[Das Gericht vertagt sich bis
29. Januar 1946, 10.00 Uhr.]
Fünfundvierzigster Tag.
Dienstag, 29. Januar 1946.
Vormittagssitzung.
GERICHTSMARSCHALL: Mit Erlaubnis des Gerichtshofes möchte ich mitteilen, daß der Angeklagte Kaltenbrunner infolge Krankheit bei der heutigen Vormittagssitzung nicht anwesend sein wird.
M. DUBOST: In meiner Eigenschaft als Vertreter der französischen Anklagebehörde möchte ich einen Wunsch aussprechen und den Gerichtshof bitten, diesem Antrag seine Aufmerksamkeit zu schenken. Unsere Zeugen, die gestern vernommen worden sind, sollen heute von der Verteidigung ins Kreuzverhör genommen werden. Die Bedingungen, unter denen sie sich hier aufhalten, sind ziemlich schwierig; für die Rückreise nach Paris benötigen sie dreißig Stunden. Wir möchten gern wissen, ob die Verteidigung wirklich die Absicht hat, sie ins Kreuzverhör zu nehmen. Wenn ja, möchten wir gern, daß die Verteidigung dies so schnell wie möglich veranlaßt, damit wir ihre Rückkehr nach Frankreich sicherstellen können.
VORSITZENDER: Mit Rücksicht auf Ihre gestrigen Äußerungen, Herr Dubost, habe ich im Namen des Gerichtshofes erklärt, daß Dr. Babel Gelegenheit haben soll, einen Ihrer Zeugen innerhalb der nächsten zwei Tage ins Kreuzverhör zu nehmen. Ist Herr Dr. Babel bereit, den Zeugen jetzt ins Kreuzverhör zu nehmen?
RA. BABEL: Herr Präsident, ich habe die Abschrift des Protokolls noch nicht erhalten und war also infolgedessen nicht in der Lage, das Kreuzverhör vorzubereiten. Die Zeit war natürlich auch zu kurz von gestern bis heute; ich kann jetzt eine bestimmte Erklärung, ob ich den Zeugen ins Kreuzverhör nehmen will, noch nicht abgeben. Wenn mir Gelegenheit gegeben würde, im Laufe des Tages das Protokoll zu erhalten...
VORSITZENDER: Dieser Zeuge, Herr Dubost, muß bis morgen Nachmittag hier bleiben, aber die anderen Zeugen können abreisen.
Herr Dubost, ich möchte bitten, das Erforderliche zu veranlassen, daß Dr. Babel eine Abschrift des Stenogramms so schnell wie möglich zur Verfügung gestellt wird.
M. DUBOST: Jawohl, Herr Vorsitzender, ich werde dies veranlassen.
[Der Zeuge François Boix; betritt wieder den Zeugenstand.]
M. DUBOST: Wir fahren jetzt fort. Der Gerichtshof wird sich daran erinnern, daß wir gestern abend sechs Photographien von Mauthausen vorgeführt haben, die uns von dem noch im Zeugenstand stehenden Zeugen übergeben und von ihm erläutert wurden. Der Zeuge hat namentlich angegeben, unter welchen Umständen die Photographie, die Kaltenbrunner im Steinbruch von Mauthausen zeigt, aufgenommen worden ist. Wir legen diese Photographien als französisches Dokument, RF-332, vor.
Erlauben Sie mir, noch eine Frage an den Zeugen zu richten, und dann werde ich mit ihm fertig sein, jedenfalls was das Wesentliche dieser Aussage betrifft. Zeuge, erkennen Sie unter den Angeklagten einige der Besucher des Lagers Mauthausen, die Sie dort während Ihrer Internierung gesehen haben?
BOIX: Speer.
M. DUBOST: Wann haben Sie ihn gesehen?
BOIX: Er kam 1943 ins Lager Gusen zwecks Ausführung von Bauten und sogar in den Steinbruch von Mauthausen. Ich habe ihn nicht selbst gesehen, weil ich im Identifizierungsdienst des Lagers war und nicht fortgehen konnte; aber während dieser Besuche hat der Dienststellenleiter Paul Ricken einen ganzen Leica-Film aufgenommen, den ich selbst entwickelt habe. Auf diesem Film habe ich Speer mit anderen SS-Führern, die mit ihm gekommen waren, wiedererkannt. Er war hell gekleidet, in heller Farbe.
M. DUBOST: Auf den Photos, die Sie entwickelt haben?
BOIX: Auf den Photographien habe ich ihn wieder erkannt, und nachher mußte man den Namen und das Datum aufschreiben, weil viele von der SS Sammlungen von allen Aufnahmen der Besucher im Lager haben wollten.
VORSITZENDER: Ich glaube, der Zeuge sprach etwas zu schnell. Ich glaube, er würde dies besser wiederholen.
