechen: In der darauffolgenden Woche unterzeichnete der Angeklagte von Ribbentrop einen Vertrag mit der Slowakei, der sich auf Seite 129 befindet. Der Gerichtshof wird sich noch des Artikels 2 dieses Paktes erinnern, der wie folgt lautet:
»Zur Durchführung des vom Deutschen Reich übernommenen Schutzes hat die Deutsche Wehrmacht jederzeit das Recht, in einer Zone, die westlich von der Grenze des Slowakischen Staates und östlich von der allgemeinen Linie, Ostrand der Kleinen Karpathen, Ost rand der Weißen Karpathen und Ostrand des Jawornik- Gebirges, begrenzt wird, militärische Anlagen zu errichten und in der für notwendig gehaltenen Stärke besetzt zu halten.
Die Slowakische Regierung wird veranlassen, daß der für diese Anlagen erforderliche Grund und Boden der Deutschen Wehrmacht zur Verfügung gestellt wird. Ferner wird die Slowakische Regierung einer Regelung zustimmen, die zur zollfreien Versorgung der deutschen Truppen und zur zollfreien Belieferung der militärischen Anlagen aus dem Reich erforderlich ist.«
Der Gerichtshof wird anerkennen, daß das Endziel der Politik Hitlers bei einer Zusammenkunft am 5. November 1937 bekanntgegeben wurde, bei welcher dieser Angeklagte anwesend war. Dies war die Wiederaufnahme des Dranges nach Lebensraum im Osten. Es ging klar hervor aus den Bedingungen dieses Vertrags und war ebenso klar wie auch in Hitlers Erklärung ausgesprochen.
Nun kommen wir zum Höhepunkt dieses Verbrechertums. Durch Übernahme und Bekleidung des Postens eines Reichsprotektors von Böhmen und Mähren bekannte sich der Angeklagte von Neurath zum Angriff gegen die Tschechoslowakei und die Welt. Er nahm aktiv an der Verschwörung zum Angriff auf die Welt teil und übernahm einen Führerposten in der Durchführung jener Politik, die Verletzung der Kriegsgesetze und Verübung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit bedeutete.
Der Gerichtshof wird feststellen, daß ich nicht über das mir bestimmte Thema hinaus Dinge behandle, die von meinen Kollegen behandelt wurden, und daß ich nicht auf die Verbrechen eingehen will. Ich will lediglich dem Gerichtshof die Grundlage für diese Verbrechen zeigen, die auf der von diesem Angeklagten innegehabten amtlichen Stellung beruhte.
Punkt 1: Der Angeklagte von Neurath übernahm den Posten eines Protektors, der ihm weitestgehende Vollmachten gewährte. Der Erlaß, mit dem das Protektorat errichtet wurde, sah vor – wenn der Gerichtshof freundlichst auf Seite 216 des Dokumentenbuches zurückgehen und Artikel 5 des Erlasses betrachten will, so heißt es dort:
»1. Als Wahrer der Reichsinteressen ernennt der Führer und Reichskanzler den Reichsprotektor in Böhmen und Mähren mit dem Amtssitz in Prag.
2. Der Reichsprotektor hat als Vertreter des Führers und Reichskanzlers und als Beauftragter der Reichsregierung die Aufgabe, für die Beachtung der politischen Richtlinien des Führers und Reichskanzlers zu sorgen.
3. Die Mitglieder der Regierung des Protektorats werden vom Reichsprotektor bestätigt. Die Bestätigung kann zurückgenommen werden.
4. Der Reichsprotektor ist befugt, sich über alle Maßnahmen der Regierung des Protektorats unterrichten zu lassen und ihr Ratschläge zu erteilen. Er kann gegen Maßnahmen, die das Reich zu schädigen geeignet sind, Einspruch einlegen und bei Gefahr im Verzuge die im gemeinsamen Interesse notwendigen Anordnungen treffen.
5. Die Verkündung von Gesetzen, Verordnungen und sonstigen Rechtsvorschriften sowie der Vollzug von Verwaltungsmaßnahmen und rechtskräftigen, gerichtlichen Urteilen, sind auszusetzen, wenn der Reichsprotektor Einspruch einlegt.«
Gleich zu Beginn des Protektorats wurde die nächste Autorität des Angeklagten von Neurath noch durch eine Reihe von grundlegenden Erlassen vervollkommnet, von denen ich den Gerichtshof bitte, amtlich Kenntnis zu nehmen. Sie schufen die angeblich legale Grundlage für die Politik und das Programm, die alle die systematische Zerstörung der nationalen Integrität der Tschechen zum Endziel hatten.
