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[Pause von 10 Minuten.]

VORSITZENDER: Fahren Sie bitte fort.

M. DUBOST: Herr Cappelen, wollen Sie bitte mit der Erzählung Ihrer Lagerzeit fortfahren und uns insbesondere sagen, was Sie vom Lager Natzweiler wissen, und über die Tätigkeit des Dr. Hirt, Hirsch oder Hirtz von der deutschen medizinischen Fakultät Straßburg.

CAPPELEN: In Natzweiler wurden auch Experimente durchgeführt. Unmittelbar neben dem Lager war ein Gut, das Struthof hieß. Es war eigentlich ein Teil des Lagers. Einige der Gefangenen mußten dort arbeiten, und zwar die Zimmer reinigen; nicht sehr häufig, aber gelegentlich wurden sie beim Appell herausgerufen. Ich erinnere mich zum Beispiel, daß eines Tages alle Zigeuner herausgerufen und dann nach dem Struthof gebracht wurden. Sie hatten große Angst davor.

Einer meiner Freunde, ein Norweger namens Hviddling, war im Krankenhaus, dem sogenannten Lagerkrankenhaus, beschäftigt; er erzählte mir einen Tag, nachdem die Zigeuner zum Struthof gebracht worden waren: »Ich will Ihnen etwas sagen. Soviel ich weiß, haben sie irgendein Gas an ihnen ausprobiert.«

Ich fragte: »Woher wissen Sie das?«

»Gut, kommen Sie 'mal mit mir.«

Und dann konnte ich durch das Fenster des Krankenhauses vier dieser Zigeuner im Bett liegen sehen. Sie sahen nicht gut aus; es war nicht so einfach, durch das Fenster zu sehen, aber ich glaube, sie hatten etwas Schleim um den Mund. Er sagte mir – Hviddling erzählte mir, daß die Zigeuner nicht viel reden könnten, weil sie so krank seien. Aber soviel er wüßte, handle es sich um Gas, das man bei ihnen angewandt habe. Es seien zwölf gewesen, soweit Hviddling wußte, unten auf dem Struthof gestorben.

Hviddling sagte weiter zu mir: »Sehen Sie diesen Mann, der manchmal mit anderen Leuten durch das Lager geht?«

»Ja, ich habe ihn gesehen«, sagte ich.

»Das ist Professor Hirtz von der deutschen Universität in Straßburg.«

Ich bin ganz sicher, daß Hviddling sagte, dieser Mann heiße Hirt oder Hirtz. Er käme jetzt fast jeden Tag mit einer sogenannten Kommission hierher, um sich die Leute anzusehen, die vom Struthof zurückkommen, um die Ergebnisse zu beobachten.

Das ist alles, was ich hierüber weiß.

M. DUBOST: Wieviele Norweger sind in Groß- Rosen gestorben?

CAPPELEN: Für Groß-Rosen kann ich die genaue Zahl nicht angeben. Ich kenne aber ungefähr vierzig Leute, die dort waren, und ich kenne ungefähr zehn, die zurückgekommen sind, Groß-Rosen war ein übles Lager. Aber wohl das schlimmste war die Evakuierung von Groß-Rosen. Ich nehme an, es muß ungefähr Mitte Februar dieses Jahres gewesen sein. Die Russen rückten näher und näher an Breslau heran.

VORSITZENDER: Sie meinen 1945?

CAPPELEN: 1945 meine ich, entschuldigen Sie, 1945.

Eines Tages wurden wir auf einem sogenannten »Appellplatz« zusammengebracht. Wir waren alle sehr schwach; wir hatten schwer zu arbeiten, wenig zu essen und alle Arten von Mißhandlungen zu erdulden. Wir fingen an, in Gruppen von ungefähr 2000 bis 3000 Mann zu marschieren. In meiner Gruppe befanden sich ungefähr 2500 bis 2800 Personen. Wir hörten beim Abzählen, daß es so und so viele waren.

