[Der Zeuge betritt den Zeugenstand.]
VORSITZENDER: Wie heißen Sie?
ZEUGE EMIL REUTER: Reuter Emil.
VORSITZENDER: Emil Reuter, schwören Sie, ohne Haß, ohne Furcht zu sprechen, die Wahrheit, die ganze Wahrheit und nur die Wahrheit zu sagen.
[Der Zeuge spricht die Eidesformel in französischer Sprache nach.]
M. FAURE: Herr Reuter, Sie sind Mitglied der Anwaltskammer in Luxemburg?
REUTER: Ja.
M. FAURE: Sie sind der Präsident der Abgeordnetenkammer des Großherzogtums Luxemburg?
REUTER: Ja.
M. FAURE: Bekleideten Sie diese Stellung auch beim Einmarsch der deutschen Truppen in Luxemburg?
REUTER: Ja.
M. FAURE: Wenige Tage vor dem Einfall in Luxemburg hatte die Deutsche Reichsregierung der Regierung des Großherzogtums Luxemburg eine Versicherung ihrer friedlichen Absichten gegeben. Können Sie mir etwas darüber sagen?
REUTER: Schon im August 1939 hatte der Deutsche Gesandte in Luxemburg unserem Außenminister eine Erklärung abgegeben, wonach das Deutsche Reich an einem europäischen Kriege die Unabhängigkeit und Neutralität des Landes unter der Bedingung berücksichtigen würde, daß Luxemburg seine Neutralität nicht verletze.
Einige Tage vor der Invasion, es war im Mai 1940, hatten die Deutschen Pontonbrücken bis zur Mitte der Mosel gebaut, die die Grenze zwischen den beiden Ländern bildet. Nach einer Erklärung des Deutschen Gesandten in Luxemburg sollten diese Brücken einzig und allein Landestellen für die Flußschiffahrt sein. Es war jedoch die allgemeine Meinung im Lande, daß es sich da um Einrichtungen militärischen Charakters handelte.
M. FAURE: Können Sie mir sagen, wie es mit der obrigkeitlichen Gewalt in Luxemburg bestellt war, nachdem Ihre Königliche Hoheit, die Großherzogin, und ihre Regierung das Land verlassen hatten?
REUTER: Die Verwaltung war durch eine Regierungskommission sichergestellt, die die erforderlichen Machtbefugnisse von den verfassungsmäßigen Behörden erhalten hatte. Eine obrigkeitliche Gewalt bestand also ohne Unterbrechung.
M. FAURE: Trifft es zu, daß die Deutschen bei ihrer Ankunft behaupteten, die Regierung sei ihren Obliegenheiten nicht nachgekommen und daß es seit der Abreise der Regierung in Luxemburg keine ordnungsmäßige Autorität gegeben habe?
REUTER: Ja, diese Erklärung ist vom Deutschen Gesandten in Luxemburg vor einer parlamentarischen Kommission abgegeben worden.
M. FAURE: Ist dies so zu verstehen, daß diese Behauptung der deutschen Behörden nicht den Tatsachen entsprach, da Sie uns gesagt haben, daß es tatsächlich einen obrigkeitlichen Verwaltungsorganismus gegeben hat?
REUTER: Diese Erklärung entsprach nicht der Wahrheit. Sie sollte offensichtlich die widerrechtliche Übernahme der Regierungsgewalt einleiten.
M. FAURE: Herr Reuter, die Deutschen haben niemals den Anschluß Luxemburgs durch ein Gesetz verkündet. Glauben Sie, daß die gesamten Maßnahmen, die sie in diesem Lande ergriffen haben, einer Annektierung gleichkamen?
REUTER: Die Maßnahmen, die die Deutschen im Großherzogtum durchführten, kamen einer de facto Annektierung gleich. Kurz nach dem Einfall hatten die führenden Männer des Deutschen Reiches in Luxemburg in öffentlichen und amtlichen Äußerungen erklärt, daß der rechtliche Anschluß zu einem vom Führer zu bestimmenden Zeitpunkt folgen werde.
Der Beweis für diese de facto Annektierung wird durch die von den Deutschen im Großherzogtum veröffentlichten Verordnungen deutlich erbracht.
M. FAURE: Die Deutschen haben in Luxemburg eine sogenannte Volkszählung vorgenommen. Die Formulare, die den Einwohnern von Luxemburg vorgelegt wurden, enthielten eine Frage über die Muttersprache oder Umgangssprache und eine zweite Frage über die volksmäßige Zugehörigkeit. Können Sie bestätigen, daß die Volkszählung mit diesen zwei Fragen den Charakter einer Volksabstimmung, einen politischen Charakter hatte?
REUTER: Bei den drohenden Ankündigungen, die die deutschen Behörden anläßlich dieser Volkszählung herausgaben, schien das politische Ziel festzustehen. Auch ist diese Volkszählung von der öffentlichen Meinung nur als Mittel betrachtet worden, um eine Volksabstimmung unter dem Mantel einer Volkszählung herbeizuführen, als eine politische Maßnahme, die die geplante Annektierung als gerechtfertigt darstellen sollte.