1. Indem Volksdeutsche in der Tschechoslowakei eine höhere Klasse von Bürgern wurden. Ich verweise hier den Gerichtshof auf den Erlaß des Führers und Reichskanzlers über das Protektorat, den ich gerade erwähnt habe; dann
2. ein Gesetz vom 13. April 1939 über Vertretung der im Protektorat Böhmen und Mähren ansässigen deutschen Volksgenossen im Großdeutschen Reichstag.
3. Eine Verordnung über den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit durch frühere tschechoslowakische Staatsangehörige deutscher Volkszugehörigkeit vom 20. April 1939.
Weiter gab es eine Reihe von Erlassen, wonach Volksdeutsche in der Tschechoslowakei eine Vorzugsstellung innerhalb des Gesetzes und vor Gericht erhielten:
1. Eine Verordnung über die Ausübung der Strafgerichtsbarkeit im Protektorat Böhmen und Mähren vom 14. April 1939.
2. Eine Verordnung über Ausübung der bürgerlichen Rechtspflege im Protektorat Böhmen und Mähren vom 14. April 1939.
3. Eine Verordnung über die Ausübung der Militärgerichtsbarkeit vom 8. Mai 1939.
Ferner gaben Verordnungen dem Protektor weitgehende Vollmachten, durch Verordnung die autonomen Gesetze des Protektorats zu ändern. Dies ist in einer Verfügung über Gesetzgebung im Protektorat vom 7. Juni 1939 enthalten.
Schließlich wurde der Protektor ermächtigt, gemeinsam mit dem Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei, falls notwendig, Polizeimaßnahmen zu ergreifen, die über den allgemein für Polizeimaßnahmen geltenden Rahmen hinausgehen.
Der Text dieser Verordnung, die der Gerichtshof meiner Meinung nach amtlich zur Kenntnis nehmen kann, da sie im Reichsgesetzblatt veröffentlicht ist, im Dokumentenbuch steht sie auf Seite 131, allein ist schon eigenartig, denn es geht über die menschliche Vorstellungskraft hinaus, was für polizeiliche Maßnahmen es geben kann, die über die den gewöhnlichen Polizeimaßnahmen gesetzten Grenzen hinausgehen. Wir haben die Polizeimaßnahmen gesehen, die in Deutschland zwischen 1933 und 1939 angewandt würden. Wenn eine solche Steigerung möglich war – und offenbar hielt man sie für möglich –, so erfolgte diese durch den Angeklagten von Neurath, und zwar zur Unterdrückung der Tschechen.
Die erklärte grundlegende Politik des Protektorates war auf das Hauptziel gerichtet, die Tschechen als Nation zu vernichten und ihr Gebiet in das Deutsche Reich einzugliedern. Wenn der Gerichtshof Seite 132 aufschlägt, finden Sie Dokument 862-PS, US-313. Ich glaube, daß es bereits verlesen worden ist. Ich möchte jedoch den Gerichtshof bitten, mir zu erlauben, zu erklären, um was für ein Dokument es sich handelt.
Es ist eine Denkschrift, die die Unterschrift des Generals der Infanterie Friderici trägt. Der Kopf lautet: »Der Wehrmachtsbevollmächtigte beim Reichsprotektor in Böhmen und Mähren«.
Die Denkschrift ist als »Geheime Kommandosache« bezeichnet und vom 15. Oktober 1940 datiert. Das ist praktisch ein Jahr bevor der Angeklagte von Neurath, wie er es nennt, am 27. September 1941 auf Urlaub ging. Es heißt: »Grundsätze der Politik im Protektorat«, und es wurden vier Ausfertigungen davon gemacht, von denen eine auch an den Angeklagten Keitel und an den Angeklagten Jodl ging, und es beginnt: »Am 9. Oktober dieses Jahres...«, damit ist 1940 gemeint.
»Das Amt des Reichsprotektors hat am 9. Oktober d. J. eine Dienstbesprechung abgehalten, in der Staatssekretär SS-Gruppenführer K. H. Frank« – das ist nicht der Angeklagte Frank; es ist Karl Hermann Frank – »dem Sinne nach etwa folgendes ausführte:
Seit Schaffung des Protektorats Böhmen und Mähren haben sowohl Parteidienststellen als auch Wirtschaftskreise, sowie zentrale Behördendienststellen Berlins, Erwägungen über die Lösung des tschechischen Problems angestellt.
