HOME

<< Zurück
|
Vorwärts >>

[Das Gericht vertagt sich bis 14.00 Uhr.]

Nachmittagssitzung.

GERICHTSMARSCHALL: Ich möchte dem Hohen Gerichtshof mitteilen, daß der Angeklagte Kaltenbrunner krankheitshalber der Nachmittagssitzung nicht beiwohnen wird.

M. FAURE: Hoher Gerichtshof, ich möchte den Zeugen van der Essen aufrufen.

VORSITZENDER: Sehr gut.

[Der Zeuge betritt den Zeugenstand.]

Wie heißen Sie?

ZEUGE VAN DER ESSEN: Van der Essen.

VORSITZENDER: Schwören Sie, ohne Haß oder Furcht zu sprechen, die Wahrheit, die ganze Wahrheit und nur die Wahrheit zu sagen!

Erheben Sie die rechte Hand und sägen Sie: »Ich schwöre es.«!

VAN DER ESSEN: Ich schwöre es.

VORSITZENDER: Sie können sich hinsetzen, wenn Sie wollen.

M. FAURE: Herr van der Essen, Sie sind Geschichtsprofessor an der literaturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Loewen?

VAN DER ESSEN: Ja.

M. FAURE: Sie sind Generalsekretär der Universität Loewen?

VAN DER ESSEN: Ja.

M. FAURE: Sie sind während der ganzen Besatzungszeit in Belgien gewesen?

VAN DER ESSEN: Seit Ende Juli 1940 habe ich Belgien nicht verlassen.

M. FAURE: Können Sie uns über die Zerstörung der Bibliothek von Loewen Auskunft geben?

VAN DER ESSEN: Wie man sich erinnern wird, war diese Bibliothek, die sicherlich eine der am besten ausgestatteten Universitätsbibliotheken ganz Europas war, insbesondere was Inkunabeln, Manuskripte und Bücher des 16. und 17. Jahrhunderts betrifft, bereits 1914 systematisch durch Brandfackeln zerstört worden und zwar von den deutschen Soldaten des vom General von Böhn befehligten IX. Reserve-Armeekorps.

Diesmal, 1940, hat sich dasselbe wiederholt. Die Bibliothek ist vom deutschen Heer systematisch zerstört worden. Zum besseren Verständnis muß ich zuerst sagen, daß der Brand nach allen Zeugenaussagen in der Nacht vom 16. zum 17. Mai 1940 um 1.30 Uhr morgens anfing. Genau bei Morgengrauen des 17. Mai unternahm das englische Heer das erforderliche Absetzmanöver, um die Verteidigungsstellung KW aufzugeben. Andererseits steht unbedingt fest, daß die ersten deutschen Truppen erst am 17. morgens gegen 8 Uhr eingerückt sind.

Diese Zeitspanne zwischen dem Abrücken der englischen Truppen und dem Einrücken der Deutschen hat den letzteren gestattet, die Legende einer systematischen Zerstörung der Bibliothek durch die britischen Truppen zu verbreiten.

Ich muß hier diese Lesart feierlichst widerlegen: Die Universitätsbibliothek von Loewen ist durch deutschen Artilleriebeschuß planmäßig zerstört worden. Zwei Batterien waren aufgefahren, die eine im Dorf Corbeck und die andere im Dorf Lovenjoul. Diese beiden Batterien, eine jede von ihrer Seite, zielten systematisch auf die Bibliothek und zwar nur auf die Bibliothek. Der beste Beweis dafür ist, daß die Geschosse sämtlich auf die Bibliothek fielen. Durch Zufall wurde lediglich ein einziges Haus in dem Viertel, in dem sich die Bibliothek befindet, getroffen. Der Turm der Bibliothek wurde elfmal getroffen, viermal von der Batterie von Lovenjoul und siebenmal von der Batterie von Corbeck. Als die Batterie von Lovenjoul im Begriff war, das Feuer zu eröffnen, hat ihr kommandierender Offizier einen Einwohner des Dorfes Vigneron ersucht, ihn auf die Felder zu begleiten. Als sie an einer Stelle angelangt waren, von der aus man den Turm der Bibliothek erblicken konnte, fragte der Offizier: »Ist das der Turm der Universitätsbibliothek?« Die Antwort lautete: »Jawohl«. Der Offizier fragte nochmals: »Sind Sie dessen sicher?« »Aber ja«, antwortete der Bauer, »denn ich sehe ihn alle Tage, wie Sie ihn jetzt sehen.« Fünf Minuten später begann das Feuer und eine Rauchsäule stieg sogleich ganz nahe am Turm empor. So kann es absolut keinen Zweifel geben, daß diese Beschießung systematisch und einzig und allein auf die Bibliothek abgezielt war.

Andererseits steht auch fest, daß ein kleines Geschwader von 43 Flugzeugen die Bibliothek überflog und Bomben auf das Gebäude warf.

M. FAURE: Herr van der Essen, Sie sind Mitglied der offiziellen belgischen Kommission zur Untersuchung von Kriegsverbrechen?

