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[Keine Antwort.]

VORSITZENDER: Herr Dubost?

M. DUBOST: Ich habe an diesen Zeugen keine Fragen mehr zu stellen, Herr Vorsitzender. Mit Erlaubnis des Gerichtshofes werde ich nun den letzten Zeugen verhören.

VORSITZENDER: Einen Augenblick, Herr Dubost. Der Zeuge kann sich zurückziehen.

[Der Zeuge verläßt den Zeugenstand.]

VORSITZENDER: Können Sie dem Gerichtshof sagen, Herr Dubost, ob der Zeuge, den Sie jetzt aufrufen wollen, Beweismaterial vorbringen wird, das sich von den bisher gemachten Aussagen unterscheidet? Denn Sie werden sich erinnern, daß wir in dem französischen Dokument, von dem wir amtlich Kenntnis nehmen werden, ein sehr umfangreiches französisches Dokument, die Nummer habe ich vergessen – ich glaube, es trägt die Nummer RF-321, sehr viel Beweismaterial über die Lebensbedingungen in den Konzentrationslagern besitzen. Wird der von Ihnen vorgeladene Zeuge irgendwelches neue Material bringen können?

M. DUBOST: Der Zeuge, den wir aufrufen werden, beabsichtigt, dem Hohen Gerichtshof unmittelbare Aussagen über eine gewisse Anzahl medizinischer Experimente zu machen, die vor seinen Augen durchgeführt wurden. Er hat sogar einige Dokumente vorgelegt.

VORSITZENDER: Sind die Experimente, von denen der Zeuge sprechen will, in dem Beweisstück RF-321 erwähnt?

M. DUBOST: Sie sind zwar erwähnt, aber nicht beschrieben. Außerdem werde ich mich in Anbetracht der Wichtigkeit der im französischen Beweisstück wiedergegebenen Zeugenaussagen über die Gefangenenlager kurz fassen. Ich werde mich kurz fassen und die Dokumente nicht verlesen, sondern sie nach Vernehmung dieser Zeugen größtenteils einfach zu den Akten geben. Andererseits hat Dr. Balachowsky...

VORSITZENDER: Bitte, lassen Sie den Zeugen kommen, aber ersuchen Sie ihn, sich kurz zu fassen.

M. DUBOST: Ich werde mich bemühen, Herr Vorsitzender.

[Der Zeuge betritt den Zeugenstand.]

VORSITZENDER: Wie heißen Sie?

ZEUGE ALFRED BALACHOWSKY: Alfred Balachowsky.

VORSITZENDER: Sind Sie Franzose?

BALACHOWSKY: Ich bin Franzose.

VORSITZENDER: Wollen Sie den folgenden Eid leisten: Sie schwören, ohne Haß oder Furcht zu sprechen und die Wahrheit zu sagen, die ganze Wahrheit, nur die Wahrheit. Heben Sie Ihre rechte Hand auf und sagen Sie: Ich schwöre.

BALACHOWSKY: Ich schwöre.

VORSITZENDER: Sie können Platz nehmen, wenn Sie wünschen.

BALACHOWSKY: Nein, danke.

M. DUBOST: Sie heißen Balachowsky, Alfred B-a- 1-a-c-h-o-w-s-k-y?

BALACHOWSKY: Jawohl.

M. DUBOST: Sie sind Laboratoriumschef im Pasteur-Institut in Paris?

BALACHOWSKY: Ja.

M. DUBOST: Sie wohnen in Viroflay und wurden am 15. August 1909 in Korotcha in Rußland geboren?

BALACHOWSKY: Jawohl.

M. DUBOST: Sind Sie Franzose?

BALACHOWSKY: Jawohl. M.

DUBOST: Von Geburt?

BALACHOWSKY: Von Geburt Russe und naturalisierter Franzose.

M. DUBOST: Wann wurden Sie naturalisiert?

BALACHOWSKY: Im Jahre 1932.

