[Das Gericht vertagt sich bis
28. Januar 1946, 10.00 Uhr.]
Vierundvierzigster Tag.
Montag, den 28. Januar 1946.
Vormittagssitzung.
M. DUBOST: Hoher Gerichtshof! Wir werden diesen Teil des französischen Anklagevortrags mit der Vernehmung einer Zeugin fortsetzen, die mehr als drei Jahre in deutschen Konzentrationslagern gelebt hat.
[Die Zeugin betritt den Zeugenstand.]
VORSITZENDER: Stehen Sie bitte auf; wollen Sie den französischen Eid schwören. Wollen Sie mir Ihren Namen nennen.
ZEUGIN CLAUDE VAILLANT-COUTURIER: Claude Vaillant-Couturier.
VORSITZENDER: Wollen Sie mir nachsprechen: Ich schwöre ohne Haß und Furcht zu sprechen, die Wahrheit zu sagen, die ganze Wahrheit, nichts als die Wahrheit.
[Die Zeugin spricht die Eidesformel nach.]
VORSITZENDER: Heben Sie die rechte Hand und sagen Sie: Ich schwöre.
VAILLANT-COUTURIER: Ich schwöre.
VORSITZENDER: Setzen Sie sich und sprechen Sie langsam.
M. DUBOST: Ihr jetziger Name ist Frau Vaillant- Couturier?
VAILLANT-COUTURIER: Ja.
M. DUBOST: Sind Sie Witwe von Herrn Vaillant- Couturier?
VAILLANT-COUTURIER: Ja.
M. DUBOST: Sie sind in Paris am 3. November 1912 geboren?
VAILLANT-COUTURIER: Ja.
M. DUBOST: Sie sind französische Staatsangehörige?
VAILLANT-COUTURIER: Ja.
M. DUBOST: Geborene Französin?
VAILLANT-COUTURIER: Ja.
M. DUBOST: Waren Ihre Eltern französischer Nationalität?
VAILLANT-COUTURIER: Ja.
M. DUBOST: Sie sind Abgeordnete der Konstituierenden Versammlung?
VAILLANT-COUTURIER: Ja.
M. DUBOST: Sie sind Ritter der Ehrenlegion?
VAILLANT-COUTURIER: Ja.
M. DUBOST: Wurden Sie kürzlich von General Legentilhomme im Palais des Invalides ausgezeichnet?
VAILLANT-COUTURIER: Ja.
M. DUBOST: Sie wurden verhaftet und deportiert? Können Sie nun Ihre Zeugenaussage abgeben?
VAILLANT-COUTURIER: Ich wurde am 9. November durch die französische Polizei des Marschalls Pétain verhaftet und nach sechs Wochen den deutschen Behörden übergeben. Ich kam am 20. März in die deutsche Abteilung des Gefängnisses La Santé. Ich wurde am 9. Juni 1942 verhört. Am Ende meiner Vernehmung wollte man mich veranlassen, eine Erklärung zu unterzeichnen, die meinen Angaben nicht entsprach. Da ich mich weigerte, diese Erklärung zu unterschreiben, bedrohte mich der verhörende Offizier, und als ich ihm sagte, daß ich mich vor dem Tode und dem Erschießen nicht fürchte, antwortete er: Wir haben viel schlimmere Mittel zur Verfügung als das Erschießen, um Leute dem Tode zu überantworten. Und der Dolmetscher erklärte mir: Sie wissen nicht, was Sie jetzt getan haben. Man wird Sie in ein deutsches Konzentrationslager schicken, und von dort kommt man nie zurück.
M. DUBOST: Wurden Sie danach ins Gefängnis gebracht?
VAILLANT-COUTURIER: Ich wurde in das Santé- Gefängnis zurückgebracht und dort in Einzelhaft gehalten. Ich konnte mich aber durch die Kanalisation und die Fenster mit meinen Nachbarn in Verbindung setzen. In den Zellen neben mir befanden sich der Philosoph Georges Politzer und der Physiker Jacques Solomon, Schwiegersohn von Professor Langevin, einem Schüler von Curie, einem der ersten, der sich mit der Atomzertrümmerung befaßt hatte.
Georges Politzer erzählte mir durch die Kanalisation, daß er bei seinem Verhör, nachdem man ihn gefoltert hatte, gefragt wurde, ob er nicht theoretische Schriften für den Nationalsozialismus schreiben wolle. Da er dies ablehnte, wurde ihm gesagt, daß er zur ersten Gruppe von Geiseln gehören werde, die erschossen werden sollten.
Auch Jacques Solomon wurde entsetzlich gefoltert, dann in den Kerker zurückgebracht, aus dem er erst am Tage seiner Erschießung wieder herausgeführt wurde, um sich von seiner Frau, die ebenfalls im Santé-Gefängnis eingesperrt war, zu verabschieden. Hélene Solomon-Langevin erzählte mir in Romainville, wo ich sie, nachdem ich das Gefängnis La Santé verlassen hatte, wiedersah, daß ihr Gatte, als sie ihn umarmen wollte, stöhnte und sagte: Ich kann Dich nicht in meine Arme nehmen, denn ich kann sie nicht mehr bewegen.
