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[Der Zeuge verläßt den Zeugenstand.]

M. DUBOST: Wenn es der Gerichtshof erlaubt, können wir jetzt den Zeugen Roser anhören, der einige Angaben über die Bedingungen machen wird, unter denen die französischen Kriegsgefangenen in den Vergeltungslagern lebten.

[Der Zeuge betritt den Zeugenstand.]

VORSITZENDER: Wie heißen Sie?

ZEUGE PAUL ROSER: Paul Roser.

VORSITZENDER: Schwören Sie, ohne Haß und Furcht zu sprechen, die Wahrheit zu sagen, die ganze Wahrheit, nichts als die Wahrheit. Heben Sie die rechte Hand und sprechen Sie: »Ich schwöre.«

[Der Zeuge spricht die Eidesformel in französischer Sprache nach.]

VORSITZENDER: Sie können sich setzen.

M. DUBOST: Sie heißen Paul Roser?

ROSER: Ja.

M. DUBOST: Ihr Name wird R-o-z-e-r geschrieben?

ROSER: R-o-s-e-r.

M. DUBOST: Sie sind geboren...

ROSER: Am 8. Mai 1903 in Pantin.

M. DUBOST: Sind Sie französischer Staatsangehöriger?

ROSER: Ja.

M. DUBOST: Stammen Sie von französischen Eltern ab?

ROSER: Ja, von französischen Eltern.

M. DUBOST: Sind Sie Kriegsgefangener gewesen?

ROSER: Ja.

M. DUBOST: Sind Sie im Kampf gefangengenommen worden?

ROSER: Ja.

M. DUBOST: In welchem Jahre?

ROSER: Am 14. Juni 1940.

M. DUBOST: Haben Sie versucht zu fliehen?

ROSER: Ja, mehrere Male.

M. DUBOST: Wie oft?

ROSER: Fünfmal.

M. DUBOST: Fünfmal?

ROSER: Ja, fünfmal.

M. DUBOST: Sie wurden schließlich in ein Straflager versetzt?

ROSER: Ja.

M. DUBOST: Wollen Sie uns die Verhältnisse in diesem Straflager schildern. Geben Sie bitte Ihren Rang an, und schildern Sie die Behandlung, der man Franzosen Ihres Ranges in diesen Straflagern unterwarf und aus welchen Gründen.

ROSER: Jawohl. Ich war Offiziersanwärter; das ist in Frankreich ein Rang zwischen Oberfeldwebel und Leutnant. Ich war in mehreren Straflagern. Das erste war ein kleines Lager, das die Deutschen Strafkommando nannten, Linzburg in Hannover. Das war im Jahre 1941; wir waren ungefähr dreißig Mann dort. Während meines Aufenthaltes bei diesem Kommando im Sommer 1941 haben wir versucht zu fliehen. Im Augenblick des Ausbruchs wurden wir von unseren Wächtern wieder ergriffen. Wir hatten natürlich keine Waffen. Der erste von uns, der wieder ergriffen wurde...

VORSITZENDER: Sie sprechen viel zu schnell für uns; wir können Ihnen nicht folgen. Wollen Sie jetzt bitte langsamer fortfahren?

ROSER: Jawohl.

Die Deutschen, unsere Wachtmannschaften, hatten einen von uns wieder erwischt und wollten ihn veranlassen, diejenigen anzuzeigen, die ebenfalls fliehen wollten. Der Mann sagte nichts. Die Wachtposten stürzten sich auf ihn, schlugen ihn mit Revolverkolben, mit Bajonetten und mit Gewehrkolben ins Gesicht. In diesem Augenblick traten mehrere von uns vor, da wir unseren Kameraden nicht totschlagen lassen wollten, und meldeten sich. Ich bekam dann mehrere Bajonettschläge auf den Kopf und wurde ohnmächtig. Als ich wieder zu mir kam, hatte sich einer der Deutschen auf mein Bein niedergekniet und schlug weiter, ein anderer hob sein Gewehr und versuchte, meinen Kopf zu treffen. Ich wurde bei dieser Gelegenheit nur durch das Dazwischentreten meiner Kameraden gerettet, die sich zwischen die Deutschen und mich warfen. In jener Nacht wurden wir genau drei Stunden lang verprügelt, mit Gewehrkolben, Bajonetten und Revolvern ins Gesicht. Ich habe dreimal das Bewußtsein verloren. Am nächsten Morgen hat man uns trotzdem zur Arbeit geführt. Wir hoben im Moor Entwässerungsgräben aus. Das war eine sehr harte Arbeit, die von 6.30 Uhr morgens bis 6.00 Uhr abends andauerte. Wir machten zwei Pausen von etwa je einer halben Stunde. Wir hatten während des ganzen Tages nichts zu essen. Wenn wir abends zurückkamen, erhielten wir eine Suppe und ein Stück Brot, ein kleines Stückchen Wurst oder zwei Kubikzentimeter Margarine; das war alles.