Wir fingen an zu marschieren; wir waren auf beiden Seiten von SS-Posten bewacht. Diese waren sehr nervös und benahmen sich beinahe wie Verrückte. Manche waren betrunken. Wir konnten nicht schnell genug marschieren. Da nahmen sie ihre Gewehre und schlugen die Köpfe von fünf Leuten ein, die das Tempo nicht halten konnten; dazu sagten sie auf deutsch: »So geht es, wenn man nicht vernünftig marschiert.« Die anderen wären ebenso behandelt worden, wenn sie nicht mitgekommen wären.

Wir marschierten so gut wir nur konnten. Wir versuchten einander zu helfen, aber wir waren alle zu schwach. Nach ungefähr sechs bis acht Stunden erreichten wir endlich eine Station, eine Eisenbahnstation. Es war sehr kalt, und wir hatten nur die gestreiften Gefangenenanzüge an und schlechte Schuhe. Trotzdem sagten wir: »Oh, wir freuen uns, daß wir eine Eisenbahnstation erreicht haben. Es ist besser, in einem Viehwagen zu stehen, als mitten im Winter zu marschieren.« Es war sehr kalt, 10 bis 12 Grad unter Null, glaube ich, sehr kalt. Es war ein langer Zug mit offenen Wagen. In Norwegen bezeichnen wir sie als Sandwagen. Wir wurden mit Fußtritten auf diese Wagen getrieben, ungefähr achtzig Mann auf jeden Wagen. Wir mußten zusammensitzen und saßen auf diesen Wagen ungefähr fünf Tage, ohne Essen, frierend, und ohne Wasser. Wenn es schneite, machten wir es so (der Zeuge zeigt es), nur um etwas Wasser in den Mund zu bekommen. Nach einer langen, langen Zeit, es schien mir als wären es Jahre, kamen wir zu einem Ort, der, wie ich später erfuhr, Dora war, nahe bei Buchenwald.

Also wir kamen dort an; sie stießen uns mit den Füßen von den Wagen herunter, aber viele waren tot. Der Mann, der neben mir saß, war tot, aber ich durfte nicht weg. So mußte ich dort den letzten Tag neben einem Toten sitzen. Ich habe die Ziffern natürlich nicht selbst gesehen, aber ungefähr ein Drittel oder die Hälfte von uns waren tot. Und sie sagten, daß ein Drittel – ich hörte die Zahl später in Dora –, daß die Zahl der Toten auf unserem Zug sich auf 1447 belief.

An Dora erinnere ich mich nicht so viel, da ich mehr oder weniger tot war. Ich war immer ein Mann mit gutem Humor und guter Laune, der sich selbst und seinen Freunden half, aber ich hatte beinahe aufgegeben.

Ich kann mich an vieles nicht mehr erinnern. Ich hatte Glück, da die Aktion Bernadotte kam, und wir wurden befreit und nach Neuengamme bei Hamburg gebracht. Dort fand ich einige meiner alten Freunde wieder, Studenten aus Norwegen, die nach Deutschland deportiert worden waren, und andere Gefangene, die von Sachsenhausen und anderen Lagern kamen, verhältnismäßig wenig norwegische »NN«-Gefangene, die noch am Leben waren und sich alle in einem sehr schlechten Zustand befanden. Viele meiner Freunde sind noch in Norwegen im Krankenhaus. Einige starben, nachdem sie nach Hause kamen.

Das ist, was ich und meine Kameraden in dreidreiviertel Jahren Gefangenschaft erlebt haben.

Ich bin mir vollkommen darüber klar, daß es für mich unmöglich ist, noch mehr Einzelheiten anzugeben. Ich habe aber sozusagen die Teile herausgenommen, die hoffentlich veranschaulichen, wie sich die deutsche SS gegen die Norweger und in Norwegen benommen hat.

M. DUBOST: Aus welchem Grunde wurden Sie verhaftet?

CAPPELEN: Ich bin am 29. November 1941 in einem Ort verhaftet worden, der damals Hoistly hieß. Das ist eine Art Sanatorium, wohin man zum Skifahren geht.