VAN DER ESSEN: Ja.

M. FAURE: Sie haben als solches über diese uns soeben geschilderten Ereignisse Untersuchungen angestellt?

VAN DER ESSEN: Ja.

M. FAURE: Die Auskünfte, die Sie dem Gerichtshof gegeben haben, sind also Ihre eigenen Untersuchungsergebnisse und das, was Sie selbst von den Zeugen gehört haben?

VAN DER ESSEN: Was ich hier erklärt habe, ist tatsächlich das Ergebnis der offiziellen Untersuchung, die von der belgischen Kommission für Kriegsverbrechen mit eidlich vernommenen Zeugen durchgeführt wurde.

M. FAURE: Können Sie Angaben machen über die Nazifizierung Belgiens durch die Deutschen und insbesondere über die Eingriffe in die normalen und verfassungsmäßigen Einrichtungen des Staates?

VAN DER ESSEN: Selbstverständlich! Zuerst glaube ich, ist es interessant zu zeigen, daß die Deutschen eines der Grundprinzipien der Verfassung und der Einrichtungen Belgiens verletzten, das in der Trennung der Gewalten besteht, nämlich die Trennung in die richterliche, die vollziehende und die gesetzgebende Gewalt. Denn in zahlreichen Einrichtungen der neuen Ordnung, die sie selbst entweder durch Verordnung oder dadurch, daß sie deren Schaffung Kollaborateuren nahelegten, ins Leben riefen, haben sie immer die gesetzgebende und die vollziehende Gewalt zusammengelegt. Andererseits wurden Redefreiheit und Verteidigungsrecht niemals oder nur sehr schlecht berücksichtigt.

Aber viel wichtiger ist die Tatsache, daß sie sich einer Einrichtung bemächtigt haben, die sehr weit in unsere Geschichte, bis ins Mittelalter, zurückgeht. Ich meine die selbständige Kommunalverwaltung, die uns, das Volk, gegen alle gefährlichen Eingriffe der Zentralgewalt schützt.

Auf diesem Gebiet hat sich folgendes zugetragen: Man braucht nur die jetzt erscheinenden belgischen Zeitungen zu lesen oder eine Zeitlang gelesen zu haben, um festzustellen, daß die Bürgermeister, also die Spitzen der Gemeinde, die Ratsherren der hauptsächlichsten belgischen Städte wie Brüssel, Gent, Lüttich, Charleroi, und auch vieler kleinerer Städte, daß alle diese Ratsherren und Bürgermeister sich entweder im Gefängnis befinden oder vor einem Kriegsgericht erscheinen sollen; dies beweist, glaube ich, zur Genüge, daß diese Bürgermeister und Ratsherren nicht diejenigen sind, die der König und die Belgische Regierung vor 1940 ernannt hatten, daß sie alle vielmehr Leute waren, die vom Feind mittels der V.N.V.-Kollaborateur-Gruppen oder der Rexisten eingesetzt worden waren.

VORSITZENDER: Sie sprechen immer noch zu schnell, Herr van der Essen.

VAN DER ESSEN: Es ist außerordentlich wichtig, diese Tatsache festzustellen. Denn der Bürgermeister konnte, da er ja der Zentralgewalt direkt untersteht, mit anderen Worten, da man ja dort das Führerprinzip anwandte, auf jede Art und Weise in das politische und soziale Verwaltungsleben eingreifen. Der Bürgermeister ernannte seine Ratsherren, diese ernannten die Angestellten und Beamten der Gemeinde, und da der Bürgermeister dieser Partei angehörte und von ihr ernannt war, so ernannte er seinerseits zu Beamten Leute dieser Partei, die dann den Widerspenstigen die Lebensmittelkarten verweigern oder der Polizei den Auftrag geben konnten, beispielsweise Listen von Kommunisten oder von denen, die dafür gehalten wurden, zu übergeben, kurz gesagt Beamte, die auf jede Art und mit allen Mitteln in das Gemeindeleben Belgiens eingreifen konnten.

Wenn man sowohl die großen als auch die kleinen Städte betrachtet, so kann man sagen, daß es wirklich infolge der eben geschilderten Ereignisse oder Handlungen überall ein richtiges Netz von Spionage und ständiger Einmischung gab.

M. FAURE: Stimmt es also, wenn man behauptet, daß diese Einmischungen der Deutschen in das Kommunalleben einen Eingriff in die nationale belgische Souveränität darstellten?

VAN DER ESSEN: Durchaus. Da sie das Grundprinzip der belgischen Verfassung abschafften, nämlich die Souveränität der Nation selbst und eben dieser Gemeinderäte, die die Stadtverordneten ernannten, die dann ihrerseits die Bürgermeister wählten, konnten von da an diese ihre Stimme nicht mehr unter normalen Bedingungen vernehmen lassen, so daß die Souveränität des belgischen Volkes dadurch direkt beeinträchtigt war.