Auf Grund unseres Fluchtversuchs enthielten uns unsere Wächter einen Monat lang alle Pakete vor, die uns unsere Familien schickten. Wir durften nicht schreiben und auch keine Briefe empfangen.

Nach dreieinhalb Monaten, im September 1941, wurden wir in gewöhnliche Kommandos verlegt. Ich selbst war damals sehr krank und kam zum Stalag X B in Sandbostel zurück.

M. DUBOST: Warum wurden Sie einer besonderen Behandlung unterworfen, obgleich Sie Offiziersanwärter waren?

ROSER: Sicherlich auf Grund meiner Fluchtversuche.

M. DUBOST: Hatten Sie sich bereiterklärt zu arbeiten?

ROSER: Nein, ich hatte mich wie alle meine Kameraden, die Offiziersanwärter waren, und die Mehrzahl der Unteroffiziere geweigert, zu arbeiten, indem ich mich auf die Bestimmungen des Genfer Abkommens berief, das Deutschland unterzeichnet hatte. Dieses Abkommen sieht vor, daß die gefangenen Unteroffiziere ohne ihre Zustimmung nicht zur Arbeit herangezogen werden können. Die Deutsche Wehrmacht, in deren Händen wir uns befanden, hat sozusagen niemals diese von Deutschland eingegangene Verpflichtung eingehalten.

M. DUBOST: Wissen Sie etwas von den Hinrichtungen, die im Oflag II B vorgekommen sein sollen?

ROSER: Ich wußte von dem Tod mehrerer französischer oder alliierter Gefangener, insbesondere im Oflag II in Großborn in Pommern. Der französische Leutnant Robin, der mit mehreren Kameraden einen Fluchtversuch vorbereitet und zu diesem Zwecke einen Tunnel ausgegraben hatte, wurde auf folgende Art und Weise getötet: Nachdem die Deutschen von dem vorbereiteten Tunnel erfahren hatten, paßte Hauptmann Buchmann, der zum Lagerstamm gehörte, den Ausbruch der Flüchtenden mit einigen deutschen Wachtmannschaften ab. Leutnant Robin, der als erster aus dem Tunnel herauskam, wurde durch einen Schuß getötet, obwohl er offensichtlich in keiner Weise jemanden angreifen oder sich verteidigen konnte.

Auch andere Fälle dieser Art sind vorgekommen. Einer meiner Freunde, der französische Leutnant Ledoux, wurde zur Festung Graudenz geschickt, wo er einem schrecklichen Strafverfahren unterzogen wurde. Er mußte zusehen, wie sein bester Freund, der britische Leutnant Anthony Thompson, vom Hauptfeldwebel Ostreich durch einen Genickschuß in ihrer Zelle umgebracht wurde. Leutnant Thompson hatte gerade einen Fluchtversuch unternommen und war von den Deutschen auf dem Flugplatz wieder festgenommen worden. Leutnant Thompson gehörte der RAF an.

Ich möchte auch sagen, daß im Lager Rawa-Ruska in Galizien, wo ich mich fünf Monate aufgehalten habe, mehrere unserer Kameraden...

M. DUBOST: Wollen Sie uns sagen, warum Sie in Rawa-Ruska waren?

ROSER: Im Laufe des Winters 1941/42 wollten die Deutschen erstens die die Arbeit verweigernden Unteroffiziere, zweitens die, die Fluchtversuche gemacht hatten, und drittens die in Kommandos eingesetzten Männer, die bei Sabotageakten ertappt worden waren, einschüchtern. Die Deutschen teilten uns mit, daß vom 1. April 1942 an alle Flüchtlinge, die wieder ergriffen würden, in ein sogenanntes Straflager nach Rawa-Ruska in Polen überführt würden.