Der Reichsprotektor hat zu den verschiedentlichen Planungen nach reiflicher Prüfung in einer Denkschrift Stellung genommen. In dieser wurden drei Lösungsmöglichkeiten aufgezeigt:
a) Deutsche Durchdringung Mährens und Rückbau des tschechischen Volksteiles auf ein Restböhmen.
Diese Lösung wird, da ja das tschechische Problem, wenn auch verkleinert, weiter bestehen bleibt, als nicht befriedigend bezeichnet.
b) Gegen die an sich totalste Lösung, nämlich die Aussiedlung der gesamten Tschechen, sprechen mannigfaltige Gründe. Die Denkschrift kommt daher zum Ergebnis, daß sie in absehbarer Zeit undurchführbar ist.
c) Assimilierung des Tschechentums, d.h. Aufsaugen etwa der Hälfte des tschechischen Volksteiles im Deutschtum, insoweit diese blut- und sonst wertmäßig Bedeutung hat. Diese wird u. a. auch durch vermehrten Arbeitseinsatz von Tschechen im Reichsgebiet (ausgenommen die sudetendeutschen Grenzgebiete), also durch Zerstreuung des geschlossenen tschechischen Volksteiles erfolgen.
Die andere Hälfte des tschechischen Volksteiles muß auf die verschiedensten Arten entmachtet, ausgeschaltet und außer Landes gebracht werden. Dies gilt besonders für die rassisch mongoloiden Teile und den Großteil der intellektuellen Schicht. Letztere ist sowohl stimmungsmäßig kaum zu gewinnen und andererseits dadurch, daß sie immer wieder Führungsansprüche gegenüber den anderen tschechischen Volksteilen anmelden und damit eine möglichst rasche Assimilierung stören würde, eine Belastung.
Elemente, die der beabsichtigten Germanisierung entgegenarbeiten, müssen scharf angefaßt und ausgeschaltet werden.
Die aufgezeigte Entwicklung setzt naturgemäß ein vermehrtes Hereinströmen Deutscher aus dem Reichsgebiet in das Protektorat voraus.
Der Führer hat nach Vortrag als Richtlinie für die Lösung des tschechischen Problems die Lösung nach c) (Assimilierung) gegeben und entschieden, daß bei äußerer Beibehaltung der Autonomie des Protektorats die Germanisierung noch Jahre einheitlich vom Amt des Reichsprotektors wahrgenommen werden müsse.
Von seiten der Wehrmacht ergeben sich aus Obigem keine wesentlichen Folgerungen. Es ist die Richtung, die von hier stets vertreten wurde. Ich nehme in diesem Zusammenhang Bezug auf meine an den Herrn Chef des Oberkommandos der Wehrmacht am 12. 7. 1939 unter Zahl 6/39 g. Kdos. verfaßte Denkschrift: ›Das tschechische Problem‹.«
Das Ganze ist unterschrieben vom Wehrmachtsbevollmächtigten beim Reichsprotektor in Böhmen und Mähren.
Diese Ansicht des Reichsprotektors wurde übernommen und bildete die Grundlage für seine Politik. Das Ergebnis war dann ein Programm zur Festigung der deutschen Kontrolle über Böhmen und Mähren durch systematische Unterdrückung der Tschechen. Dies geschah durch Aufhebung der bürgerlichen Rechte, durch systematische Unterwühlung der einheimischen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Struktur, durch ein Terrorregime, das jedoch von meinen sowjetischen Kollegen dargestellt werden wird. Diese werden meiner Ansicht nach klar beweisen, daß dieser Angeklagte nur denen Protektor war, die unzählige Verbrechen begingen.
Ich habe den Gerichtshof schon darauf aufmerksam gemacht, wieviele Ehren und Belohnungen dieser Angeklagte für seine Betätigung erhielt. Man kann wohl sagen, daß Hitler ihn mit mehr Ehren überschüttete als viele der führenden Nazis, die von Anfang an Parteigenossen gewesen waren. Seine Ernennung zum Präsidenten des neugeschaffenen Geheimen Kabinettsrate im Jahre 1938 war selbst schon eine neue einzigdastehende Auszeichnung. Am 22. September 1940 verlieh Hitler ihm als Reichsprotektor für Böhmen und Mähren das Kriegsverdienstkreuz 1. Klasse. Siehe Deutsches Nachrichtenbüro vom 22. September 1940.