M. DUBOST: Wollen Sie wiederholen, daß Sie Speer auf den von Ihnen entwickelten Photographien wiedererkannt haben?
BOIX: Ich habe Speer auf sechsunddreißig Photographien wiedererkannt, die von SS-Oberscharführer Paul Ricken 1943, während seines Besuches in Gusen und im Steinbruch von Mauthausen, aufgenommen worden sind. Er sah auf den Photographien immer sehr zufrieden aus. Es gab sogar Photographien, auf denen er mit einem herzlichen Händedruck den Obersturmbannführer Franz Ziereis beglückwünschte. Das war damals der Chef des Lagers Mauthausen.
M. DUBOST: Eine letzte Frage: Gab es in Ihrem Lager geistliche Fürsorge? Wie starben die Häftlinge, die geistlichen Beistand verlangten?
BOIX: Ich habe nicht verstanden.
M. DUBOST: Gab es Geistliche in diesem Lager?
BOIX: Ja, es gab dort nach meinen Beobachtungen mehrere, und zwar eine Organisation der deutschen Katholiken, die sich »Bibelforscher« nennt. Aber offiziell...
M. DUBOST: Aber gab ihnen die Lagerverwaltung offiziell die Erlaubnis, ihre Religion auszuüben?
BOIX: Nein, sie konnten nichts tun. Das war ihnen absolut verboten, sogar zu leben.
M. DUBOST: Sogar zu leben?
BOIX: Sogar zu leben.
M. DUBOST: Gab es dort katholische Geistliche oder protestantische Pastoren?
BOIX: Diese Art Bibelforscher waren fast alle Protestanten, aber ich verstehe mich nicht viel darauf.
M. DUBOST: Wie wurden die Geistlichen, die Priester und Pastoren behandelt?
BOIX: Sie wurden nicht anders behandelt wie wir, sie starben in derselben Weise wie wir. Sie wurden teils in die Gaskammern geschickt, teils erschossen, teils in eisiges Wasser getaucht; alle Mittel waren recht. Die SS behandelte sie auf besonders rohe Weise, weil sie wußten, daß diese Leute nicht so arbeiten konnten wie gewöhnliche Arbeiter. So machten sie es auch mit allen Intellektuellen aller Länder.
M. DUBOST: Hat man sie nicht ihre Religion ausüben lassen?
BOIX: Überhaupt nicht.
M. DUBOST: Hatten die Menschen, die starben, einen Geistlichen, bevor sie hingerichtet wurden?
BOIX: Überhaupt nicht. Manchmal, anstatt von jemandem ihres Glaubens, wie Sie sagen, getröstet zu werden, erhielten sie von dem Hinrichtungskommando selbst fünfundzwanzig bis fünfundsiebzig Schläge mit einem Ochsenziemer, manchmal vom SS-Obersturmbannführer selbst versetzt. Ich habe dies besonders bei einigen kriegsgefangenen russischen Offizieren, die politische Kommissare waren, beobachten können.
M. DUBOST: Ich habe keine weiteren Fragen an den Zeugen zu stellen.
GENERAL RUDENKO: Zeuge, sagen Sie mir bitte, was Sie über die Vernichtung russischer Kriegsgefangener wissen.
BOIX: Es ist unmöglich, daß ich alles sage, was ich weiß. Denn ich weiß so viele Dinge, daß ich in einem Monat nicht fertig werden würde.
GENERAL RUDENKO: Ich möchte Sie bitten, Zeuge, kurz auszuführen, was Sie über die Vernichtung von russischen Kriegsgefangenen im Lager Mauthausen wissen.
BOIX: Die Ankunft der ersten Kriegsgefangenen erfolgte im Jahre 1941. Man hatte die Ankunft von zweitausend russischen Kriegsgefangenen angekündigt. Es handelte sich um russische Kriegsgefangene. Man hat dieselben Vorsichtsmaßnahmen getroffen wie beim Eintreffen der republikanischen spanischen Kriegsgefangenen im Lager. Es wurden überall um die Baracken herum Maschinengewehre aufgestellt, und man bereitete sich auf das Schlimmste vor. Sobald die Kriegsgefangenen im Lager eingetroffen waren, sah man, daß sie sich in einem sehr schlechten Zustand befanden; sie konnten nicht einmal mehr hören. Sie waren menschliche Wracks. Da waren sie in Baracken – eintausendsechshundert Mann pro Baracke – untergebracht. Man muß dabei bedenken, daß es sich um Baracken mit einer Breite von sieben Metern und einer Länge von fünfzig Metern handelte. Die wenigen Kleidungsstücke, die sie noch bei sich hatten, wurden ihnen weggenommen. Sie durften nur eine Unterhose und ein Hemd behalten. Man muß sich vergegenwärtigen, daß sich dies im Monat November ereignete. In Mauthausen herrschte eine Kälte von mindestens zehn Grad unter Null.