Auf Grund eines weiteren Fluchtversuches wurde ich mit ungefähr 2000 Franzosen nach Polen verschickt. Ich befand mich in Limburg an der Lahn, Stalag 12 A, wo wir neu zusammengestellt und in Eisenbahnwaggons verladen wurden. Man nahm uns die Regenmäntel, Stiefel und Lebensmittel, die einige von uns aufbewahrt hatten, weg. Wir wurden in Waggons verladen, dreiundfünfzig bis sechsundfünfzig Mann je Waggon. Die Reise dauerte sechs Tage. Gewöhnlich wurden die Waggons nur einige Minuten aufgemacht, während der Zug auf freier Strecke hielt. Man hat uns in sechs Tagen zweimal Suppe gegeben, einmal in Oppeln und einmal in Jaroslaw, und diese Suppe war ungenießbar. Während dieser Reise bekamen wir sechsunddreißig Stunden lang nichts zu trinken. Es war unmöglich, sich Wasser zu verschaffen, da wir keine Behälter bei uns hatten. Als wir am 1. Juni 1942 in Rawa-Ruska ankamen, trafen wir dort hauptsächlich französische Gefangene an, die sich dort bereits seit einigen Wochen befanden. Sie waren äußerst niedergeschlagen. Die Verpflegung war viel schlechter als alles, was wir bisher erlebt hatten, und an niemanden waren Pakete von seiner Familie oder vom Internationalen Roten Kreuz ausgegeben worden. Zu jener Zeit waren wir 12000 bis 13000 in diesem Lager. Für diese Anzahl gab es einen Wasserhahn, der einige Stunden am Tage untrinkbares Wasser abgab. Dieser Zustand dauerte bis zum Besuch zweier Schweizer Ärzte an, die, glaube ich, im September ins Lager kamen. Wir waren in vier Kasernen untergebracht, in denen die einzelnen Räume bis zu sechshundert Mann aufnehmen mußten. Wir waren auf dreistöckigen Pritschen zusammengepfercht, mit ungefähr 35 bis 40 Zentimetern Platz für jeden einzelnen.

Während unseres Aufenthalts in Rawa-Ruska wurden zahlreiche Fluchtversuche unternommen, über fünfhundert in sechs Monaten. Mehrere unserer Kameraden fielen dabei. Einige wurden in dem Augenblick tödlich getroffen, in dem ein Wachtposten sie wahrnahm. Trotz dieser für uns so traurigen Ereignisse bestritt keiner von uns das Recht unserer Wachtposten, in solchen Fällen zu schießen. Aber mehrere wurden ermordet. So wurde namentlich am 12. August 1942 der Soldat Lavesque beim Kommando Tarnopol mit mehreren Schuß- und weiten Bajonettwunden aufgefunden.

Beim Kommando Verciniec entwichen am 14. August 93 Franzosen, denen es gelungen war, einen Tunnel zu graben. Drei von ihnen, Conan, van den Boosch und Poutrelle wurden von deutschen Soldaten, die sie suchten, überrascht. Zwei von ihnen schliefen, der dritte, Poutrelle, schlief nicht. Die Deutschen, ein Gefreiter und zwei Mann, stellten die Personalien der drei Franzosen sehr ruhig und ohne Geschrei fest. Dann erklärten sie ihnen: »Jetzt sind wir verpflichtet, Euch zu erschießen.« Die drei Unglücklichen baten wegen ihrer Familien um Gnade. Der deutsche Gefreite gab zur Antwort, was wir allzu oft gehört haben: »Befehl ist Befehl.« Sie schossen zwei der französischen Gefangenen sofort nieder, Conan und van den Boosch. Poutrelle lief wie ein Wahnsinniger davon, und dank eines glücklichen Zufalls konnte er nicht wieder eingeholt werden. Wenige Tage später wurde er jedoch in der Gegend von Krakau wieder erwischt. Er wurde dann nach Rawa- Ruska zurückgebracht, wo wir ihn in einem an Wahnsinn grenzenden Zustand gesehen haben.

Beim Kommando Stryj war am 14. August eine Gruppe von ungefähr zwanzig Gefangenen von mehreren Wachtmannschaften auf dem Wege zur Arbeit begleitet.

M. DUBOST: Entschuldigen Sie bitte, es handelt sich um französische Kriegsgefangene?

ROSER: Jawohl, im vorliegenden Fall um französische Kriegsgefangene. Ein deutscher Unteroffizier, der zwei von ihnen, Pierrel und Ondiviella, schon seit einiger Zeit verfolgte, führte diese beiden, als sie an einem Wald entlanggingen, mit in den Wald. Einige Augenblicke später hörten die anderen Schüsse. Pierrel und Ondiviella waren gerade erschossen worden.

Am 20. September 1942, ebenfalls in Stryj, arbeitete ein Kommando unter der Aufsicht deutscher Soldaten und deutscher ziviler Vorarbeiter. Einem Franzosen gelang es, zu entkommen. Ohne lange abzuwarten, suchte sich der deutsche Unteroffizier zwei Leute aus – wenn ich mich recht erinnere, hießen sie Saladin und Duboeuf – und schoß sie auf der Stelle nieder. Zwischenfälle dieser Art sind auch noch bei anderen Gelegenheiten vorgekommen. Es wäre eine lange Liste.