Jedesmal, wenn die Gefangenen von Verhören zurückkamen, hörte man aus den Kerkerfenstern ihr Stöhnen; sie sagten, daß sie sich nicht mehr bewegen könnten.
Während dieser fünf Monate meines Aufenthaltes im Gefängnis La Santé hat man mehrere Male Geiseln geholt, um sie zu erschießen.
Als ich das Gefängnis La Santé am 20. August 1942 verließ, wurde ich zur Festung Romainville gebracht, die als Geisellager diente. Dort habe ich zweimal, und zwar am 21. August und am 22. September, die Aushebung von Geiseln mit angesehen. Unter den weggebrachten Geiseln waren die Ehegatten der Frauen, die mit mir nach Auschwitz gebracht wurden. Die meisten derselben starben dort. Diese Frauen wurden meist nur wegen der Tätigkeit ihrer Männer verhaftet, sie selbst hatten an diesen Handlungen nicht teilgenommen.
M. DUBOST: Wann sind Sie nach Auschwitz gebracht worden?
VAILLANT-COUTURIER: Am 23. Januar 1943, die Ankunft dort erfolgte am 27. Januar.
M. DUBOST: Kamen Sie mit einem Transport dort an?
VAILLANT-COUTURIER: Ich gehörte einem Transport von 230 französischen Frauen an. Unter uns befand sich Danielle Casanova, die in Auschwitz starb, Mai Politzer, die in Auschwitz starb, ebenso Hélene Solomon. Es befanden sich alte Frauen darunter...
M. DUBOST: Aus welcher sozialen Schicht kamen diese Frauen?
VAILLANT-COUTURIER: Intellektuelle, Lehrerinnen, aus allen sozialen Schichten. Mai Politzer war Ärztin; sie war die Frau des Philosophen Georges Politzer. Hélene Solomon ist die Frau des Physikers Solomon und die Tochter des Professors Langevin. Danielle Casanova war Zahnärztin, sie war sehr tätig unter den Frauen. Sie war es, die eine Widerstandsbewegung unter den Frauen der Gefangenen organisierte.
M. DUBOST: Wieviele sind von 230 zurückgekommen?
VAILLANT-COUTURIER: Neunundvierzig. In dem Transport waren auch alte Frauen; ich erinnere mich unter anderen an eine Frau von 67 Jahren, die verhaftet wurde, weil sie in der Küche das Jagdgewehr ihres Mannes hatte, das sie als Andenken an ihn aufbewahrt und nicht angemeldet hatte, damit man es ihr nicht wegnehme. Sie ist in Auschwitz innerhalb von 14 Tagen gestorben.
VORSITZENDER: Sie sagten, nur neunundvierzig kamen zurück? Verstehen Sie darunter, daß nur neunundvierzig aus diesem Transport in Auschwitz ankamen?
VAILLANT-COUTURIER: Nein, nur neunundvierzig kamen nach Frankreich zurück. Wir hatten unter uns auch Krüppel, so eine Sängerin, die nur ein Bein hatte. Sie wurde ausgesucht und in Auschwitz vergast. Ferner ein junges Mädchen von sechzehn Jahren, eine Schülerin, Claudine Guérin. Auch sie starb in Auschwitz. Dann waren da zwei Frauen, die von dem deutschen Militärgericht freigesprochen worden waren; sie hießen Marie Alonzo und Marie-Thérese Fleuri; auch sie starben in Auschwitz.
Diese Reise war außerordentlich mühevoll, denn wir waren sechzig Personen in einem Güterwagen, und man hat uns weder Nahrung, noch Getränk während der ganzen Fahrt gegeben. Als wir bei verschiedenen Aufenthalten des Zuges lothringische Soldaten, die in der deutschen Wehrmacht dienten und unsere Wächter waren, fragten, wann wir ankommen würden, antworteten sie uns: Wenn ihr wüßtet, wohin ihr kommt, würdet ihr euch nicht drängen, anzukommen.
Wir erreichten Auschwitz am frühen Morgen. Die Güterwaggons wurden entsiegelt, und man trieb uns mit Kolbenschlägen heraus, um uns in das Lager Birkenau zu führen. Birkenau ist eine Nebenabteilung des Konzentrationslagers Auschwitz. Es liegt auf einer weiten Ebene, die im Januar gefroren war. Während der ganzen Strecke haben wir unser Gepäck nachgeschleppt. Als wir den Vorhof passierten, fühlten wir, daß die Aussichten, wieder herauszukommen, sehr gering waren, denn wir waren bereits skelettartigen Kolonnen auf ihrem Weg zur Arbeit begegnet. Bei unserem Eintritt sangen wir die Marseillaise, um uns Mut zu machen.
Wir wurden in eine große Baracke geführt und dann zur Desinfektion. Dort rasierte man uns den Kopf und tätowierte uns auf dem Unterarm die Eintragungsnummer. Dann brachte man uns in einen großen Raum, um ein Dampfbad und eine eiskalte Dusche zu nehmen.