M. FAURE: Da Sie Universitätsprofessor sind, können Sie uns hier Angaben über die Einmischungen in das Erziehungswesen machen?

VAN DER ESSEN: Ja. Zunächst gab es im Schulwesen Einmischungen bei den Volks- und Mittelschulen auf dem Wege über den Generalsekretär für Volkserziehung, auf den die Deutschen einen Druck ausübten. Es wurde eine Kommission eingesetzt, die die Reinigung der Lehrbücher vorzunehmen hatte. Es war verboten, noch Lehrbücher zu benutzen, die die Taten der Deutschen in Belgien während des Krieges von 1914/18 in Belgien behandelten. Dieses Kapitel war vollständig verboten. Diese Bücher durften in den Bibliotheken und Verlagshäusern nur unter der Bedingung ausgegeben werden, daß der Verkäufer oder der Bibliothekar dieses Kapitel herausriß.

Bei neuen Büchern, die wiedergedruckt oder neu herausgegeben werden mußten, gab die Kommission genau an, was definitiv zu verschwinden hatte.

Soviel über die sehr beunruhigenden und sehr bedeutsamen Einmischungen in das Volks- und Mittelschulwesen.

Bei dem höheren Schulwesen begann die Einmischung sozusagen sogleich mit der Besetzung, und ganz zuerst – aus Gründen, die ich hier nicht anzuführen brauche, die aber jeder kennt – bei der freien Universität von Brüssel. Die Deutschen haben zunächst der Universität Brüssel einen deutschen Kommissar aufgezwungen. Dieser Kommissar hatte die ganze Organisation der Universität unter sich, wodurch er sie kontrollierte, und ich glaube sogar auch die Rechnungsführung.

Ferner wurden Austauschprofessoren aufgezwungen. Aber die großen Schwierigkeiten begannen, als die Deutschen in Brüssel wie überall verlangten, daß man ihnen alle Ernennungsvorschläge und alle Neuernennungen von Professoren unterbreite, sowie die Verteilung der Vorlesungen und der verschiedenen Lehrfächer der Universität. Die Folge davon war, daß sie in Brüssel auf Grund dieses angemaßten Rechtes drei Professoren einsetzen wollten, von denen zwei offenkundig für jeden Belgier, der dieses Namens würdig ist, unannehmbar waren.

Einer war Mitglied des flämischen Rates während der Besetzung von 1914/18 gewesen und deshalb von den Gerichten dieses Landes zum Tode verurteilt worden. 1940 wollte man ihn als Professor an der Universität Brüssel einsetzen. Angesichts dieser Umstände weigerte sich die Universität, diesen Professor aufzunehmen, was von der Besatzungsmacht als Sabotage betrachtet wurde. Als Sühnemaßnahme hierfür wurden der Präsident des Verwaltungsrates der Universität und dessen bedeutendste Mitglieder, die Dekane der wichtigsten Fakultäten und einige andere Professoren, die als Antifaschisten besonders bekannt waren, verhaftet und in das Gefängnis von Witte unter dem erschwerenden Umstand gesperrt, daß sie als Geiseln betrachtet wurden und als solche, falls sich irgendein Sabotage- oder Widerstandsakt ereignete, erschossen werden konnten.

Was die anderen Universitäten angeht, so habe ich bereits gesagt, daß man ihnen Austauschprofessoren aufzwingen wollte. In Loewen hatten wir keine. Wir lehnten ihre Aufnahme kategorisch ab, um so mehr, als es sich herausstellte, daß diese Austauschprofessoren nicht in erster Linie Wissenschaftler waren, die die Ergebnisse ihrer Untersuchungen und wissenschaftlichen Arbeiten weitergeben wollten, sondern zum größten Teil vielmehr Beobachtungsagenten für die Besatzungsmacht.

M. FAURE: Hierzu möchte ich Sie fragen, ob es stimmt, daß die belgischen Behörden den Bericht eines dieser »eingeladenen« Professoren entdecken konnten?

VAN DER ESSEN: Ja, das stimmt. Die belgischen Behörden konnten sich den Bericht des Professors von Mackensen sichern, der als Austauschprofessor an die Universität Gent geschickt worden war. Dieser übrigens mit unendlicher Sorgfalt verfaßte Bericht ist eine außerordentlich interessante Lektüre wegen der persönlichen und psychologischen Beobachtungen über die einzelnen Mitglieder der Fakultät Gent. Man ersieht daraus sehr gut, daß dort jedermann Tag für Tag genau beobachtet wurde; daß die Tendenzen verzeichnet wurden, daß weitergegeben wurde, ob man für oder gegen das Regime der Besatzungsmacht war, ob man irgendwelche Beziehungen mit NP oder rexistischen Studenten unterhielt.

Kurz gesagt, die geringsten Handlungen aller Professoren des Lehrkörpers wurden sorgfältig verzeichnet, ich möchte hinzufügen, mit großer Präzision und Genauigkeit. Es war eine fast wissenschaftliche Arbeit – aber eine solche von Denunzianten.

