[Das Gericht vertagt sich bis 14.00 Uhr.]
Nachmittagssitzung.
GERICHTSMARSCHALL: Hoher Gerichtshof! Ich gebe bekannt, daß der Angeklagte Kaltenbrunner bei der heutigen Nachmittagssitzung nicht anwesend sein wird.
M. DUBOST: Mit Erlaubnis des Gerichtshofs werden wir das Verhör des Zeugen Roser fortsetzen.
M. DUBOST: Herr Roser, Sie haben uns am Schluß der heutigen Vormittagssitzung auseinandergesetzt, unter welchen Bedingungen Sie dem Pogrom von Rawa-Ruska beiwohnten, und Sie wollten uns Angaben über einen weiteren Pogrom machen. Sie haben uns erklärt, daß ein Soldat, der an diesem Pogrom teilgenommen hatte, vor Ihnen davon gesprochen hatte. Stimmt das?
ROSER: Jawohl.
M. DUBOST: Er hat Ihnen eine Erklärung gegeben, die Sie wiedergeben wollen.
ROSER: Jawohl.
M. DUBOST: Dann, bitte...
ROSER: Ende 1942 war ich wieder nach Deutschland gebracht worden und hatte dort Gelegenheit, zusammen mit einem französischen Arzt den Chauffeur des deutschen Chefarztes des Krankenreviers zu treffen, in dem ich mich damals befand. Dieser Soldat, dessen Namen ich vergessen habe, hat mir folgendes erzählt: In einer polnischen Stadt, deren Namen ich ebenfalls vergessen habe, hat ein Unteroffizier unseres Regiments Beziehungen zu einer Jüdin gehabt. Einige Stunden später wurde er tot aufgefunden. Hierauf, so erzählte der deutsche Soldat, hat mein ganzes Bataillon antreten müssen. Die eine Hälfte umstellte das Ghetto, während die andere Hälfte, zwei Kompanien, zu denen ich gehörte, in das Haus eindrang und die Möbel mitsamt den Bewohnern zu den Fenstern hinauswarf. Der deutsche Soldat schloß seine Erzählung mit folgenden Worten: Armer Mann, schrecklich, furchtbar! Wir fragten ihn darauf: Wie konnten Sie nur so etwas tun? Er antwortete resigniert: Befehl ist Befehl. Das ist das Beispiel, das ich vorher erwähnte.
M. DUBOST: Als Sie von Rawa-Ruska sprachen, erwähnten Sie, wenn ich mich recht erinnere, die Behandlung der russischen Gefangenen, die sich vor Ihnen in diesem Lager befanden?
ROSER: Jawohl. Der ersten französischen Abteilung, die in Rawa-Ruska am 14. oder 15. April 1942 ankam, folgte eine Gruppe von 400 russischen Kriegsgefangenen, die Überlebenden einer Gruppe von 6000 Mann, die der Typhus dezimiert hatte.
Die wenigen Arzneimittel, die die französischen Ärzte bei ihrer Ankunft in Rawa-Ruska vorfanden, stammten aus dem Revier der russischen Kriegsgefangenen. Es waren einige Aspirintabletten und verschiedene andere Arzneimittel, jedoch nicht das geringste zur Behandlung von Typhus. Zwischen dem Weggang der kranken Russen und der Ankunft der Nachfolger hat keinerlei Desinfizierung des Lagers stattgefunden.
Ich kann hier nicht von diesen unglücklichen russischen Überlebenden von Rawa-Ruska sprechen, ohne den Gerichtshof um Erlaubnis zu bitten, Ihnen den furchtbaren Anblick zu beschreiben, der sich uns allen, ich meine allen französischen Gefangenen, die sich im Herbst oder Winter 1941 in den deutschen Stalags befanden, bot, als die ersten Transporte mit russischen Kriegsgefangenen ankamen. Ich persönlich habe dies an einem Sonntagnachmittag erlebt; es war ein schrecklicher Anblick! Die Russen kamen in Fünfer-Kolonnen an und stützten sich gegenseitig, denn keiner von ihnen konnte noch allein gehen. »Wandernde Skelette« ist wirklich der einzige zutreffende Ausdruck. Seitdem haben wir Lichtbilder aus den Konzentrations- und Vernichtungslagern gesehen; unsere unglücklichen russischen Kameraden befanden sich seit 1941 in genau dem gleichen Zustand. Ihre Gesichtshaut war nicht einmal gelb, sie war grün. Fast alle schielten, denn sie hatten nicht mehr die nötige Kraft, um ihre Augen anzupassen. Sie fielen reihenweise um, fünf Mann auf einmal; die Deutschen stürzten sich auf sie und schlugen sie mit Gewehrkolben und mit Peitschen. Da es ein Sonntagnachmittag war, hatten die Gefangenen sozusagen frei, innerhalb des Lagers natürlich. Als die Franzosen das sahen, begannen sie zu schreien; daraufhin schickten uns die Deutschen in die Baracken zurück. Der Typhus verbreitete sich sofort im Lager der Russen, die im November in einer Stärke von 10000 Mann angekommen waren, und von denen Anfangs Februar nur noch 2500 übrig waren.