All dies geschah in Anwesenheit von SS-Männern und -Frauen, obwohl wir uns nackt ausziehen mußten. Sodann gab man uns schmutzige und zerrissene Kleider, einen Rock aus Wolle und eine Jacke aus ähnlichem Stoff. Da diese Vorgänge mehrere Stunden in Anspruch nahmen, konnten wir von den Fenstern unseres Blockes in das Lager der Männer sehen; gegen Abend spielte ein Orchester. Da es schneite, fragten wir uns, was der Grund dieser Musik sei. In diesem Augenblick kehrten die Arbeitskommandos der Männer in das Lager zurück. Hinter jedem Kommando gingen Leute, die Leichen trugen. Da diese Häftlinge sich selbst kaum schleppen konnten, brachte man sie mit Kolbenschlägen oder Fußtritten wieder auf die Beine, wenn sie zu Boden stürzten.
Dann wurden wir zu dem Block geführt, wo wir wohnen sollten. Es gab keine Betten, sondern nur Holzpritschen, in der Größe von zwei mal zwei Metern, auf denen wir zu neunt ohne Strohsäcke und ohne Decken während der ersten Nacht zu schlafen hatten. Wir verbrachten mehrere Monate in Blocks dieser Art. Während der ganzen Nacht konnte man nicht schlafen, denn jedesmal, wenn eine dieser neun Frauen sich rührte, störte sie die anderen, und da alle krank waren, geschah dies unaufhörlich. Um 3.30 Uhr morgens weckte uns das Geschrei der Aufseherinnen. Mit Knüppelschlägen wurden wir von den Pritschen gejagt und zum Appell getrieben. Nichts in der Welt konnte uns von diesem Appell dispensieren. Selbst die Sterbenden mußten hingeschleppt werden. Dort standen wir in Reihen zu fünf, bis der Tag anbrach, das heißt bis 7 oder 8 Uhr morgens im Winter, und wenn es nebelig war, manchmal bis mittags; nachher machten sich die Kommandos auf ihren Weg zur Arbeit.
M. DUBOST: Können Sie uns diese Appellszenen beschreiben?
VAILLANT-COUTURIER: Beim Appell wurden wir in Reihen zu fünf eingeteilt, dann hatten wir bis Tagesanbruch zu warten, bis die Aufseherinnen, das heißt, bis die deutschen weiblichen Wächter in Uniform kamen, um uns zu zählen. Sie hatten Knüppel und verteilten damit aufs Geratewohl ihre Schläge.
Wir hatten eine Kameradin, Germaine Renaud, Lehrerin in Azay-le-Rideau in Frankreich, die vor meinen Augen durch einen Knüppelschlag während des Appells einen Schädelbruch erlitt.
Die Arbeit in Auschwitz bestand in der Räumung von zerstörten Häusern, in Straßenbau, und vor allem in der Trockenlegung von Sümpfen. Dies war bei weitem die härteste Arbeit, weil man den ganzen Tag mit den Füßen im Wasser stehen mußte und fortwährend die Gefahr bestand, einzusinken. Es geschah immer wieder, daß eine. Kameradin, die oft bis zur Hüfte im Sumpf eingesunken war, von uns herausgezogen werden mußte. Während der ganzen Arbeitszeit wachten die männlichen und weiblichen SS-Aufseher über uns und versetzten uns Knüppelschläge oder ließen ihre Hunde auf uns los. Vielen Kameradinnen wurden die Beine von den Hunden zerrissen. Einmal habe ich sogar gesehen, wie eine Frau von einem Hund zerfleischt und getötet wurde, als der SS-Mann Tauber seinen Hund auf sie hetzte und bei dem Schauspiel grinste.
Die Sterblichkeitsursachen waren außerordentlich zahlreich. Vor allem ist der Mangel an jeglicher Hygiene zu nennen. Bei unserer Ankunft in Auschwitz gab es für 12000 Häftlinge nur einen einzigen Wasserhahn, das Wasser war nicht trinkbar und floß nur ab und zu. Da dieser Wasserhahn sich in den deutschen Waschräumen befand, konnte man sich ihm nur nähern, wenn man an einer Wache vorbeiging, die aus deutschen gemeinen Verbrecherinnen bestand, die uns entsetzlich schlugen. Es war daher fast unmöglich, sich zu waschen oder die Wäsche zu reinigen. Mehr als drei Monate vergingen, ohne daß wir reine Wäsche anziehen konnten. Wenn es Schnee gab, ließen wir den Schnee schmelzen, um uns waschen zu können. Später im Frühling benützten wir auf unserem Weg zur Arbeit dieselbe Wasserlache am Straßenrande zum Trinken und zum Waschen unserer Hemden und Hosen. Dann wuschen wir uns die Hände in diesem schmutzigen Wasser. Unsere Kameradinnen starben vor Durst, weil wir nur zweimal täglich ein Achtel Kräutertee zu trinken bekamen.
M. DUBOST: Bitte sagen Sie uns genau, woraus einer der Anfang Februar abgehaltenen Appelle bestand?
VAILLANT-COUTURIER: Am 5. Februar fand ein allgemeiner Appell statt.
M. DUBOST: Am 5. Februar welchen Jahres?
VAILLANT-COUTURIER: 1943; 3.30 Uhr wurde das ganze Lager geweckt.