M. FAURE: Herr van der Essen, ich habe heute morgen dem Gerichtshof einige Zwischenfälle vorgetragen, die an der Universität Loewen, deren Generalsekretär Sie sind, vorgefallen sind.

Ich möchte nun gern, daß Sie dem Gerichtshof ganz kurz die Tatsache dieser Zwischenfälle darlegen, insbesondere die Verhaftung des Rektors Magister van Wayenberg.

VAN DER ESSEN: Ja! Die großen Schwierigkeiten an der Universität Loewen haben nach Erscheinen der Verordnung über die Arbeitsdienstpflicht vom 6. März 1943 angefangen. Nach dieser Verordnung waren die Studenten der Universität verpflichtet, Pflichtarbeit anzunehmen; ich füge hinzu, nicht im Reichsgebiet, sondern in Belgien. Allein die Folge dieser Tatsache, dieser scheinbaren Bevorzugung der Studenten, war für die belgischen Patrioten aus dem sehr einfachen Grunde völlig unannehmbar, weil die Studenten, wenn sie zur Arbeit in den belgischen Fabriken bereit waren, dadurch die Arbeiter verdrängten, und die letzteren dann nach Deutschland überführt wurden, wenn die Studenten ihre Plätze einnahmen.

Aus diesen Gründen haben es die Studenten abgelehnt; erstens wollten sie nicht für den Feind arbeiten und zweitens aus Solidaritätsgründen mit der schwer leidenden Arbeiterklasse.

In Loewen waren es sicherlich zwei Drittel der Studenten, die die Pflichtarbeit verweigerten. Sie wurden zu Widerspenstigen, die Hörsäle leerten sich und sie versteckten sich, so gut sie nur konnten, und mehrere sind zum Maquis gegangen.

Als die deutschen Behörden sahen, welchen Lauf die Ereignisse nahmen, verlangten sie die Aushändigung der Studentenlisten mit deren Anschriften, um sie in ihren Wohnungen verhaften lassen zu können, oder, falls man sie nicht fand, an ihrer Stelle einen Bruder, eine Schwester, einen Vater, eine Mutter. Es wurde also hier, wie in allen anderen Fällen, das Prinzip der kollektiven Haftung angewandt.

Nachdem sie zuerst milde Maßnahmen, dann systematische Erpressungen angewandt hatten, gingen sie schließlich zu ganz brutalen Mitteln über. Sie machten erneut Haussuchungen und haben Dr. Tschacke, Dr. Kalisch, glaube ich, und auch noch viele andere wieder hingeschickt. Sie kamen, um die Universitätsbüros zu durchsuchen und die Liste sicherzustellen; da diese aber sorgfältig versteckt war, mußten sie unverrichteter Dinge wieder abziehen. Infolgedessen entschlossen sie sich, den Rektor der Universität Loewen, Magister van Wayenberg, der alle Listen an einer nur ihm bekannten Stelle versteckt hatte, verhaften zu lassen. Er erklärte, daß er allein diese Stelle kenne, um seine Kollegen und die Mitglieder des Lehrkörpers nicht zu gefährden. Eines Morgens im Juni kamen zwei Mitglieder der Sicherheitspolizei Brüssel in Begleitung von Feldgendarmen in die Halle; sie verhafteten den Rektor in seinem Büro und überführten ihn nach Saint-Gilles in Brüssel, wo er eingesperrt wurde.

Kurze Zeit danach erschien er vor einem deutschen Gericht, das ihn wegen Sabotage zu achtzehn Monaten Gefängnis verurteilte. Ich muß wahrheitsgemäß sagen, daß er davon tatsächlich nur sechs Monate abgesessen hat, aus dem sehr einfachen Grunde, weil der Arzt von Saint-Gilles bemerkte, daß der Gesundheitszustand des Rektors sich verschlechterte, und weil es gefährlich erschien, ihn länger festzuhalten, ohne einen schwerwiegenden Zwischenfall heraufzubeschwören. Auch auf vielfache Interventionen aller möglichen Autoritäten hat man den Rektor dann wieder in Freiheit gesetzt, ihm aber strengstens verboten, das Gebiet von Loewen zu betreten. Der Universität wurde der ausdrückliche Befehl gegeben, einen neuen Rektor zu ernennen; dies wurde abgelehnt.

M. FAURE: Gut. Stimmt es, daß die deutschen Behörden ganz systematisch die intellektuelle Elite verfolgt haben?

VAN DER ESSEN: Jawohl, hierüber kann es keinen Zweifel geben, und ich kann als Beispiel die folgenden Tatsachen angeben: Bei der Geiselverhaftung waren es fast immer Universitätsprofessoren, Ärzte, Anwälte und Gelehrte, die als Geiseln zur Begleitung der Militärzüge genommen wurden. Zu der Zeit, als die Widerstandsbewegung Sabotageakte gegen die Eisenbahnstrecken unternahm und Züge in die Luft sprengte, nahm man mir bekannte Universitätsprofessoren aus Gent, Lüttich und Brüssel und steckte sie in den ersten Wagen hinter der Lokomotive, so daß sie im Falle eines Attentats unbedingt dem Tode ausgesetzt waren.

