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[Das Gericht vertagt sich bis

31. Januar 1946, 10.00 Uhr.]

Siebenundvierzigster Tag.

Donnerstag, den 31. Januar 1946.

Vormittagssitzung.

GERICHTSMARSCHALL: Hoher Gerichtshof! Ich möchte mitteilen, daß die Angeklagten Kaltenbrunner und Seiß-Inquart bei der heutigen Vormittagssitzung wegen Krankheit nicht anwesend sein werden.

M. DUBOST: Hoher Gerichtshof! Bevor ich abschließe, muß ich noch einige weitere Dokumente über Kriegsgefangene verlesen. Zunächst Dokument L-166, das wir als RF-377 vorlegen, Seite 65 des Dokumentenbuches. Es handelt sich um eine Notiz, in welcher eine Besprechung bei dem Reichsmarschall über Jagdflugzeuge vom 15. und 16. Mai 1944 zusammengefaßt wird. Der Gerichtshof findet diesen Auszug auf Seite 8, Nummer 20:

»Herr Reichsmarschall will dem Führer vorschlagen, daß amerikanische und englische Besatzungen, die wahllos in Städte schießen, und auf fahrende Zivilzüge oder am Fallschirm hängende Soldaten, sofort am Ort der Tat erschossen werden.«

Die Wichtigkeit dieses Schriftstücks braucht nicht unterstrichen zu werden. Es beweist die Verantwortlichkeit des Angeklagten Göring für die Vergeltungsmaßnahmen gegen die in Deutschland abgeschossenen alliierten Flieger.

Wir lesen nun das Dokument R-117, RF-378.

Zwei Liberators, die am 21. Juni 1944 über dem Gebiet von Mecklenburg abgeschossen wurden, erreichten den Boden so, daß die Besatzung unversehrt blieb. Es waren insgesamt fünfzehn Mann; sie alle wurden unter dem Vorwand eines Fluchtversuchs erschossen.

Das Dokument wurde in den Akten des Stabsquartiers des Luftgaukommandos XI gefunden. Es beweist, daß neun Mitglieder der Besatzung den lokalen Polizeibehörden übergeben worden sind.

Im vorletzten Absatz, Zeile 3, liest man, daß sie gefangengenommen und der Polizei in Waren überstellt worden sind. Die Leutnants Helton und Ludka wurden am 21. Juni von der Schutzpolizei dem SS- Untersturmführer und Kriminalkommissar Stempel von der Sicherheitspolizei in Fürstenberg/Mecklenburg übergeben. Ich zitiere:

»... sind diese 7 Gefangenen unterwegs auf der Flucht erschossen worden.

... sind Ltn. Helton und Ludka ebenfalls am gleichen Tage auf der Flucht erschossen worden.«

Bezüglich der zweiten Liberator heißt es:

»Betr.: Absturz einer Liberator am 21. 6. 1944 11,30 Uhr

.... 6 Besatzungsmitglieder auf der Flucht erschos sen, 1 schwer verletzt im Stola Schwerin.«

Als Beweisstück RF-379 legen wir nunmehr das Dokument F-553 vor, Seite 101 des Dokumentenbuches. Dieses Schriftstück bezieht sich auf die Internierung von Kriegsgefangenen in Konzentrationslagern und Vernichtungslagern. Die Gefangenen, die einen Fluchtversuch unternommen hatten, erfuhren eine unterschiedliche Behandlung. Wenn es gemeine Soldaten oder Unteroffiziere waren, welche die Arbeit nicht verweigert hatten, wurden sie im allgemeinen in ein Lager geschickt und gemäß Artikel 47 und folgenden der Genfer Konvention bestraft. Wenn es sich jedoch um Offiziere oder Unteroffiziere handelte – ich kommentiere hier das Dokument, das ich sodann dem Gerichtshof verlesen werde – wenn es sich jedoch um Offiziere oder Unteroffiziere handelte, die sich geweigert hatten, zu arbeiten, wurden sie der Polizei übergeben und gewöhnlich ohne Gerichtsverfahren ermordet.

Man versteht den Zweck dieser Unterscheidung. Jene französischen Unteroffiziere, die sich trotz des von den deutschen Behörden auf sie ausgeübten Drucks weigerten, in der deutschen Kriegsindustrie zu arbeiten, hatten eine sehr hohe Auffassung von ihrer patriotischen Pflicht. Ihre Fluchtversuche riefen gewissermaßen die Vermutung ihrer Nichtanpassungsfähigkeit an die Nazi-Ordnung hervor. Sie mußten daher ausgeschaltet werden. Die Ausrottung dieser Elite nahm anfangs 1944 systematischen Charakter an, und der Angeklagte Keitel ist zweifellos für diese Ausrottung verantwortlich, die er gebilligt, wenn nicht sogar angeordnet hat.

Das dem Gerichtshof vorliegende Schriftstück ist ein Protestbrief des Generals Bérard, Vorsitzender der Französischen Delegation bei der Deutschen Waffenstillstandskommission, an den deutschen General Vogl, Vorsitzender der Deutschen Waffenstillstandskommission. Es handelt eben von den nach Frankreich gedrungenen Nachrichten über die Vernichtung geflohener Kriegsgefangener.

Erster Absatz, vierte Zeile:

»Diese Mitteilung eröffnet das Bestehen einer von der Wehrmacht unabhängigen Organisation, in deren Befehlsbereich die geflüchteten Kriegsgefangenen fallen.«

Diese Note ist am 29. August 1944 vom Kommandanten des Oflag XC geschrieben worden.