M. DUBOST: Was warf man Ihnen vor?

CAPPELEN: Was ich getan habe? Wie die meisten von uns Norwegern betrachteten wir uns auf diese oder jene Art als im Kriegszustand mit Deutschland befindlich. Natürlich waren die meisten von uns gefühlsmäßig gegen sie, und auch als mich die Gestapo fragte: »Was halten Sie von Herrn Quisling?« antwortete ich nur: »Was hätten Sie getan, wenn ein deutscher Offizier, und sei es auch ein Major, käme und, während Ihr Land sich im Kriege befand und Ihre Regierung einen Mobilmachungsbefehl gegeben hatte, sagte: ›Vergiß lieber den Mobilmachungsbefehl?‹ Ein Mann kann das nicht mit Anstand tun.«

M. DUBOST: Hat die deutsche Bevölkerung im allgemeinen gewußt, was in den Lagern vorging oder nicht?

CAPPELEN: Diese Frage läßt sich verständlicherweise von mir aus schwer beantworten. Aber in Norwegen, selbst zu der Zeit, als ich verhaftet wurde, wußten wir wenigstens schon sehr viel darüber, wie die Deutschen ihre Gefangenen behandelten. Ich kann mich an eine Sache in München erinnern, wo ich arbeitete, nein, ich arbeitete nicht, ich war in Dachau während dieser kurzen Zeit. Ich wurde einmal zusammen mit einigen anderen nach München gebracht, um in den Ruinen nach Toten zu suchen, Bomben aufzuspüren und dergleichen. Ich glaube, das war der Zweck. Man sagte es uns nie, aber wir wußten, was los war. Wir waren ungefähr einhundert Gefangene. Wir alle sahen aus wie lebende Leichname. Wir marschierten durch die Straßen, und die Leute konnten uns sehen; sie konnten auch sehen, was für Arbeit wir verrichten sollten. Man konnte sich denken, daß sie sehr gefährlich war, und daß sie ihnen in gewisser Weise helfen sollte. Aber sie freuten sich nicht, uns zu sehen. Einige beschimpften uns: »Es ist Eure Schuld, daß wir bombardiert werden.«

M. DUBOST: Gab es Geistliche in Ihren Lagern? War es ihnen erlaubt, Andachten abzuhalten?

CAPPELEN: Nun, wir hatten unter den »NN«-Gefangenen in Natzweiler einen Priester aus Norwegen. Ich glaube, er war, was Sie auf Englisch Dean (Dekan) nennen, stand also in ziemlich hohem Range; im Norwegischen sagen wir »Prost«. Er kam von der Westküste Norwegens. Er wurde ebenfalls als »NN«-Gefangener nach Natzweiler überführt. Einige meiner Kameraden fragten ihn, ob sie nicht gelegentlich zusammenkommen könnten, so daß er ihnen eine Predigt halten könnte. Er sagte aber: »Nein, ich habe nicht den Mut, das zu tun. Ich hatte eine Bibel; die haben sie mir fortgenommen und darüber Witze gemacht und mich einen dreckigen Priester genannt.« Wenn man die Bibel oder derartige Dinge zeigt, wissen Sie ja; wir unternahmen also nichts in dieser Richtung.

M. DUBOST: Haben diejenigen von Ihnen, die starben, in der Sterbestunde die Tröstungen ihrer Religion erhalten?

CAPPELEN: Nein.

M. DUBOST: Wurden die Toten anständig behandelt?

CAPPELEN: Nein.

M. DUBOST: Gab es einen Gottesdienst?

CAPPELEN: Nein.

M. DUBOST: Ich habe keine weiteren Fragen zu stellen.

VORSITZENDER: Hat der sowjetische Delegierte eine Frage zu stellen?

GENERAL RUDENKO: Ich habe keine Fragen mehr zu stellen.

VORSITZENDER: Der amerikanische Anklagevertreter?