Als sie ankamen, hatte es schon vierundzwanzig Tote allein auf dem Marsch von vier Kilometern vom Bahnhof bis zum Lager Mauthausen gegeben. Anfangs wurden sie der gleichen Behandlung unterworfen wie wir spanischen Republikaner. Man hatte uns in Ruhe gelassen, ohne Arbeit, ohne Beschäftigung. Man ließ sie also in Ruhe, jedoch fast ohne Nahrung. Nach Ablauf einiger Wochen waren sie bereits am Ende ihrer Kräfte. Dann fing man mit dem Auslesesystem an. Sie mußten unter den furchtbarsten Verhältnissen arbeiten. Sie wurden niedergeknüppelt, gehauen, geschlagen, beschimpft, und nach drei Monaten blieben von den siebentausend russischen Kriegsgefangenen, die von überall gekommen waren, nur mehr dreißig Überlebende übrig. Diese dreißig Überlebenden wurden in der Dienststelle von Paul Ricken für ein Dokument photographiert, und ich besitze diese Photos, um sie zeigen zu können, wenn der Gerichtshof es wünscht.
GENERAL RUDENKO: Sie haben Photos von diesen Gefangenen?
BOIX: Jawohl, ich habe sie Herrn Dubost gegeben.
GENERAL RUDENKO: Können Sie sie vorlegen?
BOIX: Herr Dubost hat sie.
GENERAL RUDENKO: Ich danke Ihnen. Was wissen Sie hinsichtlich der Jugoslawen und Polen?
BOIX: Die ersten kamen im Jahre 1939 ins Lager zur Zeit der Niederlage Polens. Sie haben dieselbe Behandlung wie alle anderen erfahren. Zu dem Zeitpunkt gab es dort nur deutsche Kriminelle, die damals mit der Vernichtungsarbeit begannen. Zehntausende von Polen sind dort unter den schlimmsten Verhältnissen gestorben. Aber was besonders beachtet werden muß, ist die Stellung der Jugoslawen. Die Jugoslawen kamen anfänglich in Transporten an, trugen Zivilkleider, und wurden dann, sozusagen, legal erschossen. Die SS-Leute setzten hierfür sogar die Stahlhelme auf und erschossen sie immer zu zweien. Der erste Transport bestand aus einhundertfünfundsechzig, der zweite aus einhundertachtzig, und dann waren die Gruppen kleiner: fünfzehn, fünfzig, sechzig, dreißig, und sogar Frauen waren dabei. Ich bitte zu beachten, daß unter den vier Frauen, die erschossen wurden – und das war der einzige Fall in den Deportiertenlagern – einige ihren Mördern ins Gesicht spuckten, bevor sie starben.
Die Jugoslawen haben gelitten wie nur wenige Menschen gelitten haben. Ihre Lage kann nur mit derjenigen der Russen verglichen werden. Bis zum Ende wurden sie mit allen Mitteln gefoltert. Ich würde gern noch etwas über die Russen sagen, weil sie vieles erlitten haben.
GENERAL RUDENKO: Schließe ich aus Ihrer Aussage richtig, daß dieses Konzentrationslager ein Vernichtungslager war?
BOIX: Das Lager gehörte zur letzten Stufe, der Stufe drei: Das war ein Lager, aus dem niemand wieder davonkommen sollte.
GENERAL RUDENKO: Ich habe keine weiteren Fragen mehr an Sie zu stellen.
VORSITZENDER: Wünscht der englische Anklagevertreter ein Kreuzverhör?
OBERST H. J. PHILLIMORE, HILFSANKLÄGER FÜR DAS VEREINIGTE KÖNIGREICH: Nein, keine Fragen.
VORSITZENDER: Und der amerikanische Anklagevertreter?
MR. THOMAS J. DODD, ANKLÄGER FÜR DIE VEREINIGTEN STAATEN: Nein, keine Fragen.
VORSITZENDER: Wünschen irgendwelche Verteidiger der Angeklagten ein Kreuzverhör vorzunehmen?
RA. BABEL: Herr Zeuge, wie waren Sie im Lager gekennzeichnet?
BOIX: Die Nummer? Welche Art der Markierung?
RA. BABEL: Nein, die Gefangenen waren in Farben gekennzeichnet, mit Sternen rot, grün, gelb und so weiter. War das in Mauthausen auch der Fall?
BOIX: Das waren keine Sterne, es waren Dreiecke und Buchstaben, die die Nationalität kennzeichneten. Die gelben und roten Sterne waren für die Juden, die Sterne mit sechs roten und gelben Zacken...
RA. BABEL: Welche Farbe trugen Sie?
BOIX: Ein blaues Dreieck mit dem Buchstaben »S«, das bedeutet: Spanischer politischer Flüchtling.