General Bérard teilte der Deutschen Waffenstillstandskommission mit:

»Hauptmann Lussus... und Leutnant Girot... vom Oflag XC, die am 27. April 1944 einen Fluchtversuch unternommen hatten, sind von der Lagerwache in der unmittelbaren Umgebung des Lagers wieder aufgegriffen worden.

Am 23. Juni 1944 erhielt der älteste der Offiziere des Oflag XC zwei Urnen, welche die Asche dieser beiden Offiziere enthielten. Man konnte diesem französischen Offizier keinerlei nähere Angaben über die Todesursache von Hauptmann Lussus und Leutnant Girot machen.«

General Bérard machte die Deutsche Waffenstillstandskommission zur gleichen Zeit darauf aufmerksam, daß dem Kommandanten des Oflag XC die folgende Mitteilung übermittelt worden war;

»Wollen Sie Ihren Kameraden zur Kenntnis bringen, daß es eine deutsche Stelle zur Überwachung der unerlaubt umherstreifenden Personen gibt, deren Tätigkeit sich über die im Kriegszustand befindlichen Gebiete von Polen bis zur spanischen Grenze erstreckt. Jeder geflüchtete Kriegsgefangene, der wieder aufgegriffen wird, und in dessen Besitz Zivilkleider, falsche Papiere, gefälschte Personalausweise und Photographien befinden, fällt in den Befehlsbereich dieser Behörde. Was mit den Betreffenden geschieht, vermag ich Ihnen nicht zu sagen; machen Sie Ihre Kameraden auf den besonderen Ernst dieser Sache aufmerksam.«

Die zwei letzten Zeilen dieser Mitteilung erhalten ihre volle Bedeutung an dem Tage, an dem die beiden Urnen mit der Asche der geflüchteten französischen Offiziere dem Lagerältesten übergeben werden.

Unsere sowjetischen Kollegen werden die Umstände darlegen, unter denen Fluchtversuche von Offizieren aus dem Lager Sagan unterdrückt wurden.

VORSITZENDER: Herr Dubost, wurde diese Beschwerde beantwort? Die Beschwerde des Generals Bérard an die Waffenstillstandskommission?

M. DUBOST: Herr Präsident, ich weiß nicht, ob eine Antwort erfolgt ist. Ich weiß nur, daß im Augenblick der Befreiung die Archive von Vichy zum Teil geplündert und zum Teil durch Kriegshandlungen zerstört wurden.

Wenn eine Antwort erfolgt wäre, würde sie in den Archiven von Vichy vorhanden sein, denn die von uns jetzt vorgelegten Dokumente stammen aus den deutschen Archiven der Deutschen Waffenstillstandskommission. Was die französischen Archive anbetrifft, ist es mir nicht bekannt, was aus ihnen geworden ist. Es ist jedoch möglich, daß sie im Verfolg der Kriegshandlungen verschwunden sind.

Ich war soeben im Begriff, dem Gerichtshof zur Kenntnis zu bringen, daß meine sowjetischen Kollegen die Umstände beschreiben werden, unter welchen die Fluchtversuche aus dem Lager Sagan unterdrückt wurden. Wir legen Schriftstück F-672 als RF-380 vor, Seite 115 des Dokumentenbuches. Es handelt sich um einen Bericht des Kriegsgefangenen- und Deportiertendienstes vom 9. Januar 1946, der die Verschleppung von zwanzig französischen Kriegsgefangenen nach Buchenwald behandelt. Dieser Bericht muß als echtes Dokument angesehen werden, ebenso wie die beigefügten Berichte von Kriegsgefangenen. Hier der Bericht von Claude Petit, früher Hauptvertrauensmann des Stalag VI/b:

»Im September 1943 waren die französischen Zivilarbeiter sowie die in das Zivilarbeitsverhältnis übernommenen französischen Kriegsgefangenen in Deutschland jedes geistlichen Beistandes beraubt. Da kein Priester unter ihnen war, beschloß Leutnant Piard, der Hauptseelsorger des Stalag VI/G, nach Rücksprache mit dem Seelsorger der Kriegsgefangenen, Abbé Rodhain, sechs kriegsgefangene Priester freiwillig in das Zivilarbeiterverhältnis überführen zu lassen, damit sie unter den französischen Zivilisten das Seelsorgeramt ausüben könnten.«

Da diese Überleitung der Priester in das Zivilarbeitsverhältnis schwer durchzuführen war und die Gestapo die Anwesenheit von Seelsorgern unter den französischen Zivilarbeitern nicht gestattete, organisierten diese Priester und einige Pfadfinder eine Pfadfindergruppe und eine Gruppe der katholischen Aktion.

»Vom Beginn des Jahres 1944 an fühlten sich die Priester bei der Ausübung ihrer verschiedenen Tätigkeiten von der Gestapo beobachtet.

Die sechs Priester wurden Ende Juli 1944 fast gleichzeitig verhaftet und in das Gefängnis von Braunweiler in der Nähe von Köln überführt.

Dasselbe geschah mit den Pfadfindern.

Gegen diese offensichtliche Verletzung der Genfer Konvention unternahm ich zahlreiche Schritte und Pro teste, damit die von der Gestapo verhafteten Kriegsgefangenen der militärischen Stelle zurückgegeben würden. Weiter ersuchte ich um Mitteilung des Grundes ihrer Verhaftungen...

Infolge des schnellen Vormarsches der alliierten Truppen, die Aachen erreichten, wurden sämtliche Gefangenen von Braunweiler nach Köln überführt.«

Die deutschen Behörden selbst haben Schritte unternommen, um von dem Schicksal der Kriegsgefangenen unterrichtet zu werden.