M. DUBOST: 3.30 Uhr früh?
VAILLANT-COUTURIER: Ja, das ganze Lager wurde geweckt und auf die Ebene geschickt, während sonst der Appell um 3.30 Uhr im Innern des Lagers stattfand. Wir blieben auf der Ebene vor dem Lager bei Schneefall bis 5 Uhr nachmittags, ohne Nahrung irgendwelcher Art zu erhalten. Als dann das Signal gegeben wurde, hatten wir eine nach der anderen durch ein Tor zu gehen, und jede erhielt einen Knüppelschlag, um sie zum Laufen zu zwingen. Diejenigen, die nicht laufen konnten, weil sie zu alt oder zu krank waren, wurden mit einem Haken gefaßt und zum Block 25 geführt, dem Warteblock für die Vergasung. An diesem Tage wurden zehn französische Frauen unserer Gruppe auf diese Weise gefaßt und in den Warteblock gebracht. Nachdem alle Verhafteten ins Lager zurückgebracht waren, wurde eine Kolonne gebildet, der ich angehörte, um auf die Ebene zurückzukehren und die Toten aufzuheben, die wie auf einem Schlachtfeld zerstreut herumlagen. Wir haben unterschiedslos die Toten und die Sterbenden in den Hof von Block 25 gebracht. Sie sind dort zusammengepfercht liegen geblieben.
Dieser Block 25 war das Vorzimmer zur Gaskammer, wenn man so sagen darf. Ich kenne ihn sehr gut, denn wir sind zu dieser Zeit in den Block 26 verlegt worden und unsere Fenster öffneten sich in den Hof des Blocks 25. Man sah Mengen von Leichen im Hofe aufgehäuft, und von Zeit zu Zeit bewegte sich unter diesen Leichen eine Hand oder ein Kopf, die versuchten, sich freizumachen. Es war eine Sterbende, die sich loszulösen versuchte, um weiter zu leben.
Die Sterblichkeit in diesem Block war noch schrecklicher als sonst, denn, da es sich um zum Tode verurteilte Frauen handelte, gab man ihnen nur das zu essen oder zu trinken, was zufällig in der Küche übrig blieb, das heißt, daß sie praktisch tagelang keinen Tropfen Wasser bekamen.
Eines Tages hatte eine unserer Kameradinnen, Annette Epaux, eine schöne junge Frau von 30 Jahren, die an diesem Block vorbeiging, mit diesen Frauen Mitleid, die von früh bis abends in allen Sprachen schrieen; Zu trinken, zu trinken, zu trinken, Wasser! Sie ist in unseren Block zurückgekommen, um ein wenig Kräutertee zu holen. Aber im Augenblick, wo sie den Tee durch das vergitterte Fenster reichte, wurde sie von der Aufseherin bemerkt, beim Kragen gepackt und selbst in den Block 25 geworfen.
Ich werde mich mein ganzes Leben lang an Annette Epaux erinnern. Zwei Tage später, auf dem Wagen, der zur Gaskammer führte, hielt sie eine andere Französin an sich gepreßt, es war die alte Line Porcher, und als der Wagen losfuhr, rief sie uns zu: Denkt an meinen kleinen Buben, wenn ihr nach Frankreich kommt. Dann begannen sie alle die Marseillaise zu singen.
Im Block 25 sah man im Hof Ratten so groß wie Katzen herumlaufen, die die Leichen annagten und sich sogar an die Sterbenden heranmachten, die nicht mehr die Kraft hatten, sie zu verjagen.
Ein anderer Grund für die Sterblichkeit und für die Seuchen lag in der Tatsache, daß man uns in großen roten Gefäßen zu essen gab, die nach dem Essen nur mit kaltem Wasser gespült wurden. Da alle Frauen krank waren und nicht mehr die Kraft hatten, sich nachts bis zum Graben hinzuschleppen, der als Latrine benutzt wurde und dessen Anblick unbeschreiblich war, benutzten sie die Eßgefäße für einen Zweck, für den sie nicht vorgesehen waren. Am nächsten Morgen wurden diese Gefäße eingesammelt und zu einem Misthaufen gebracht. Während des Tages kam eine andere Gruppe, um die Gefäße einzusammeln, sie spülten sie einfach mit kaltem Wasser ab und setzten sie wieder in Umlauf.
Ein anderer Grund für die Sterblichkeit war die Frage der Schuhe. Bei diesem Schnee und Schmutz in Polen waren lederne Schuhe innerhalb 8 oder 14 Tagen vollständig verbraucht. Man hatte also erfrorene Füße und Fußwunden. Man mußte auf diesen schmutzigen Schuhen schlafen, aus Angst, daß sie gestohlen wurden. Und fast jede Nacht, wenn man zum Appell aufstand, hörte man Schreie des Entsetzens: man hat mir die Schuhe gestohlen. Dann mußte man warten, bis alle Blocks leer waren, um unter den Pritschen zurückgelassene Schuhe zu suchen. Es waren oft zwei Schuhe für denselben Fuß oder ein Schuh und ein Holzschuh. Das erlaubte, den Appell mitzumachen, bei der Arbeit aber war es eine zusätzliche Folterung, es entstanden Fußwunden, die sich aus Mangel an Pflege rasch verschlechterten. Zahlreich ist die Anzahl meiner Kameradinnen, die ins Revier kamen, weil sie Wunden an den Füßen hatten, und die nie mehr lebend herauskamen.