M. DUBOST: Sie wurden am 16. Januar 1944 verschleppt, nachdem Sie am 2. Juli 1943 verhaftet worden waren und sechs Monate in den Gefängnissen von Fresnes und Compiegne verbracht hatten. Von dort kamen Sie in das Lager Dora?

BALACHOWSKY: Jawohl.

M. DUBOST: Können Sie uns kurz sagen, was Sie über das Lager Dora wissen?

BALACHOWSKY: Das Lager Dora liegt fünf Kilometer nördlich der Stadt Nordhausen. Dieses Lager wurde von den Deutschen als ein »geheimes Kommando« betrachtet, das heißt als »Geheimkommando«; in diesem Lager waren die Gefangenen interniert und kamen nicht wieder heraus.

Dieses Geheimkommando war damit beauftragt, V-1 und V-2 herzustellen, die Vergeltungswaffen, jene Torpedos, die die Deutschen auf England losließen. Deshalb war Dora ein Geheimkommando.

Das Lager bestand aus zwei Teilen, in dem äußeren Teil befand sich ein Drittel der Gesamtbelegschaft des Lagers, während sich die übrigen zwei Drittel in der unterirdischen Fabrik aufhielten. Dora war also eine unterirdische Fabrik für die Herstellung von V-1 und V-2. Ich kam am 10. Februar 1944 aus Buchenwald nach Dora.

M. DUBOST: Sprechen Sie bitte langsamer. Wann sind Sie in Dora, von Buchenwald kommend, eingetroffen?

BALACHOWSKY: Am 10. Februar 1944, das heißt zu einer Zeit, in der das Leben in Dora besonders schwer war. Wir wurden am 10. Februar 76 Mann hoch in ein großes deutsches Lastauto verfrachtet. Man zwang uns zusammengekauert zu sitzen, und im Vorderteil des Wagens nahmen vier SS-Wachen Platz. Da wir uns nicht alle im Innern des Wagens zusammenkauern konnten, weil wir zu viele waren, bekam jeder, der sich aufrichtete, einen Schlag mit dem Gewehrkolben über den Kopf. So wurden mehrere von uns während dieses Transportes, der vier Stunden dauerte, verletzt.

Nachdem wir im Lager Dora selbst angekommen waren, verbrachten wir ungefähr einen ganzen Tag und eine Nacht ohne jede Nahrung bei Kälte und Schnee mit der Abwicklung der Lager-Aufnahmeformalitäten: Ausfüllung von Formularen mit Name, Vorname und so weiter. Im Vergleich zu Buchenwald war Dora etwas ganz anderes, denn die allgemeine Leitung des Lagers Dora war Gefangenen einer Sonderstufe anvertraut, und zwar Verbrechern. Verbrecher waren unsere Blockleiter, und Verbrecher verteilten unsere Suppe und bekümmerten sich um uns. Diese Verbrecher trugen als Abzeichen ein grünes Dreieck, im Gegensatz zum roten Dreieck der politischen Verbrecher. Auf dem grünen Dreieck war ein schwarzes »S«. Wir nannten sie S-Leute, Sicherheitsverwahrte, das heißt Verbrecher, die lange vor dem Kriege von deutschen Gerichten wegen Verbrechen verurteilt worden waren. Anstatt nach Abbüßung ihrer Strafe nach Hause entlassen zu werden, sollten sie lebenslänglich in Konzentrationslagern zurückbehalten werden, und zwar gerade als Stammpersonal für andere Gefangene.

VORSITZENDER: Sie sprechen zu schnell. Bitte, fahren Sie langsamer fort.