RA. BABEL: Waren Sie Kapo?
BOIX: Nein. Ich war zuerst Dolmetscher.
RA. BABEL: Was waren das für Aufgaben?
BOIX: Ich mußte all die barbarischen Dinge übersetzen, die die Deutschen den spanischen Gefangenen sagen wollten.
Dann bekam ich die Arbeit eines Photographen; nämlich die Filme und Photographien zu entwickeln, die überall im Lager aufgenommen wurden, um die Geschichte des Lagers festzuhalten.
RA. BABEL: Wie wurde es bei Besuchen gehandhabt? Kamen die Besucher nur in das innere Lager oder auch zu den Arbeitsstätten?
BOIX: Sie besuchten alle Lager. Es war unmöglich, daß sie nicht wußten, was im Lager passierte. Nur wenn es Besucher gab, Beamte oder Leute dieser Art aus Polen, Österreich, der Slowakei und allen diesen Ländern, dann ließ man sie nur die besten Stellen besuchen. Franz Ziereis sagte: »Sehen Sie«. Er holte dann die Köche, die deportierten Banditen, Verbrecher, die dick und fett waren, und er suchte sie heraus, um dann zu sagen, daß alle Deportierten so seien.
RA. BABEL: War es den Gefangenen verboten, sich untereinander über die Zustände im Lager irgendwelche Mitteilungen zu machen; nach auswärts natürlich ist es wohl kaum in Frage gekommen?
BOIX: Es war derart streng verboten, daß, wenn einer es doch tat, dies nicht nur seinen Tod, sondern furchtbare Unterdrückungsmaßnahmen für alle diejenigen zur Folge hatte, die der gleichen Nationalität angehörten.
RA. BABEL: Was haben Sie für Beobachtungen gemacht bezüglich der Kapos? Wie haben diese sich gegenüber ihren Mitgefangenen verhalten?
BOIX: Manchmal waren Sie würdig, SS-Leute zu sein. Um Kapo zu sein, mußte man Arier, reiner Arier sein, das soll heißen, daß sie kriegerische Allüren hatten, und wie die SS jedes Recht über uns besaßen, so durften auch sie uns wie Tiere behandeln. Die SS gab ihnen absolut freie Hand, mit uns allen zu machen, was sie wollten. So kam es, daß die Gefangenen und Deportierten bei der Befreiung alle Kapos, derer sie habhaft werden konnten, umgebracht haben.
Kurz vor der Befreiung baten die Kapos, sich freiwillig in die SS einreihen zu dürfen. Sie sind mit ihnen abgezogen, denn sie wußten, was ihrer wartete. Dessen ungeachtet haben wir sie überall gesucht und auf der Stelle umgebracht.
RA. BABEL: Sie sagten, sie »durften uns wie die Tiere behandeln«. Woraus schließen Sie, daß sie das durften?
BOIX: Man hätte blind sein müssen, um es nicht zu sehen, man konnte ihnen das ansehen. Es war viel besser, wie ein Mensch zu sterben als wie ein Tier zu leben. Sie haben wie Tiere, wie Wölfe und Verbrecher gelebt. Sie sind als solche bekannt.
RA. BABEL: Wollen Sie nochmals wiederholen; ich habe Sie nicht verstanden?
BOIX: Man mußte blind sein, um nicht zu sehen, was bei ihnen passierte. Ich bin viereinhalb Jahre dort gewesen und weiß sehr gut, was sie taten. Es gab viele unter uns, die die Gelegenheit hatten, für ihre Arbeit im Lager Kapo zu sein, weil sie auf irgendeinem Gebiet Spezialisten waren. Sie ließen sich aber lieber durchprügeln und, wenn es sein mußte, niedermetzeln, als daß sie Kapos wurden.
RA. BABEL: Danke.
VORSITZENDER: Wünscht irgendein anderer Verteidiger diesem Zeugen Fragen zu stellen?
Herr Dubost, wünschen Sie irgendwelche Fragen zu stellen?
M. DUBOST: Ich habe keine Fragen mehr, Herr Vorsitzender.
GENERAL RUDENKO: Herr Vorsitzender, der Zeuge hat uns mitgeteilt, daß er photographierte Dokumente über die dreißig sowjetischen Kriegsgefangenen in seinem Besitz habe, die von mehreren tausend Gefangenen in diesem Lager am Leben geblieben sind. Ich bitte den Herrn Vorsitzenden, dieses photographische Dokument dem Zeugen vorzulegen, damit er dem Gerichtshof erklären kann, daß das die Gruppe der sowjetischen Kriegsgefangenen ist.
VORSITZENDER: Selbstverständlich. Sie können dem Zeugen die Photographie vorlegen lassen, wenn sie zur Hand ist.
GENERAL RUDENKO: Jawohl. Herr Zeuge, können Sie diese Photographie vorzeigen?