M. DUBOST: Was geschah denjenigen, die bei dem Appell ohne Schuhe erschienen?
VAILLANT-COUTURIER: Die jüdischen Internierten, die ohne Schuhe kamen, wurden sofort zum Block 25 gebracht.
M. DUBOST: Man hat sie also vergast?
VAILLANT-COUTURIER: Ja, man hat sie wegen nichts vergast. Übrigens war ihre Lage entsetzlich. Während wir in den Blocks zu 800 zusammengepfercht waren und uns dabei kaum rühren konnten, waren sie in Blocks von ähnlichen Abmessungen zu 1500, das heißt eine große Anzahl von ihnen konnte nachts nicht schlafen und sich nicht einmal ausstrecken.
M. DUBOST: Können Sie von dem Revier sprechen?
VAILLANT-COUTURIER: Um in das Revier zu kommen, mußte man zuerst den Appell mitmachen.
M. DUBOST: Wollen Sie bitte genau erklären, was das Revier im Lager war?
VAILLANT-COUTURIER: Das waren die Blocks, in denen die Kranken untergebracht wurden. Man kann diesem Ort nicht den Namen »Lazarett« geben, weil er in keiner Weise dem entsprach, was man sich unter Lazarett vorstellt. Um hineinzukommen, mußte man zuerst die Genehmigung des Chefs des Blocks bekommen, die dieser nur selten gab. Wenn man diese Bewilligung endlich erhalten hatte, wurde man in Kolonnen vor das Revier gebracht, bei jedem Wetter, gleichgültig ob es schneite oder regnete; auch mit 40 Grad Fieber mußten die Kranken mehrere Stunden Schlange stehen, um eingelassen zu werden. Es ist sehr häufig vorgekommen, daß Kranke vor der Türe des Reviers gestorben sind, noch bevor sie hineingekommen waren. Übrigens war auch das Warten vor dem Revier gefährlich, denn, wenn die Schlange zu lang war, packte ein SS-Mann die wartenden Frauen zusammen und führte sie sogleich zum Block 25.
M. DUBOST: Das heißt zur Gaskammer.
VAILLANT-COUTURIER: Das heißt zur Gaskammer. Deswegen haben die Frauen oft vorgezogen, nicht zum Revier zu gehen, sie starben bei der Arbeit oder während des Appells. Täglich wurden im Winter nach dem Abendappell tote Frauen aufgehoben, die in die Gräben gerollt waren.
Der einzige Vorteil des sogenannten Reviers war, daß man im Bett lag und nicht zum Appell gehen mußte. Man lag zu Bett unter fürchterlichen Umständen, in Betten von 1 m Breite zu viert, mit verschiedenen Krankheiten, was dazu führte, daß eine Frau, die wegen Beinwunden angenommen worden war, anschließend Typhus oder Ruhr von ihrer Nachbarin bekam. Die Strohlager waren beschmutzt, sie wurden erst gewechselt, wenn sie vollständig verfault waren. Die Decken waren so verlaust, daß man dieses Ungeziefer wie Ameisen herumlaufen sah.
Eine meiner Kameradinnen, Marguerite Corringer, erzählte mir, daß sie während ihres Typhus die ganze Nacht nicht schlafen konnte wegen der Läuse. Sie verbrachte die Nacht damit, ihre Bettdecke über einem Stück Papier auszuschütteln, die Läuse in einem Gefäß bei ihrem Bett zu sammeln und so stundenlang weiter.
Es gab sozusagen keine Arzneimittel. Man ließ die Kranken ohne Pflege, ohne Hygiene, ohne sie zu waschen. Man ließ die Toten mehrere Stunden lang neben den Kranken liegen, und wenn man schließlich bemerkte, daß diese Kranken gestorben waren, wurden sie ganz einfach aus dem Bett herausgeworfen und vor den Block gelegt. Von dort wurden sie von der Kolonne der Totenträgerinnen auf kleinen Tragbahren, aus denen Kopf und Beine herunterhingen, weggebracht. Von morgens bis abends gingen die Totenträgerinnen zwischen Revier und Totenhaus hin und her.
Während der großen Typhusepidemien in den Wintern 1943 und 1944 wurden die Tragbahren durch Karren ersetzt, da es so viele Tote gab. Während dieser Epidemien hat es 200 bis 350 Todesfälle pro Tag gegeben.
M. DUBOST: Wieviele Leute sind damals gestorben?
VAILLANT-COUTURIER: Während der großen Typhusepidemien der Winter 1943 und 1944 gab es je nach den Lagen 200 bis 350 täglich.
M. DUBOST: War das sogenannte Revier für alle Internierten offen?
VAILLANT-COUTURIER: Nein, als wir ankamen, war es den jüdischen Frauen untersagt, sie wurden direkt in die Gaskammer geführt.