M. DUBOST: Können Sie die Zustände beschreiben, die bei den widerspenstigen, das heißt, den arbeitsunwilligen Unteroffizieren herrschten, die mit Ihnen in Rawa-Ruska waren?

ROSER: Die Unteroffiziere, die sich weigerten zu arbeiten, wurden in einem Teil des Lagers zusammengebracht, und zwar in zwei sehr großen Pferdeställen, die als Unterkunft dienten. Sie wurden unter scharfem Druck gehalten, häufiges Antreten; Appelle, Übungen mit »Hinlegen – auf«. Das ist eine Übung, die einen nach einer gewissen Zeit fertig macht.

Eines Tages, als sich der französische Unteroffizier Corbihan dem Hauptmann Fournier gegenüber weigerte, ein Werkzeug für die Arbeit zur Hand zu nehmen, machte der deutsche Hauptmann ein Zeichen, und einer der deutschen Soldaten, die bei ihm waren, durchbohrte Corbihan mit seinem Bajonett. Corbihan entging dem Tode nur durch ein Wunder.

M. DUBOST: Wieviele verschwanden dort?

ROSER: Während der fünf Monate, die ich in Rawa- Ruska zubrachte, haben wir ungefähr sechzig Kameraden beerdigt, die an Krankheit gestorben oder bei Fluchtversuchen gefallen waren. Bis heute konnten jedoch ungefähr einhundert von denen, die mit uns waren, und die dort zu fliehen versucht hatten, nicht wieder aufgefunden werden.

M. DUBOST: Ist das alles, was Sie bezeugen können?

ROSER: Nein. Ich muß sagen, daß es beim Aufenthalt im Straflager Rawa-Ruska noch etwas gab, was noch schlimmer war als das, was wir Gefangene gesehen und erlitten haben. Wir waren erfüllt von all dem, was, wie wir wußten, um uns herum geschah. Die Deutschen hatten die Gegend von Lemberg-Rawa- Ruska in eine Art Riesenghetto verwandelt. Man hatte in dieses Gebiet, wo die Juden bereits sehr zahlreich waren, Juden aus allen Ländern Europas gebracht. Jeden Tag, fünf Monate lang – mit Ausnahme einer Unterbrechung von ungefähr sechs Wochen im August und September 1942 – sahen wir ungefähr einhundertfünfzig Meter von unserem Lager entfernt, einen, zwei und manchmal drei Güterzüge vorbeifahren, vollgepfropft mit Männern, Frauen und Kindern. Eines Tages rief uns eine Stimme aus einem dieser Wagen zu: »Ich bin aus Paris, wir fahren zum Schlachthaus.«

Sehr häufig fanden Kameraden, die aus dem Lager herauskamen, um zur Arbeit zu gehen, längs der Eisenbahnschienen Leichen liegen. Wir wußten damals vage, daß diese Züge in Belcec anhielten, einem Ort, der ungefähr siebzehn Kilometer von unserem Lager entfernt war, und daß man dort diese unglücklichen Menschen mit Mitteln, die ich nicht kenne, umbrachte.

Eines Nachts, im Juli 1942, hörten wir die ganze Nacht hindurch Maschinengewehrfeuer und das Schreien von Frauen und Kindern. Am nächsten Morgen gingen Streifen deutscher Soldaten durch die Roggenfelder direkt bei unserem Lager, mit gesenkten Bajonetten, und suchten sich versteckt haltende Leute. Diejenigen von unseren Kameraden, die an diesem Tage zur Arbeit herauskamen, erzählten uns, daß sie überall in der Stadt Leichen gesehen hätten, in den Rinnsteinen, in Scheunen und Häusern. Später haben uns einige von unseren Wachtmannschaften, die an der Aktion teilgenommen hatten, selbstgefällig erklärt, daß 2000 Juden in jener Nacht getötet worden seien, mit der Begründung, daß zwei SS-Männer in dieser Gegend ermordet worden wären.

Später, im Jahre 1943, und zwar während der ersten Juniwoche, fand in Lemberg ein Pogrom statt, der 30000 Juden das Leben kostete. Ich war nicht persönlich in Lemberg anwesend. Mehrere französische Militärärzte jedoch, der Oberstabsarzt Guiguet und Oberarzt Levin, haben mir diese Vorkommnisse erzählt.

VORSITZENDER: Es scheint, daß die Aussagen des Zeugen noch nicht beendet sind. Ich glaube daher, daß es besser ist, wenn wir uns jetzt auf 14.00 Uhr vertagen.