Auch das Goldene Parteiabzeichen wurde ihm verliehen, und am 21. Juni 1943 wurde er von Hitler persönlich vom Gruppenführer zum Obergruppenführer der SS befördert. Und ich möchte dem Gerichtshof auch bekanntgeben, daß er und der Angeklagte von Ribbentrop die zwei einzigen Deutschen waren, denen der Adler-Orden verliehen wurde, eine Auszeichnung, die gewöhnlich Ausländern vorbehalten war. Sein 70. Geburtstag am 2. Februar 1943 wurde von den meisten deutschen Zeitungen als Anlaß genommen, seine vielen Jahre des Dienstes für das Nazi-Regime zu preisen. Diese Dienste kann man nach Ansicht der Anklagebehörde auf zweierlei Art zusammenfassen:
1. Er war ein Mitglied der Fünften Kolonne innerhalb der konservativen politischen Kreise Deutschlands. Diese waren zunächst gegen die Nazis eingestellt gewesen, änderten jedoch ihre Haltung zum Teil angesichts der Tatsache, daß einer von ihnen, der Angeklagte, sich voll und ganz den Nazis verschrieben hatte.
2. Sein früherer Ruf als Diplomat machte es für die öffentliche Meinung im Ausland schwer glaubbar, daß er Mitglied eines Kabinetts wäre, das sein Wort und seine Zusicherungen nicht halten würde. Es war für Hitler höchst wichtig, daß seine eigene Bereitwilligkeit, jeden Vertrag und jede Verpflichtung zu brechen, so lange als möglich verborgen blieb, und zu diesem Zweck fand er in dem Angeklagten von Neurath ein überaus dienliches Werkzeug.
Damit endet das Vorbringen gegen den Angeklagten von Neurath.
VORSITZENDER: Im Hinblick auf den Antrag, der vom Vertreter des Angeklagten Heß gestern gestellt wurde, wird der Gerichtshof den Vortrag des Falles gegen Heß aufschieben und zum Vortrag des französischen Anklagevertreters übergehen.
M. CHARLES DUBOST, STELLVERTRETENDER HAUPTANKLÄGER FÜR DIE FRANZÖSISCHE REPUBLIK: Herr Präsident! Im Verlauf der Ausführungen über die Beschuldigungen, die auf den Angeklagten lasten, haben meine britischen und amerikanischen Kollegen den Beweis erbracht, daß diese Männer einen Plan, ein Komplott zur Beherrschung Europas gefaßt und ausgeführt haben. Sie haben Ihnen gezeigt, welcher Verbrechen gegen den Frieden sich diese Männer schuldig gemacht haben, indem sie ungerechte Kriege entfesselten; sie haben Ihnen gezeigt, daß sie alle als die Herren Nazi-Deutschlands ungerechte Kriege mit Vorbedacht geplant und am Komplott teilgenommen haben.
Dann haben meine französischen Kollegen und Freunde, Herr Herzog, Herr Faure und Herr Gerthoffer Ihnen Dokumente vorgelegt, die dartun, daß die Angeklagten auf Grund verschiedener Stellungen als Führer Nazi-Deutschlands für die wiederholten Verletzungen der Gesetze und Gebräuche des Krieges, die von deutschen Staatsangehörigen im Laufe der militärischen Operationen begangen wurden, verantwortlich sind.
Wir müssen Ihnen aber auch noch die Greueltaten beschreiben, die an Männern, Frauen und Kindern der besetzten westlichen Länder verübt wurden. Wir erbieten uns, hier den Beweis dafür zu erbringen, daß die Angeklagten als Führer Nazi-Deutschlands systematisch eine Politik der Ausrottung betrieben, deren Grausamkeit von Tag zu Tag bis zum deutschen Zusammenbruch stieg, daß die Angeklagten diese Greueltaten ersonnen und gewollt haben, daß sie sie als Teil eines Systems befohlen haben, das ihnen die Erreichung ihrer politischen Ziele ermöglichen sollte. Diese politischen Ziele sind das Bindeglied, das alle Handlungen, die wir Ihnen schildern wollten, verbindet. Die Verbrechen gegen Personen und gegen das Vermögen, die bis jetzt von meinen Kollegen von der französischen Staatsanwaltschaft vorgebracht wurden, standen im Zusammenhang mit dem Kriege. Sie waren daher Kriegsverbrechen im engeren Sinne. Die Verbrechen, die ich Ihnen schildern werde, übersteigen sie in Umfang und Bedeutung. Sie bilden den Teil einer Politik der Beherrschung, der Expansion, die über den eigentlichen Krieg hinausgeht. Hitler selbst hat die beste Erklärung für diese Politik in einer seiner Reden am 16. Mai 1927 in München gegeben. Er belog seine Zuhörer über die Gefahr, die Frankreich, ein landwirtschaftliches Land mit einer Einwohnerzahl von nur 40 Millionen, für Deutschland bedeuten könnte, für Deutschland, das ein schon überindustrialisiertes und reiches Land von ungefähr 70 Millionen Menschen war.