M. DUBOST: Wollen Sie von der Desinfektion der Blocks sprechen, bitte.
VAILLANT-COUTURIER: Von Zeit zu Zeit wurden die Blocks wegen des Schmutzes, der die Verlausung und das Entstehen von Seuchen begünstigte, mit Gas desinfiziert. Aber diese Desinfektion hat ebenfalls eine große Anzahl von Toten gekostet, weil, während der Block vergast wurde, die Gefangenen zu den Duschen gebracht wurden, wo man ihnen die Kleider wegnahm, um sie zu desinfizieren. Man hieß sie ganz nackt draußen stehen, bis die Kleider von der Desinfektion wiederkamen. Man gab sie ihnen ganz naß zurück. Man hat sogar die Kranken zu diesen Duschen geschickt, solange sie auf den Beinen stehen konnten. Selbstverständlich starb eine sehr große Anzahl von ihnen unterwegs. Diejenigen, die sich nicht rühren konnten, wurden während der Desinfektion alle in derselben Badewanne gewaschen.
M. DUBOST: Wie wurden Sie ernährt?
VAILLANT-COUTURIER: Wir bekamen 200 Gramm Brot, je nachdem, dreiviertel oder einhalb Liter Mohrrübensuppe, einige Gramm Margarine und eine Scheibe Wurst am Abend. Das jeden Tag.
M. DUBOST: Wie schwer auch die Arbeit war, die man von den Häftlingen forderte?
VAILLANT-COUTURIER: Ja, ohne Rücksicht auf die Arbeit, die man von den Häftlingen verlangte. Einige Frauen, die in der Fabrik »Union« arbeiteten, einer Munitionsfabrik, in der sie Handgranaten und Geschosse herstellten, bekamen eine Zulage, wenn der bestimmte Erzeugungssatz erreicht war. Diese Häftlinge hatten, ebenso wie wir, an den Morgen- und Abendappellen teilzunehmen und waren zwölf Stunden lang in ihrem Werk bei der Arbeit. Sie kamen nach der Arbeit ins Lager zurück und mußten morgens und abends die ganze Strecke zu Fuß gehen.
M. DUBOST: Was für eine Fabrik war die »Union«?
VAILLANT-COUTURIER: Es war eine Munitionsfabrik. Ich weiß nicht, welcher Gesellschaft sie gehörte. Sie wurde »Union« genannt.
M. DUBOST: War es die einzige Fabrik?
VAILLANT-COUTURIER: Nein, es gab noch eine andere Fabrik für Buna, aber da ich dort nicht gearbeitet habe, weiß ich nicht, was dort hergestellt wurde. Die Häftlinge, die dieser Fabrik zugeteilt waren, kamen nicht mehr in unser Lager zurück.
M. DUBOST: Wollen Sie über die Experimente sprechen, deren Zeugin Sie geworden sind?
VAILLANT-COUTURIER: Experimente habe ich im Revier gesehen, denn ich war dort beschäftigt. Ich sah, wie die jungen Jüdinnen aus Saloniki vor dem Bestrahlungsraum Schlange standen, wo sie sterilisiert werden sollten. Ich weiß auch, daß man in der Männerabteilung Entmannungen vorgenommen hat. Was man mit den Frauen in der Frauenabteilung anstellte, weiß ich ganz genau, weil meine Freundin, Dr. Hadé Hautval aus Montbéliard, mehrere Monate in diesem Block gearbeitet und die Kranken gepflegt hat; sie hat sich stets geweigert, an den Experimenten teilzunehmen. Die Frauen wurden durch Injektionen oder durch Operationen oder auch durch Bestrahlung sterilisiert. Ich habe mehrere Frauen gesehen und gekannt, die sterilisiert worden waren. Unter den Operierten war die Sterblichkeitsziffer sehr hoch. Vierzehn französische Jüdinnen, die sich ihrer Sterilisation widersetzten, wurden dem Strafarbeitskommando zugeteilt.
M. DUBOST: Kamen von diesen Kommandos welche zurück?
VAILLANT-COUTURIER: Sehr selten, nur ausnahmsweise.
M. DUBOST: Was war das von der SS verfolgte Ziel?
VAILLANT-COUTURIER: Die Sterilisationen, sie verhehlten dies nicht. Sie behaupteten, daß sie die beste Sterilisationsmethode suchten, um in den besetzten Ländern die bodenständige Bevölkerung durch Deutsche zu ersetzen, was im Laufe einer Generation möglich gewesen wäre, nachdem sie die Einheimischen zur Sklavenarbeit benutzt hätten.
M. DUBOST: Haben Sie im Revier schwangere Frauen gesehen?
VAILLANT-COUTURIER: Ja, jüdische Frauen. Wenn sie schwanger ankamen, und wenn die Schwangerschaft erst einige Monate angedauert hatte, dann wurde eine künstliche Geburt eingeleitet. Wenn die Schwangerschaft ihrem Ende zuging, wurden die Kinder nach der Geburt in einem Eimer Wasser ertränkt. Ich weiß darüber Bescheid, weil ich im Revier gearbeitet habe, und die Vorgesetzte für diese Arbeit eine deutsche Hebamme war, die wegen Abtreibungen gemeinrechtlich verurteilt worden war.
Nach einiger Zeit kam ein anderer Arzt, und zwei Monate lang wurden die jüdischen Kinder nicht mehr umgebracht. Aber eines Tages kam ein Befehl aus Berlin, der die Ermordung der jüdischen Kinder erneut anordnete. Daraufhin wurden die Mütter und die Kinder in das Revier gerufen; sie bestiegen Lastwagen und wurden dann zur Gaskammer gebracht.