M. FAURE: Der Bericht der Luxemburgischen Regierung enthält keine Angaben über das statistische Ergebnis dieser Zählung, insbesondere bezüglich der politischen Fragen, die ich soeben erwähnt habe. Bitte, wollen Sie uns sagen, aus welchen Gründen diese statistischen Angaben in keinem der Dokumente zu finden sind?
REUTER: Diese statistischen Angaben sind niemals vollständig herausgegeben worden, denn nach den Teilzahlungen und den ersten Ergebnissen haben die Deutschen festgestellt, daß nur ein ganz geringer Teil der Bevölkerung auf diese zwei heiklen Fragen in deutschem Sinne geantwortet hatte. Die deutschen Behörden zogen es vor, die ganze Aktion einzustellen, und die im Lande ausgegebenen Fragebogen sind deshalb niemals eingesammelt worden.
M. FAURE: Entsinnen Sie sich des Datums der Volkszählung?
REUTER: Diese Volkszählung hat wahrscheinlich 1942 stattgefunden.
M. FAURE: Zu diesem Zeitpunkt konnten also die Deutschen feststellen, daß es keine Majorität, nicht einmal ein großer Teil der Bevölkerung war, der in das Großdeutsche Reich eingegliedert werden wollte. Haben sie trotzdem ihre Annexionsmaßnahmen fortgeführt?
REUTER: Die Maßnahmen, die auf eine Germanisierung und letzten Endes Annexion des Landes hinzielten, wurden weiter fortgesetzt und später sogar durch neue und immer eindeutigere Maßnahmen verschärft.
M. FAURE: Ich muß also daraus entnehmen, daß der entgegengesetzte Wille der luxemburgischen Bevölkerung Während der Zeit, in der diese Maßnahmen durchgeführt wurden, von den Deutschen nicht übersehen werden konnte.
REUTER: Darüber besteht kein Zweifel.
M. FAURE: Können Sie uns sagen, ob es richtig ist, daß die deutschen Behörden den Angehörigen des Gendarmerie- oder Polizeikorps befohlen haben, den Treueid auf den Reichskanzler zu leisten?
REUTER: Jawohl; dieser Zwang auf das Gendarmeriekorps und die Polizei wurde unter scharfen Drohungen und sogar Mißhandlungen ausgeübt. Diejenigen, die sich widersetzten, wurden deportiert, im allgemeinen, wenn ich mich recht entsinne, nach Sachsenhausen, und als die russischen Armeen näher rückten, wurden die Dienstverweigerer, die sich in diesen Lagern befanden, insgesamt oder zum Teil, ungefähr einhundertfünfzig, erschossen.
M. FAURE: Können Sie uns Angaben über die Umsiedlung einer gewissen Anzahl von Einwohnern und Familien Ihres Landes machen?
REUTER: Die Umsiedlung wurde von den deutschen Behörden für solche Luxemburger angeordnet, die als nicht assimilierbar oder unwürdig, und deren Anwesenheit als in den Grenzgebieten des Reiches unerwünscht betrachtet wurde.
M. FAURE: Können Sie ungefähr angeben, wieviele Personen dieser Umsiedlung zum Opfer gefallen sind?
REUTER: Es muß sich mindestens um 7000 Personen handeln, die auf diese Art und Weise umgesiedelt wurden, denn man hat in Luxemburg eine Liste aufgefunden, auf der 2800 bis 2900 Familien angegeben waren.
M. FAURE: Diese Angaben sind Ihnen auf Grund Ihrer Eigenschaft als Präsident der Abgeordnetenkammer bekannt geworden?
REUTER: Nicht ganz so. Die Liste ist in Luxemburg gefunden worden, wo sie auch jetzt noch ist, und die Kommission zur Untersuchung von Kriegsverbrechen hat davon Kenntnis genommen, ebenso auch die gerichtlichen Behörden in Luxemburg.
M. FAURE: Können Sie angeben, Herr Reuter, wie die umgesiedelten Personen von dieser Maßnahme in Kenntnis gesetzt wurden und wieviel Zeit ihnen gelassen wurde?
REUTER: Im allgemeinen wurden die Familien, die umgesiedelt werden sollten, vorher niemals davon in Kenntnis gesetzt, wenigstens niemals offiziell. Gegen 6.00 Uhr morgens erschienen die Gestapo-Beamten an der Tür und forderten die Umsiedelnden auf, sich innerhalb von ein oder zwei Stunden mit einem Minimum von Gepäck zur Abfahrt vorzubereiten. Sie wurden dann zum Bahnhof transportiert und in verschiedene Lager verschickt, für die sie bereits eingeteilt waren.