Diese Angaben stimmen, sie stammen aus zwei Quellen; zunächst aus einer offiziösen, der Lagerküche. Vor den Küchen hing nämlich eine große Tafel, auf welcher die Deutschen die lächerlich geringen Rationen, sowie die Stärke der Belegschaft notierten. Die Belegschaft des russischen Lagers schrumpfte täglich um 80 bis 100 Mann zusammen. Ferner arbeiteten französische Kameraden im Aufnahmebüro des Lagers, in der sogenannten »Aufnahme«, und auch sie waren im Besitz der Belegschaftszahlen; von ihnen habe ich die Zahl von 2500 Überlebenden im Februar. Ich hatte in der Folge, vor allem in Rawa-Ruska, Gelegenheit, französische Gefangene aus allen Gegenden Deutschlands zu treffen. Allen denjenigen, die damals in den Stalags untergebracht waren, das heißt in den Stammlagern, bot sich das gleiche Schauspiel. Viele russische Kriegsgefangene wurden sogar schon vor ihrem Tode in das Massengrab geworfen. Tote und Sterbende wurden zwischen den Baracken aufgelesen und auf Schubkarren geworfen. In den ersten Tagen sahen wir die Leichen offen auf den Schubkarren liegen; da es aber dem deutschen Lagerkommandanten nicht angenehm war, wenn die französischen Gefangenen ihre toten russischen Kameraden grüßten, deckte man sie in der Folge mit Planen zu.
M. DUBOST: Waren ihre Lager damals von der Wehrmacht oder von der SS bewacht?
ROSER: Von der Wehrmacht.
M. DUBOST: Nur von der Wehrmacht?
ROSER: Jawohl, ich wurde nie von jemand anderem als von der Wehrmacht bewacht und von der Schutzpolizei nach meinem Fluchtversuch.
M. DUBOST: Wurden Sie wieder aufgegriffen?
ROSER: Jawohl.
M. DUBOST: Eine letzte Frage: Sie sind nacheinander in verschiedenen Kriegsgefangenenlagern in Deutschland interniert gewesen?
ROSER: Jawohl.
M. DUBOST: Hatten Sie in allen diesen Lagern die Möglichkeit, Ihre Religion auszuüben?
ROSER: In den Lagern selbst...
M. DUBOST: Welcher Religion gehören Sie an?
ROSER: Ich bin Protestant. In den Lagern, in denen ich interniert war, durften im allgemeinen die Protestanten und Katholiken ihre Religion ausüben. Ich war jedoch auch bei Kommandos, einmal bei einem landwirtschaftlichen Kommando in der Gegend von Bremen, ich glaube, es hieß Maiburg, in dem auch ein katholischer Priester war. Wir waren bei diesem Kommando ungefähr sechzig Mann. Dieser katholische Priester durfte keine Messe lesen. Man hinderte ihn daran.
M. DUBOST: Wer?
ROSER: Die Wachen, die sogenannten Posten.
M. DUBOST: Also Soldaten der Wehrmacht?
ROSER: Natürlich, immer.
M. DUBOST: Ich habe keine weiteren Fragen an Sie zu richten.
VORSITZENDER: Wünscht der britische Anklagevertreter noch Fragen zu stellen?
BRITISCHER ANKLAGEVERTRETER: Nein.
VORSITZENDER: Oder der Anklagevertreter für die Vereinigten Staaten?
ANKLAGEVERTRETER FÜR DIE VEREINIGTEN STAATEN: Nein.