M. DUBOST: Warum sagten Sie, daß der Befehl aus Berlin kam?
VAILLANT-COUTURIER: Weil ich die Häftlinge kannte, die in dem Sekretariat der SS beschäftigt waren, besonders eine Slowakin, Hertha Roth, die jetzt für die UNRRA in Preßburg arbeitet.
M. DUBOST: Hat sie es Ihnen gesagt?
VAILLANT-COUTURIER: Ja, und andererseits kannte ich auch die Männer, die im Gaskommando arbeiteten.
M. DUBOST: Sie haben soeben von den jüdischen Müttern gesprochen. Gab es denn noch andere Mütter in dem Lager?
VAILLANT-COUTURIER: Ja, im Prinzip durften die nichtjüdischen Frauen Kinder zur Welt bringen und sie auch behalten. Aber angesichts der furchtbaren Verhältnisse im Lager blieben die Kinder nur selten mehr als vier bis fünf Wochen am Leben.
VAILLANT-COUTURIER: Es gab einen Block, in dem polnische und russische Mütter untergebracht waren. Eines Tages wurde den russischen Müttern vorgeworfen, daß sie zu viel Lärm machten. Danach wurden sie zum Appell gerufen und mußten vollkommen nackt, mit ihren Kindern im Arm, den ganzen Tag vor dem Haus stehen bleiben.
M. DUBOST: Wie waren die disziplinarischen Vorschriften des Lagers beschaffen? Wer hatte die Disziplin und Überwachung zu gewährleisten und welche Strafen wurden verhängt?
VAILLANT-COUTURIER: Im allgemeinen hat die SS mit ihrem eigenen Personal stark gespart, indem sie sich der Häftlinge zur Lagerüberwachung bediente. Sie selbst übte nur die Aufsicht aus. Diese Aufseherinnen wurden unter den Frauen ausgesucht, die wegen gemeiner Delikte verurteilt waren, oder unter den öffentlichen Mädchen. Es waren meistens Deutsche, nur einige waren fremde Staatsangehörige. Durch Bestechung, Angeberei und Terror gelang es, diese Frauen in menschliche Bestien zu verwandeln, und die Häftlinge hatten unter ihnen ebensoviel zu leiden, wie unter den SS-Leuten selbst; sie haben uns genau so geschlagen wie die SS selbst. Hinsichtlich der SS ist zu sagen, daß die Männer sich ebenso wie die Frauen benahmen, und daß die Frauen ebenso wild waren wie die Männer. Es war kein Unterschied.
Das von der SS angewandte System der tiefsten Erniedrigung des Menschen, das diese unter dem Zwang des Terrors zu Taten trieb, die sie selbst erröten machen mußten, ließ sie nicht mehr als menschliche Wesen erscheinen. Das eben war ihr Ziel, und es gehörte viel Mut dazu, diesem Kreis des Terrors und der Bestechung zu widerstehen.
M. DUBOST: Wer hat die Strafen ausgeteilt?
VAILLANT-COUTURIER: Die SS-Führer, Männer und Frauen.
M. DUBOST: Worin bestanden diese Strafen?
VAILLANT-COUTURIER: Besonders in körperlichen Mißhandlungen. Eine der gebräuchlichsten Strafen waren 50 Stockschläge gegen die Nieren. Diese Stockhiebe wurden mit Hilfe einer Maschine verabreicht, die ich gesehen habe; es war ein Apparat von Schwengeln, den ein SS-Mann bediente. Es gab auch endlose Appelle bei Tag und Nacht oder Turnübungen: man mußte sich nach auf den Bauch legen und wieder aufstehen – auf und nieder – viele Stunden lang, und wenn man umfiel, wurde man geprügelt und zum Block 25 gebracht.
M. DUBOST: Wie haben sich die SS-Männer und die SS-Aufseherinnen gegenüber den Frauen benommen?
VAILLANT-COUTURIER: In Auschwitz gab es ein Bordell für die SS-Männer und auch für jene Häftlinge, die männlichen Funktionäre, die man Kapos nannte. Andererseits, wenn die SS-Leute Dienstpersonal brauchten, kamen sie mit der Oberaufseherin, das heißt der Lagerführerin, um sich Leute während der Desinfektion auszusuchen. Sie wählten irgend ein kleines junges Mädchen aus, das die Oberaufseherin aus der Reihe heraustreten ließ. Sie musterten es, machten Witze über sein Aussehen, und, wenn es hübsch war und ihnen gefiel, nahmen sie es mit Zustimmung der Oberaufseherin als Dienstmädchen mit. Die Oberaufseherin sagte dem Mädchen, daß es ihnen absolut gehorchen müßte, was immer von ihm verlangt würde.
M. DUBOST: Warum kamen sie während der Desinfektion?
VAILLANT-COUTURIER: Weil während der Desinfektion die Frauen nackt waren.
M. DUBOST: War dieses System der Demoralisierung und der Korruption eine Ausnahme?
VAILLANT-COUTURIER: Nein, in allen Lagern, in denen ich gewesen bin, wurde das gleiche System angewandt; ich habe mit Häftlingen aus mir unbekannten Lagern gesprochen, es war überall dasselbe. In allen Lagern war das System das gleiche. Es gab jedoch kleine Unterschiede. Ich glaube, Auschwitz war eins der härtesten. Aber ich bin in Ravensbrück gewesen, und auch dort gab es ein Bordell, und auch dort hat man weibliche Häftlinge ausgesucht.