Ich kenne einen ganz typischen Fall, der Ihnen zeigen wird, daß es sich dabei nicht um eine Vergnügungsfahrt handelte. Zwei Professoren aus Lüttich befanden sich in einem Zug dieser Art und wohnten folgendem Vorfall bei: Die Lokomotive fuhr über den Sprengstoff weg, der Wagen, in dem sie sich befanden durch einen ganz außergewöhnlichen Zufall ebenfalls, aber der zweite Wagen, in dem sich die deutschen Wachmannschaften befanden, ging in die Luft, und alle deutschen Wachmannschaften wurden getötet.

Andererseits wurden mehrere Professoren und Intellektuelle in jenes unheilvolle Lager von Breendonck, das Sie kennen, deportiert, die einen wegen ihrer Widerstandsakte, die anderen aus völlig unbekannten Motiven; wieder andere wurden nach Deutschland verschickt. So wurden Professoren aus Loewen nach Buchenwald, zum Kommando Dora, nach Neuengamme, Groß-Rosen oder vielleicht noch wo anders hin verschickt, und ich möchte hinzufügen, daß nicht nur Professoren aus Loewen deportiert wurden, sondern auch Intellektuelle, die im öffentlichen Leben des Landes eine wichtige Rolle spielten. Und ich kann Ihnen hierfür sofort einen Beweis erbringen: In Loewen habe ich selbst bei der feierlichen Eröffnung der Universität in diesem Jahre als Generalsekretär der Universität den Totenappell vorgenommen, den Appell derjenigen, die während des Krieges umgekommen sind. Diese Liste enthielt 348 Namen, wenn ich mich recht entsinne; etwa 30 von ihnen gehörten den im Jahre 1940 in den Kämpfen an der Schelde und der Lys gefallenen Soldaten. Alle anderen waren Opfer der Gestapo oder starben in den Lagern Deutschlands, besonders in den Lagern Groß- Rosen und Neuengamme. Außerdem steht fest, daß die Deutschen allgemein die Intellektuellen verfolgten, in der Art, daß sie von Zeit zu Zeit in der Presse eine synchronisierte Kampagne losließen, in der sie unter Beweis stellten, daß die Intellektuellen sich in ihrer großen Mehrzahl kategorisch weigerten, der neuen Ordnung beizutreten, und daß sie insbesondere die Notwendigkeit des Kampfes gegen den Bolschewismus nicht verstehen wollten. Die Schlußfolgerung, die in diesen Artikeln gezogen wurde, war, daß man Maßnahmen gegen sie ergreifen müsse, und ich entsinne mich sehr gut gewisser Zeitungsartikel, die einfach vorschlugen, diese Intellektuellen in ein Konzentrationslager zu verschicken. Es kann also nicht dem geringsten Zweifel unterliegen, daß die Intellektuellen überlegt herausgegriffen wurden.

M. FAURE: Ich werde Ihnen keine Fragen über die Deportierungen oder über die Lager stellen, denn all dies ist dem Gerichtshof zur Genüge bekannt; und ich bitte Sie, bei der Beantwortung der nun folgenden Frage nicht über die Deportierungen zu sprechen. Meine Frage bezieht sich auf die Komplexe von Greueltaten, die die Deutschen in Belgien und insbesondere die Armeen bei der Offensive vom Dezember 1944 in den Ardennen begangen haben sollen. Können Sie hierüber Angaben machen?

VAN DER ESSEN: Ja, und ich kann Ihnen präzise und ausführliche Angaben, wenn es nötig sein sollte, über die Verbrechen und Greueltaten bei der Offensive von Rundstedts in den Ardennen um so besser machen, als ich ja Mitglied der Kommission für Kriegsverbrechen bin, und an Ort und Stelle Untersuchungen angestellt und diejenigen Zeugen vernommen habe, die diese Massenmorde überlebt haben, und ich weiß somit genau aus eigener Kenntnis, was vorgefallen ist.

Während der Offensive von Rundstedts in den Ardennen wurden geradezu abscheuliche Verbrechen begangen, und zwar in einunddreißig Ortschaften der Ardennen. Diese Verbrechen trafen Männer, Frauen und Kinder. Auf Verbrechen, die von einzelnen Soldaten begangen wurden, wie das auch anderswo und bei allen Kriegen der Fall ist, will ich nicht eingehen; aber das, was ich besonders herausstellen möchte, das sind die Verbrechen, die von ganzen, formell dazu angewiesenen Einheiten begangen wurden, und außerdem die von den bekannten Organisationen begangenen Verbrechen, die, wenn ich mich recht erinnere, den Namen »Kommandos zur besonderen Verwendung« trugen. Diese haben nicht nur in den belgischen Ardennen gewütet, sondern auch in derselben Weise in dem Großherzogtum Luxemburg Verbrechen begangen.