An diesem Tage sagte Hitler:
»Es gibt nur eine Möglichkeit für Deutschland aus seiner Einklammerung herauszukommen, den Staat zu zerschmettern, der naturgemäß unser Todfeind bleiben wird, das ist Frankreich. Wenn ein Volk seine ganze Existenz von einem Gegner bedroht sieht, so hat es alles zurückzustellen und muß diesen einen Gegner zu vernichten trachten.«
Während der ersten Monate nach dem Siege schien es, als ob die Deutschen ihr Vernichtungsprogramm aufgegeben hätten. Das war aber nur ein Schachzug. Sie hofften, die von ihnen unterworfenen Westvölker in ihren Krieg gegen England und gegen die Sowjetunion hineinzuziehen. Teils mit List, teils mit Gewalt, versuchten sie, die Westvölker dazu zu bringen, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Da die Völker sich dem jedoch widersetzten, gaben die Angeklagten diese Taktik auf und kamen auf ihr großes Programm der Vernichtung zurück, der Vernichtung der besiegten Völker, um in Europa Raum zu schaffen für 250 Millionen Deutsche, die sie dort in zukünftigen Generationen anzusiedeln hofften.
Diese Zerstörung, diese Vernichtung – ich gebrauche die Ausdrücke, die Hitler selbst in seinen Reden angewandt hat – wurde unter den verschiedensten Vorwänden durchgeführt: Ausschaltung der minderwertigen oder Neger-Rassen, Vernichtung des Bolschewismus, Vernichtung des jüdisch-freimaurerischen Einflusses, die der Schaffung der sogenannten »Neuen Ordnung in Europa« feindlich gesinnt gegenüberstanden.
Tatsächlich war diese Vernichtung und diese Ausschaltung auf die Ermordung der Elite und der Lebenskräfte gerichtet, die den Nazis Widerstand entgegensetzten. Sie waren auch bestrebt, das Lebenspotential der unterworfenen Völker herabzusetzen.
Ich werde Ihnen darlegen, wie all dies in Ausführung eines wohl vorbedachten Planes geschah. Daß ein solcher bestand, geht unter anderem daraus hervor, daß sich die gleichen Handlungen in allen besetzten Ländern immer wieder wiederholten.
Angesichts dieser ständigen Wiederholungen kann man wohl nicht behaupten, daß nur derjenige, der das Verbrechen ausgeführt hat, schuldig ist. Diese immerwährende Wiederholung beweist, daß ein und derselbe verbrecherische Wille alle Mitglieder der Deutschen Regierung, alle Führer des Deutschen Reiches verbunden hat.
Aus diesem gemeinsamen Willen entstand die amtliche Politik des Terrors und der Vernichtung, die das Beil des Henkers geleitet hat. Und weil sie an der Bildung dieses gemeinsamen Willens teilgenommen haben, wurden alle hier Angeklagten als Hauptkriegsverbrecher bezeichnet.
Ich werde auf diesen Gedankengang zurückkommen, wenn ich nach dem Tatsachen Vortrag nach juristischem Brauch meines Landes die rechtliche Würdigung des Verbrechens zu geben haben werde.
Erlauben Sie mir schon jetzt, einige Angaben zu machen, wie ich mit Ihrer Erlaubnis meinen Vortrag gestalten werde.
Die Tatsachen, für die ich Beweis zu erbringen habe, gehen aus zahlreichen Zeugenaussagen hervor. Wir hätten hier unzählige Zeugen vor Gericht laden können. Ihre Aussagen sind vom Französischen Amte zur Untersuchung von Kriegsverbrechen gesammelt worden. Es schien uns, daß es eine Vereinfachung der Verhandlung bedeuten und diese abkürzen würde, wenn wir Ihnen nur Auszüge der schriftlichen Zeugenaussagen vorlegen.