VORSITZENDER: Wünscht einer der Herren Verteidiger Fragen zu stellen?
DR. NELTE: Herr Zeuge, wann sind Sie in Kriegsgefangenschaft geraten?
ROSER: Ich wurde am 14. Juni 1940 gefangen genommen.
DR. NELTE: In welches Kriegsgefangenenlager sind Sie damals gekommen?
ROSER: Ich bin sofort in das Oflag II D in Großborn-Westfalenhof in Pommern geschickt worden.
DR. NELTE: Sie waren in einem Oflag?
ROSER: Jawohl.
DR. NELTE: Welche Bestimmungen sind Ihnen im Kriegsgefangenenlager bezüglich eines eventuellen Fluchtversuchs bekanntgegeben worden?
ROSER: Man hat uns gewarnt, daß man auf uns schießen würde, und daß wir es nicht versuchen sollten.
DR. NELTE: Glauben Sie, daß diese Bekanntmachung mit der Genfer Konvention übereinstimmt?
ROSER: Das bestimmt.
DR. NELTE: Sie sprachen von einem Falle, wenn ich richtig gehört habe, von Robin, von Oflag II D. Sie sagten, daß dort ein Offizier durch einen Tunnel aus dem Lager entflohen sei, und daß er, weil er der erste war, der aus dem Tunnel in die Freiheit kam, erschossen worden sein soll. Ist das richtig?
ROSER: Jawohl, das habe ich gesagt.
DR. NELTE: Waren Sie bei diesen Offizieren, die den Fluchtversuch unternommen haben?
ROSER: Nein, ich habe eben gesagt, daß mir dies von Leutnant Ledoux erzählt worden ist, der während dieser Vorkommnisse noch im Lager Oflag II D war.
DR. NELTE: Ich wollte nur feststellen, daß dieser Offizier Robin auf der Flucht seinen Tod gefunden hat?
ROSER: Ja, aber hierzu muß folgendes bemerkt werden: Alle Kriegsgefangenen, die flohen, wußten, daß sie ihr Leben riskierten. Jeder von uns wußte, daß er in dem Augenblick, in dem er versuchte zu fliehen, einen Gewehrschuß riskierte. Aber es kommt darauf an, ob man zum Beispiel in dem Augenblick, in welchem man den Stacheldraht durchquert, von einer tödlichen Kugel getroffen wird, oder ob einem aufgelauert und man ermordet wird in einem Augenblick, in dem man sich nicht wehren kann, in dem man, selbst unbewaffnet, einem Menschen preisgegeben ist. Dies war bei Leutnant Robin der Fall, der sich in seinem Tunnel befand. Es handelte sich um einen Fluchttunnel; – in dieser Höhe. Leutnant Robin kroch darin auf dem Bauche liegend vorwärts. In diesem Augenblick wurde er getötet. Dies entspricht nicht den internationalen Vorschritten.
DR. NELTE: Ich habe Sie verstanden. Sie können sicher sein, daß ich jedem Kriegsgefangenen, der versucht hat, seiner patriotischen Pflicht zu genügen, meine Hochachtung ausspreche. Hier, wo Sie ja nicht zugegen waren, wollte ich nur klarstellen, daß doch die Möglichkeit jedenfalls bestanden hat, daß dieser erste mutige Offizier, der den Tunnel verließ, auf Anruf der Wachen nicht geantwortet hat und dadurch erschossen wurde.
ROSER: Nein.
DR. NELTE: Sie gaben eben zwar noch eine sehr lebhafte Schilderung, wie der Vorgang gewesen sei; ich glaube aber, daß das Ihrer Phantasie entspringt, weil Sie ja doch nicht, nach Ihren eigenen Aussagen, zugegen waren? Ist das richtig?
ROSER: Nein, es gibt keine sechsunddreißig Arten, aus einem Fluchttunnel herauszukriechen. Man liegt auf dem Bauch und kriecht, und wenn man erschossen wird, ehe man aus dem Tunnel herausgekommen ist, so nenne ich das Mord.
DR. NELTE: Und da haben Sie den Offizier gesehen?
VORSITZENDER: Dr. Nelte! Wir wünschen in einem Kreuzverhör keine Diskussionen.
Der Zeuge hat bereits erklärt, daß er nicht zugegen war und es nicht selbst gesehen hat. Er hat die Umstände geschildert.
DR. NELTE: Ich danke.