Was die erste Kategorie angeht – Verbrechen von ganzen Einheiten – möchte ich nur, um hier nicht zu ausführlich zu werden, ein typisches Beispiel geben. In der Stadt Stavelot sind 140 Personen – die Zahl schwankt, sagen wir 137 bis 140 –, zuerst waren es 137, später hat man noch mehr Leichen aufgefunden – also etwa 140 Personen, darunter 36 Frauen und 22 Kinder, deren ältestes 14 Jahre alt war und das jüngste 4 Jahre, brutal niedergeschossen worden, und zwar von deutschen Einheiten, die den SS-Panzern angehörten. Die eine war die Division »Hohenstaufen« und die andere die SS-Division »Leibstandarte Adolf Hitler«.

Diese Einheiten sind wie folgt vorgegangen; wir sind hierüber von einem Soldaten ausgezeichnet unterrichtet worden, der daran teilgenommen hat: Er wurde durch die belgische Sicherheitspolizei verhaftet. Er war während Rundstedts Feldzug desertiert, warf sich in Zivilkleidung und arbeitete schließlich auf einem Bauernhof in den Ardennen. Eines Tages hat die belgische Gendarmerie, als er mit nacktem Oberkörper bei der Arbeit war, seine Tätowierung erkannt und daraus ersehen, daß er der SS angehörte. Er wurde sofort verhaftet und verhört.

Die Soldaten der Division »Hohenstaufen« sind also so vorgegangen: Es gab eine Panzerlinie Königstiger, der Schützenpanzer vorangingen und folgten. Zu einer bestimmten Zeit ließ der Obersturmführer dieser Formation seine Leute halten und erklärte ihnen, daß alle Zivilpersonen, denen sie begegneten, niedergeschossen werden sollten. Dann bestiegen sie wieder die Panzer und beim Vorrücken der Panzerlinie zeigte er mit dem Finger auf ein Haus: Dann schossen die Soldaten mit Maschinengewehren in das Haus und gingen hinein. Wenn sie die Leute in der Küche antrafen, schlugen sie sie in der Küche tot; wenn sie in den Keller geflüchtet waren, dann schossen die Soldaten eine Salve in den Keller. Wer auf der Straße angetroffen wurde, wurde auf der Straße niedergeschossen.

Nicht nur die Division »Hohenstaufen«, sondern auch die »Leibstandarte Adolf Hitler« und andere haben auf diese Weise gehandelt, und zwar nach dem ausdrücklichen Befehl, alle Zivilpersonen zu töten. Warum? Weil bei dem Rückzug im September hauptsächlich in diesen Gebieten der Ardennen der Widerstand in Aktion trat und eine ganze Anzahl deutscher Soldaten niedergeschossen wurde. Um sich für diesen Mißerfolg an der Widerstandsbewegung zu rächen, war der Befehl ergangen, alle Zivilpersonen schonungslos niederzumachen, die bei der Offensive in dieser Gegend angetroffen würden.

Das andere System ist im Hinblick auf die Verantwortlichkeit noch wichtiger; hier handelt es sich um die Anführer der Sicherheitspolizeitrupps. Diese Sicherheitspolizei pflegte meistens in den Dörfern, in die sie kam, die Bevölkerung sofort über Personen zu verhören, die sich der Widerstandsbewegung angeschlossen hatten, ferner über die Geheimarmee, über den Aufenthaltsort dieser Leute, ob sie geflüchtet seien oder nicht. Kurz gesagt, sie hatten vorgedruckte maschinengeschriebene Fragebogen bei sich, die stets die gleichen siebenundzwanzig Fragen enthielten. Diese Fragen stellten sie überall in allen Dörfern, in welche sie eindrangen. Und jetzt – ich verfahre genau so wie bei Nummer I – möchte ich nur das Beispiel von Bande, Kreis Marche, zitieren, um die Geduld des Gerichtshofs nicht unnötig in Anspruch zu nehmen.

In Bande hat eine dieser Abteilungen der Sicherheitspolizei, deren Offiziere selbst erklärten, von Himmler besonders abkommandiert worden zu sein, um die Leute der Widerstandsbewegung hinzurichten, alle Männer zwischen 17 und 32 Jahren zusammengeholt; und nach einem gründlichen Verhör und einer völlig willkürlichen Auslese – man hat keiner Mitglieder der Widerstandsbewegung habhaft werden können, denn die Mehrzahl der Leute hat niemals zu diesen Mitgliedern gezählt, und dort gab es überhaupt nur vier – führten sie die Männer, die Hände an den Nacken gelegt, die Hauptstraße von Marche nach Basteuil entlang. Als sie vor einem Haus ankamen, das im September durch Feuer zerstört worden war, stellte sich der kommandierende Offizier in den Eingang des Hauses. Ein Feldwebel trat neben ihn, legte dem letzten Mann der dritten Reihe, der inzwischen in das Haus hineingegangen war, die Hand auf die Schulter und tötete ihn mit einer Maschinenpistole durch Genickschuß. Dann wurden die vierunddreißig jungen Leute, die man genau so festhielt, auf die gleiche Weise von dem Offizier hingerichtet. Er begnügte sich nicht damit, sie so niederzuschießen, sondern er stieß die Leichen mit einem Fußtritt in den Keller hinunter und ließ noch eine Maschinenpistolensalve auf sie los, um ganz sicher zu sein, daß sie auch tot waren.