BALACHOWSKY: Ich brauche nicht besonders zu sagen, daß diese Kategorie, diese Verbrecher mit dem grünen Dreieck, üble Elemente waren, die fünf, zehn oder gar fünfzehn Jahre Zuchthaus hinter sich hatten, bevor sie vor fünf oder zehn Jahren in die Konzentrationslager geschickt worden waren; verkommene Subjekte, die keinerlei Hoffnung mehr hatten, je aus dem Lager herauszukommen, und die dank der Hilfe und der Unterstützung seitens der SS-Führung des Lagers die Möglichkeit hatten, vorwärts zu kommen. Dieses Vorwärtskommen bestand darin, daß sie stahlen, die anderen Gefangenen ausplünderten und ihr Möglichstes taten, um aus ihnen die von der SS verlangte Höchstleistung an Arbeit herauszuholen. Sie schlugen uns von morgens bis abends. Um vier Uhr früh mußten wir aufstehen und in fünf Minuten fertig sein. Wir waren in unterirdischen Schlafsälen ohne Ventilation, in einer verbrauchten Luft, in Blocks, die etwa der Größe dieses Saales entsprachen, zusammengepfercht. Dort schliefen dreitausend bis dreitausendfünfhundert Gefangene in fünf übereinander angebrachten Bettenreihen auf verfaulten Strohsäcken, die nie gewechselt wurden. Wir hatten nur fünf Minuten Zeit zum Aufstehen; denn wir legten uns vollständig angezogen schlafen. An Schlafen war jedoch kaum zu denken, denn die ganze. Nacht war ein ständiges Kommen und Gehen. Auch Diebstähle aller Art kamen im Laufe der Nacht bei den Gefangenen vor. Außerdem hinderten uns Läuse und anderes Ungeziefer, von dem es im Lager Dora wimmelte, am Schlafen. Es war praktisch vollkommen ausgeschlossen, sich von Läusen zu befreien. Binnen fünf Minuten mußten wir reihenweise im Tunnel stehen und uns an den vorgeschriebenen Platz begeben.

VORSITZENDER: Einen Augenblick bitte!

Herr Dubost, Sie hatten uns erklärt, daß dieser Zeuge über Versuche aussagen sollte. Er bringt jedoch Einzelheiten über das Leben in Konzentrationslagern an, die wir schon mehrfach gehört haben.

M. DUBOST: Über Dora hat noch niemand ausgesagt, Herr Vorsitzender.

VORSITZENDER: Ja, aber in allen Lagern, über die ausgesagt wurde, bestanden dieselben Mißstände. So viel ich verstanden habe, haben Sie diesen Zeugen vorgeladen, weil er über Experimente aussagen sollte.

M. DUBOST: Wenn der Gerichtshof davon überzeugt ist, daß in allen Lagern die gleichen Zustände herrschten, dann habe ich meine Beweisführung beendet, und der Zeuge wird nun über die Experimente im Lager von Buchenwald sprechen. Ich wollte jedoch beweisen, daß in allen deutschen Lagern die gleichen Zustände herrschten. Ich glaube, daß dieser Beweis erbracht ist.

VORSITZENDER: Wenn Sie das beweisen wollten, so hätten Sie Zeugen von jedem Lager vorladen müssen; und es gab Hunderte.

M. DUBOST: Diese Frage muß bewiesen werden, denn es ist die Einheitlichkeit des Vorgehens, auf die sich die Schuld der hier anwesenden Angeklagten gründet. In jedem Lager gab es einen Verantwortlichen in der Person des Lagerführers. Wir richten hier jedoch nicht über die Lagerführer, sondern über die hier anwesenden Angeklagten, und zwar, weil sie...

VORSITZENDER: Herr Dubost, ich habe bereits erwähnt, daß vorläufig so gut wie kein Kreuzverhör stattgefunden hat, und ich habe Sie gebeten, die Aussagen dieses Zeugen möglichst auf das Thema der Experimente zu beschränken.

M. DUBOST: Der Zeuge wird nur über die Experimente von Buchenwald sprechen, wie es der Gerichtshof wünscht.

Der Gerichtshof hält es für erwiesen, daß die Behandlung in allen deutschen Konzentrationslagern einheitlich war.