Mit Ihrer Erlaubnis werde ich mich also darauf beschränken, einige Stellen aus den schriftlichen Aussagen zu verlesen, die in Frankreich von amtlichen, mit der Untersuchung der Kriegsverbrechen betrauten Stellen gesammelt worden sind. Wenn es jedoch im Verlauf meines Vortrags notwendig erscheinen sollte, Zeugen hier vor Gericht zu vernehmen, werden wir das tun, aber stets trachten, in keiner Weise die Verhandlung zu verzögern, sondern sie zu einem schnellen Ende zu bringen, einem gerechten Ende, auf das unsere Völker warten.
Alle Greueltaten waren durch die deutsche Terrorpolitik bestimmt. In dieser Hinsicht haben wir bereits Präzedenzfälle in der deutschen Kriegführung. Wir alle haben noch die Hinrichtung von Geiseln in Dinant im Kriege von 1914 in Erinnerung, die Hinrichtung von Geiseln in der Zitadelle von Laon und in der Zitadelle von Senlis. Aber der Nazismus hat diese Terrorpolitik jetzt zur Vervollkommnung gebracht. Für ihn ist der Terror ein Mittel zur Unterwerfung. Wir haben alle noch den Propagandafilm über den polnischen Feldzug in Erinnerung, der kurz vor der Invasion von Norwegen in Oslo aufgeführt wurde.
Für den Nazismus ist der Terror ein Mittel, Völker zu unterwerfen, um sie seinen politischen Zielen gefügig zu machen.
Alle Franzosen haben noch die ersten Zeichen dieser Terrorpolitik während der Besatzung in Erinnerung. Sie sahen auf den Mauern von Paris, wie auch auf den Mauern der kleinsten Dörfer Frankreichs, nur wenige Monate nach der Unterzeichnung des Waffenstillstandes rote Plakate mit schwarzem Rand, die die ersten Ermordungen von Geiseln mitteilten. Wir wissen von Müttern, die auf diese Weise von der Hinrichtung ihrer Söhne erfuhren. Die Besatzungsmacht schritt zu diesen Hinrichtungen, wenn antideutsche Vorfälle sich ereignet hatten. Diese Vorfälle waren die Antwort des französischen Volkes auf die amtliche Politik der Zusammenarbeit. Der Widerstand gegen diese Politik wurde stärker und stärker, organisierte sich, und mit ihm nahmen auch die Unterdrückungsmaßnahmen an Stärke bis 1944 zu, zu welcher Zeit der deutsche Terror in Frankreich und den Ländern des Westens seinen Höhepunkt erreicht hatte. Damals sprach das Heer und die SS-Polizei nicht mehr von Hinrichtung von Geiseln; sie organisierten geradezu Vergeltungsaktionen, in deren Verlauf ganze Dörfer in Brand gesteckt wurden, Tausende von Zivilpersonen getötet oder festgenommen und deportiert wurden; ehe sie jedoch dazu schritten, versuchten die Deutschen, diese verbrecherischen Taten in den Augen einer empfänglichen öffentlichen Meinung zu rechtfertigen. Sie gaben, wie wir zeigen werden, ein ganzes Gesetzbuch über Geiseln heraus und heuchelten Einhaltung dieses Gesetzes vor, jedesmal, wenn sie zu Hinrichtungen als Vergeltungsmaßnahmen schritten.
Geiselnahme ist nach Artikel 50 der Haager Konvention verboten, wie Sie wissen. Ich möchte den Wortlaut des Artikels 50 aus der IV. Haager Konvention verlesen:
»Keine Kollektivstrafe geldlicher oder anderer Natur kann den Bevölkerungen auferlegt werden auf Grund von Einzelhandlungen, deren sie nicht insgesamt für schuldig erachtet werden können.« Dokument RF-265.
Des ungeachtet bemühte sich der deutsche Generalstab und die Deutsche Regierung hinterlistigerweise, diesen Rechtssatz in Vergessenheit geraten zu lassen, und erhoben die systematische Verletzung der Haager Konvention zum Gesetz.
Ich werde Ihnen beschreiben, wie der Generalstab sein Pseudorecht auf Geiseln begründete, sein angebliches Recht, das in Frankreich seinen endgültigen Ausdruck in Stülpnagels Verordnungen über Geiseln fand.
Ich werde Ihnen, wenn ich dazu komme, zeigen, wer von den hier Angeklagten sich dieses Verbrechens besonders schuldig machte.
Am 15. Februar 1940 rechtfertigt ein an den Angeklagten Göring gerichteter Geheimbericht des OKW die Geiselnahme, wie aus Dokument 1585-PS hervorgeht, das ich mir zu verlesen erlaube.
Dieses Dokument ist datiert: »Berlin, 15. Februar 1940«.