M. FAURE: Herr van der Essen! Sie sind Historiker, Sie haben Wissenschaftler ausgebildet, Sie haben somit die Gewohnheit, die Geschichtsquellen kritisch zu betrachten. Können Sie uns auf Grund Ihrer Untersuchung sagen, daß Sie keinen Zweifel darüber haben, daß hinter diesen Greueltaten eine allgemeine Organisation, ganz bestimmt aber Befehle von höherer Stelle stehen?

VAN DER ESSEN: Ja, ich bin völlig davon überzeugt, daß es sich hier um eine allgemeine Organisation handelt.

M. FAURE: Ich möchte Ihnen noch eine letzte Frage stellen. Ich glaube verstanden zu haben, daß Sie selbst niemals verhaftet oder von den Deutschen irgendwie besonders belästigt worden sind. Ich möchte wissen, ob Sie der Ansicht sind, daß es einem freien Menschen, der nicht ›besonders‹ von der deutschen Verwaltung oder Polizei belästigt wurde, möglich war, während der deutschen Nazi-Besetzung ein Leben gemäß den Vorstellungen zu führen, die ein freier Mensch sich von der Menschenwürde macht?

VAN DER ESSEN: Wie Sie mich hier vor sich sehen, wiege ich 67 Kilogramm. Ich bin 1,67 m groß; das ist völlig normal, wenn ich meinen medizinischen Kollegen glauben darf. Vor dem 10. Mai 1940, bevor die Luftwaffe ohne Kriegserklärung Zerstörung und Tod über Belgien brachte, wog ich 82 Kilogramm. Dieser Unterschied ist zweifellos eine Folge der Besetzung. Ich will aber keine persönlichen oder allgemein theoretischen oder philosophischen Betrachtungen anstellen, ich möchte Ihnen nur schildern – das dauert nur zwei Minuten –, wie der Alltag eines durchschnittlichen Belgiers während der Besatzungszeit verlief.

Ich werde einen Tag des Winters 1943 wählen. Um 6.00 Uhr morgens läutet es. Der erste Gedanke, den man hat, den wir alle hatten, ist natürlich: die Gestapo. Es war nicht die Gestapo, es war ein Stadtgendarm, der mir mitteilte, daß in meinem Büro Licht brenne und ich in Zukunft aufpassen müsse, den Erfordernissen der Besatzung nachzukommen. Es war nichts, aber der nervöse Schock war da. Um einhalb acht Uhr kommt der Briefträger mit meiner Post. Er erklärt dem Dienstmädchen, daß er mich persönlich sehen möchte. Ich komme hinunter, und er sagt zu mir: »Herr Professor, Sie wissen, daß ich Mitglied der Geheimen Armee bin, und ich weiß, was vorgeht. Die Deutschen wollen heute um 10.00 Uhr alle ehemaligen Angehörigen des belgischen Heeres in diesem Gebiet verhaften. Ihr Sohn muß sofort verschwinden.«

Ich gehe sogleich zu meinem Sohn, um ihn zu wecken; lasse ihn seine Sachen packen und schicke ihn an einen Ort, wo er bleiben kann. Um 10.00 Uhr fahre ich mit der Bahn nach Brüssel. Einige Kilometer vor Loewen hält die Bahn, Patrouillen der Feldgendarmerie befehlen uns allen auszusteigen und stellen uns, ohne auf soziale oder andere Unterschiede Rücksicht zu nehmen, an die Wand, das Gesicht gegen die Wand gekehrt, Hände in der Luft und durchsuchen uns. Da man weder Waffen noch kompromittierende Papiere findet, läßt man uns wieder einsteigen und wir fahren weiter. Einige Kilometer weiter hält die Bahn wegen einer Ansammlung auf der Straße. Ich sehe weinende Frauen, höre Schreie und Wehklagen und frage, was dort los sei. Bewohner des Dorfes sollten in der Nacht von der Sicherheitspolizei verhaftet werden, weil sie sich weigerten, Zwangsarbeit zu leisten. Sie waren fort und an ihrer Stelle hat man den 82 Jahre alten Vater und die 16jährige Tochter verhaftet.

Ich komme nach Brüssel, um einer Sitzung der Akademie beizuwohnen. Als erstes sagt der Präsident zu mir: »Hast du gehört, was geschehen ist? Zwei unserer Kollegen sind gestern auf offener Straße verhaftet worden. Ihre Familien sind in furchtbarer Sorge, niemand weiß, wo sie sind.« Am Abend komme ich zurück, und wieder hält man uns zweimal unterwegs an; einmal, um nach Terroristen zu suchen, die die Flucht ergriffen haben sollen, dann um nachzusehen, ob jeder seine Papiere habe, bis ich schließlich ohne größere Zwischenfälle wieder zu Hause ankomme.