M. FAURE: Sind auch Personen, die Sie selber kennen, von diesen Maßnahmen betroffen worden?
REUTER: Ich kenne selbst eine sehr große Anzahl von Personen, die umgesiedelt worden sind, darunter Mitglieder meiner eigenen Familie, viele Kollegen der Abgeordnetenkammer, viele Anwälte und zahlreiche Staatsbeamte und so weiter.
M. FAURE: Außer den Umsiedlungen fanden auch Deportationen in Konzentrationslager statt, nicht wahr?
Das ist eine andere Frage.
REUTER: Jawohl, es gab noch die Verschleppungen ins Konzentrationslager, die jeder kennt. Die Zahl dieser Deportationen im Großherzogtum beläuft sich auf zirka 4000 Personen.
M. FAURE: Herr Reuter, auf Grund der Verordnungen steht fest, daß die deutschen Behörden die Militärdienstpflicht eingeführt haben, und daher möchte ich hierüber keine Fragen stellen; aber ich möchte Sie fragen, ob Sie ungefähr angeben können, wieviele luxemburgische Staatsbürger zur Deutschen Wehrmacht eingezogen wurden.
REUTER: Die jungen Leute, die zwangsweise in die Deutsche Wehrmacht mußten, gehörten fünf Jahrgängen an, beginnend mit dem Jahrgang 20. Es handelte sich mindestens um ungefähr 11000 bis 12000 junge Leute. Eine gewisse Anzahl, ich schätze ein Drittel ungefähr, hat sich dieser Einziehung entzogen und den Dienst verweigert. Andere sind aus der Deutschen Wehrmacht desertiert und ins Ausland geflüchtet.
M. FAURE: Können Sie ungefähr angeben, wieviel Luxemburger im Kriege durch ihre Zwangseingliederung in das deutsche Heer umgekommen sind?
REUTER: Ende September 1944 hatten wir eine Zahl von ungefähr 2500 Toten. Die Untersuchungen werden fortgesetzt und ich schätze, daß man bis jetzt die Namen von mindestens 3000 Toten festgestellt hat.
M. FAURE: Waren die Bestimmungen, die zur Einberufung dieser Luxemburger vorgesehen waren, sehr streng?
REUTER: Sie waren außerordentlich streng. Zuerst wurden die jungen Leute, die Dienstverweigerer, von der Polizei und der Gestapo verfolgt. Danach kamen sie in Luxemburg, Frankreich, Belgien oder Deutschland vor verschiedene Gerichte. Ihre Familien wurden im allgemeinen deportiert und ihr Vermögen beschlagnahmt.
Die Strafen, die von diesen Gerichten über diese jungen Leute verhängt wurden, waren außerordentlich scharf. Im allgemeinen war es die Todesstrafe, oder aber lange Gefängnis- oder Zuchthausstrafen, Zwangsarbeit, Konzentrationslager und so weiter. Einige von ihnen wurden später begnadigt, aber viele wurden sogar, nachdem sie begnadigt worden waren, als Geiseln erschossen.
M. FAURE: Ich möchte Ihnen eine letzte Frage stellen. Glauben Sie, daß es möglich war, daß ein Mitglied der Reichsregierung oder des OKW über die Gesamtheit der Maßnahmen, die den de facto-Anschluß Luxemburgs darstellen, in Unkenntnis sein konnte?
REUTER: Ich halte es für kaum möglich, daß diese Situation der Reichsregierung oder dem OKW nicht bekannt war. Meine Meinung beruht auf folgenden Tatsachen:
Unsere jungen Leute, die zwangsweise mobilisiert wurden, haben oft protestiert, sobald sie bei der Deutschen Wehrmacht in Deutschland eintrafen, indem sie ausdrücklich auf ihre luxemburgische Staatsangehörigkeit und die Zwangsmaßnahmen, denen sie ausgesetzt worden waren, hinwiesen.
Die Militärbehörden mußten daher über diese Lage im Großherzogtum auf dem laufenden sein.
Zweitens haben mehrere Reichsminister, darunter die Herren Thierack, Rust und Ley, das Großherzogtum Luxemburg besucht und konnten sich an Ort und Stelle von der Situation im Lande und der Reaktion der Bevölkerung überzeugen.
Andere höhere Persönlichkeiten des politischen Lebens, wie die Herren Bormann und Sauckel, haben Luxemburg besucht.
Schließlich hat es deutsche Verordnungen und Erlasse gegeben, die sich auf die Entrechtung gewisser Gruppen von Luxemburgern bezogen und die Unterschrift des Reichsinnenministers trugen. Die auf Grund dieser Verordnungen erlassenen Durchführungsbestimmungen wurden im »Verordnungsblatt für das Reichsinnenministerium« mit der Unterschrift des Reichsinnenministers Frick mit der Maßgabe veröffentlicht, sie »nachrichtlich an alle oberen Reichsstellen« zu geben.
M. FAURE: Ich danke Ihnen. Das waren alle Fragen, die ich Ihnen zu stellen hatte.