Es trägt den Vermerk:
»Oberkommando der Wehrmacht. Geheim. An den Herrn Reichsminister der Luftfahrt und Oberbefehlshaber der Luftwaffe.
Betrifft: Geiselnahme.
Die Festnahme von Geiseln ist nach Ansicht des OKW in allen Fällen berechtigt, in denen die Sicherheit der Truppe und die Erfüllung ihres Auftrages dies verlangt. Im wesentlichen wird das bei Widerstand oder bei unsicherer Haltung der Bevölkerung in einem besetzten Gebiet in Frage kommen. Voraussetzung dabei ist; daß sich die Truppe im Kampf befindet, oder daß eine Lage besteht, in der andere Mittel zur Herstellung der Sicherheit nicht ausreichen...
Bei Auswahl der Geiseln wird zu beachten sein, daß ihre Festnahme nur dann in Frage kommt, wenn die aufsässigen Teile der Bevölkerung ein Interesse am Leben der Geiseln haben. Die Geiseln werden daher den Bevölkerungskreisen zu entnehmen sein, von denen eine feindselige Haltung zu erwarten ist. Die Geiselnahme wird nur auf solche Personen anzuwenden sein, von denen anzunehmen ist, daß ihr Schicksal die Aufrührer beeinflussen wird.«
Dieses Dokument wird von der Französischen Delegation unter RF-267 vorgelegt.
Der Angeklagte Göring hat dieser Ansicht, soviel ich weiß, niemals widersprochen.
Dann haben wir noch eine Bestimmung in Dokument F-508, RF-268, einen Befehl des Oberbefehlshabers des Heeres, Chef der Militärverwaltung in Frankreich, Verwaltungsstab, gezeichnet »Streccius«, vom 12. September 1940. Drei Monate nach Beginn der Besetzung werden Geiseln dort folgendermaßen definiert:
»Geiseln sind Landeseinwohner, die mit ihrem Leben für ein einwandfreies Verhalten der Bevölkerung einzustehen haben. Die Verantwortung für ihr Schicksal soll also in die Hände ihrer Landsleute gelegt werden. Der Bevölkerung muß deshalb öffentlich angedroht werden, daß für feindselige Handlungen Einzelner die Geiseln haftbar gemacht werden. Als Geiseln kommen nur französische Staatsangehörige in Betracht. Geiseln können nur für Handlungen haftbar gemacht werden, die nach ihrer Festnahme und der öffentlichen Bekanntmachung begangen werden.«
Dieser Erlaß hebt fünf frühere Erlasse bis zum 12. September 1940 auf – die Frage war Gegenstand zahlreicher Anordnungen –, ferner zwei Erlasse des Kommandostabs, deren Daten sich im ersten Teil des Dokuments F-510 finden, und zwar die Erlasse vom 2. November 1940 und vom 13. Februar 1941:
»Werden von Landeseinwohnern Gewalttaten gegen Besatzungsangehörige begangen, Anlagen und Einrichtungen der Wehrmacht beschädigt oder zerstört, oder sonst Angriffe gegen die Sicherheit deutscher Einheiten und Dienststellen gerichtet und ist bei der gegebenen Sachlage die Bevölkerung des Tatortes oder des engeren Bereiches als mitverantwortlich für diese Sabotagehandlungen anzusehen, so können Vorbeugungs- und Sühnemaßnahmen angeordnet werden, durch die die Bevölkerung von der künftigen Begehung, Förderung oder Duldung solcher Taten abgeschreckt werden soll.
Als mitverantwortlich für die Sabotagehandlungen Einzelner ist die Bevölkerung zu behandeln, wenn sie durch ihr allgemeines Verhalten gegenüber der Deutschen Wehrmacht feindselige Handlungen Einzelner begünstigt durch passiven Widerstand gegen die Aufklärung früherer Sabotagehandlungen, böswillige Elemente zu solchen Taten ermutigt oder sonst einen günstigen Boden für Widersetzlichkeiten gegen die deutsche Besatzung geschaffen hat.
Im einzelnen ist zu beachten:
Alle Maßnahmen müssen so getroffen werden, daß sie auch durchgeführt werden können. Androhung ohne Durchführung wirkt als Schwäche.«
Diese beiden letzten Zeilen finden sich oben auf Seite 3 des französischen Textes.
Ich lege diese beiden Dokumente unter F-508, RF-268 und F-510, RF-269, vor.