M. DUBOST: Also, nach Ihren Angaben wurde alles getan, um sie vor sich selbst herabzusetzen.
VAILLANT-COUTURIER: Ja.
M. DUBOST: Was wissen Sie über den Judentransport, der ungefähr zu der gleichen Zeit wie Sie aus Romainville angekommen ist?
VAILLANT-COUTURIER: Als wir Romainville verließen, hatten wir die Jüdinnen zurückgelassen, die mit uns dort waren. Sie wurden nach Drancy verschickt, und schließlich kamen sie nach Auschwitz, wo wir sie drei Wochen später wiedersahen. Von 1200 bei der Abfahrt sind nur 125 im Lager angelangt. Die anderen sind sogleich in die Gaskammern gebracht worden, und von diesen 125 war nach einem Monat keine einzige mehr übrig.
Die Transporte wurden folgendermaßen durchgeführt: Zu Anfang, wenn wir ankamen, wenn ein Judentransport eintraf, fand eine Aussonderung statt. Zuerst die Greisinnen, die alten Frauen, die Mütter und die Kinder. Man hieß sie auf Lastwagen steigen, ebenso wie die Kranken oder jene, die schwach aussahen. Man nahm nur junge Mädchen, junge Frauen und junge Männer; letztere wurden in das Männerlager geschickt.
Im allgemeinen erreichten aus einem Transport von 1000 bis 1500 sehr selten mehr als 250 das Lager. Das war schon das Maximum, und der Rest von ihnen wurde gleich in die Gaskammer geschickt.
Bei dieser Aussonderung wurden auch gesunde Frauen zwischen 20 und 30 Jahren ausgewählt, die man in den Experimentierblock schickte. Mädchen und Frauen, die etwas älter waren, oder die nicht zu diesem Zweck ausgewählt worden waren, wurden in das Lager geschickt und genau wie wir rasiert und tätowiert.
Es gab während des Frühjahrs 1944 auch einen Block für Zwillinge. Das war zur Zeit, als ungeheure Transporte von ungarischen Juden ankamen, ungefähr 700000. Dr. Mengele, der die Versuche durchführte, behielt von allen Transporten die Zwillingskinder und Zwillinge jeden Alters zurück, vorausgesetzt, daß beide Zwillinge da waren. In diesem Block lagen Kinder und Erwachsene auf dem Boden. Ich weiß nicht, was, abgesehen von Blutabnahmen und Messungen, an ihnen versucht wurde.
M. DUBOST: Waren Sie Augenzeugin der Auswahl beim Eintreffen der Transporte?
VAILLANT-COUTURIER: Ja, denn als wir 1944 in dem Block der Näherinnen arbeiteten, lag unser Block, in dem wir wohnten, gegenüber der Ankunftsstelle der Züge. Man hatte das ganze Verfahren verbessert: Anstatt die Auswahl bei der Ankunftsstelle vorzunehmen, brachte ein Abstellgeleise den Zug fast bis zur Gaskammer, der Zug hielt also etwa 100 Meter vor der Gaskammer. Das war genau vor unserem Block, aber natürlich durch zwei Reihen Stacheldraht getrennt. Dann sahen wir, wie die Plomben von den Wagen entfernt und wie Frauen, Männer und Kinder von Soldaten aus den Wagen herausgeholt wurden. Wir wohnten den entsetzlichen Szenen bei, wenn alte Ehepaare von einander getrennt wurden. Mütter mußten ihre Mädchen verlassen, weil diese in das Lager zu gehen hatten, während die Mütter und Kinder in die Gaskammern gebracht wurden. Alle diese Leute wußten nichts von dem Schicksal, das ihrer wartete. Sie waren nur verwirrt, weil sie von einander getrennt wurden, aber wußten nicht, daß sie in den Tod gingen.
Um den Empfang angenehmer zu machen, spielte damals, das heißt im Juni und Juli 1944, ein aus Häftlingen gebildetes Orchester, alle hübsch und jung, Mädchen in weißen Blusen und dunkelblauen Röcken, während der bei der Ankunft der Züge getroffenen Auswahl lustige Weisen, wie »Die lustige Witwe«, die Barcarolle aus »Hoffmanns Erzählungen« und so weiter. Man sagte ihnen, es sei ein Arbeitslager, und da sie nicht in das Lager hineinkamen, sahen sie nur die kleine grünumrahmte Plattform, wo das Orchester spielte. Sie konnten nicht wissen, was sie erwartete.
Diejenigen, die für die Gaskammern ausgesucht worden waren, das heißt die alten Leute, Kinder und Mütter, wurden in ein rotes Ziegelgebäude geführt.
M. DUBOST: Diese wurden also nicht registriert?
VAILLANT-COUTURIER: Nein.
M. DUBOST: Sie wurden nicht tätowiert?
VAILLANT-COUTURIER: Nein, sie wurden nicht einmal gezählt.
M. DUBOST: Wurden Sie selbst tätowiert?
VAILLANT-COUTURIER: Ja.