Bisher finden wir in diesen deutschen Texten noch keine Spur einer Bestätigung dafür, daß die Festnahme und Hinrichtung von Geiseln ein Recht der Besatzungsmacht darstellt. Aber hier habe ich ein deutsches Dokument, das ausdrücklich diese Idee formuliert. Es ist F-507, RF-270, in Ihrem Dokumentenbuch, datiert: »Brüssel, den 18. April 1944.« Es stammt vom Chefrichter beim Militärbefehlshaber in Belgien und in Nordfrankreich und ist gerichtet an die deutsche Waffenstillstandskommission in Wiesbaden. Es trägt oben den Vermerk:
»Geheime Kommandosache«.
»Betrifft: Erschießung von 8 Terroristen in Lille am 22. Dezember 1943.
Bezug: Dortiges Schreiben vom 16. März 1944.«
Sie werden in der Mitte des zweiten Absatzes folgende Stelle finden:
»Im übrigen stehe ich auf dem Standpunkt, daß die rechtlichen Grundlagen der Maßnahmen der Oberfeldkommandantur Lille auf Grund des Schreibens meiner Gruppe Polizei vom 2. März 1943 der Waffenstillstandskommission gegenüber hinreichend begründet worden sind und sich weitere Ausführungen erübrigen. Die Waffenstillstandskommission ist durchaus in die Lage versetzt, den Franzosen, sofern sie überhaupt auf die Anfrage in dieser Ausführlichkeit eingehen will, zu erklären, daß die Erschießungen nach den allgemeinen Grundsätzen des Geiselrechts erfolgt sind.«
Es handelt sich also um eine Staatslehre. Unschuldige werden das Pfand, sie haften mit ihrem Leben für das Verhalten ihrer Mitbürger gegenüber der Deutschen Wehrmacht. Wenn eine Straftat begangen wird, der sie vollkommen fernstehen, werden sie einer Kollektivstrafe unterworfen, die bis zum Tod gehen kann. Dies ist ein offizieller deutscher Grundsatz, der trotz der Proteste der Waffenstillstandskommission in Wiesbaden vom deutschen Oberkommando eingeführt wurde. Ich sage, ein vom deutschen Oberkommando eingeführter Grundsatz, und ich erbringe den Beweis dafür. Keitel unterzeichnete am 16. September 1941 einen allgemeinen Befehl, der bereits verlesen und von meinen amerikanischen Kollegen unter 389-PS, RF-271, vorgelegt wurde. Ich darf dazu folgende Erläuterung geben:
Dieser Befehl gilt für alle besetzten Gebiete des Westens und des Ostens, wie sich aus der Liste derer ergibt, an die er zugestellt wurde, unter denen alle Militärbefehlshaber der damals von Deutschland besetzten Länder waren: Frankreich, Belgien, Norwegen, Holland, Dänemark, Ostland, Ukraine, Serbien, Saloniki, Südgriechenland und Kreta. Dieser Befehl hat während der ganzen Dauer des Krieges gegolten. Wir haben ein Schriftstück aus dem Jahre 1944, das sich darauf bezieht. Dieser Befehl Keitels, des Chefs des OKW, ist getragen von dem wilden Wunsch nach Unterdrückung der Kommunisten. Er sieht eine vollkommene Unterdrückung der Zivilbevölkerung vor.
Dieser Befehl, der auch für Befehlshaber gilt, deren Truppen im Westen stehen, besagt, daß in allen Fällen, in denen Attentate gegen die Deutsche Wehrmacht unternommen werden, festzustellen sei,
»daß es sich hierbei um eine von Moskau einheitlich geleitete Massenbewegung handelt, der auch die geringfügig erscheinenden Einzelvorfälle in bisher sonst ruhigen Gebieten zur Last zu legen sind.«
Dementsprechend ordnet Keitel unter anderem an, daß fünfzig bis hundert Kommunisten für jeden getöteten deutschen Soldaten zu erschießen seien. Dieses ist eine politische Idee, die wir immer wieder in allen deutschen Terrorerklärungen finden werden. Für die Hitler-Propaganda ist jeder Widerstand gegen Deutschland kommunistischen Ursprungs, wenn nicht selbst kommunistischer Natur. Damit hoffen die Deutschen, die Nationalisten aus der Widerstandsbewegung auszuschalten, die, wie sie glauben, gegen die Kommunisten eingestellt sind; aber die Nazis verfolgten noch ein anderes Ziel. Sie hofften vor allem noch, Frankreich und die anderen besiegten Westländer in zwei feindliche Parteien zu teilen und sich die eine Partei unter dem Vorwand des Anti-Kommunismus dienstbar zu machen.
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