Ich glaube, hier sagen zu dürfen, daß man erst um 9.00 Uhr abends einen Seufzer der Erleichterung ausstoßen konnte, als wir unseren Radioapparat einschalteten und die sympathische Stimme ertönte, der wir jeden Abend zuhörten: die Stimme des kämpfenden Frankreichs: »Heute der 189. Tag des Befreiungskampfes des französischen Volkes«, oder die Stimme von Victor Delabley, diesem edlen Menschen des belgischen Rundfunks in London, der zum Schluß rief: »Kopf hoch! Wir werden sie schon bekommen, die Boches!« Dies, und nur dies allein, ließ uns aufatmen und ruhig schlafen.

Hier haben Sie den normalen Alltag eines belgischen Bürgers während der deutschen Besetzung. Sie werden verstehen, daß wir dies nicht als das Zeitalter des Glückes und der Seligkeit betrachten konnten, das man uns am 10. Mai 1940 versprach, als man in Belgien eindrang.

M. FAURE: Verzeihen Sie, Herr van der Essen, aber ich nehme an, daß diese einzige Freude, den Londoner Rundfunk abzuhören, schwer bestraft wurde, wenn man Sie ertappte?

VAN DER ESSEN: Ja, mit Gefängnisstrafe.

M. FAURE: Ich danke Ihnen.

VORSITZENDER: Sind Sie fertig, Herr Faure?

M. FAURE: Ich habe keine Fragen mehr, Herr Vorsitzender.

VORSITZENDER: General Rudenko? Die amerikanischen oder britischen Herren Ankläger?

GENERAL RUDENKO: Ich habe keine Fragen.

VORSITZENDER: Wünscht einer der Herren Verteidiger Fragen an den Zeugen zu richten?

PROF. DR. EXNER: Jawohl!

Herr Zeuge, ich möchte nur wegen der Universitätsbibliothek in Loewen etwas von Ihnen hören. Waren Sie selbst in Loewen, als die zwei Patrouillen am 17. Mai 1940 auf die Bibliotheken schossen und nur auf die Bibliothek?

VAN DER ESSEN: Ich war nicht in Loewen, aber ich muß hinzufügen, daß Loewen an der Linie K. O. lag, also direkt an der Kampflinie. Die Bevölkerung von Loewen hatte von den britischen Behörden den Befehl erhalten, die Stadt am 14. zu evakuieren, so daß also fast alle Einwohner fort waren, als diese Ereignisse stattfanden, und nur Lahme und Kranke, die nicht evakuiert werden konnten und in die Keller geflüchtet waren, noch dort waren. Aber was ich Ihnen über die Batterien hier berichtet habe, weiß ich durch ein Verhör von zwei Zeugen, die außerhalb der Stadt waren. Die Bibliothek ist nicht von innen in Brand gesetzt worden, sondern von außen, und die betreffenden Zeugen wohnten in den außerhalb der Stadt liegenden zwei Dörfern, um die es sich hier handelt.

PROF. DR. EXNER: Waren zu der Zeit noch belgische oder englische Truppen in der Stadt?

VAN DER ESSEN: Die belgischen Truppen waren nicht mehr da. Die Belgier waren von britischen Truppen abgelöst worden, als sie diesen Sektor wieder einnahmen. In dem Augenblick, als man den Bibliotheksbrand entdeckte – die ersten Flammen wurden in der Nacht vom 16. auf den 17. um 1.30 Uhr morgens bemerkt –, waren die englischen Truppen schon fort. Es gab nur noch einige abrückende Tanks, die von Zeit zu Zeit noch einige Kanonenschüsse abgaben, damit der Gegner glaube, daß der Sektor noch von den Briten besetzt sei.

PROF. DR. EXNER: Also, es waren noch englische Truppen in der Stadt, als die Beschießung begann?

VAN DER ESSEN: Es waren keine britischen Truppen mehr da. Nur auf den Hügeln um Loewen, Richtung Brüssel, gab es noch einige Tanks, die die notwendigen Rückzugsmanöver ausführten. Ich möchte noch hinzufügen und dem Herrn Verteidiger sagen, daß nach den Aussagen der Personen, die in der Bibliothek waren, das heißt der Pförtner und der Amtsleute, nicht ein einziger britischer Soldat seinen Fuß in das Gebäude der Bibliothek gesetzt hat.

PROF. DR. EXNER: Ja, das wundert mich nicht. Haben zur Zeit, als die deutschen Batterien geschossen haben, auch noch belgische und englische Batterien geschossen?

VAN DER ESSEN: Nein.

PROF. DR. EXNER: Nein. Also damals hat tief er Friede geherrscht, offenbar, in der Stadt Loewen, denn die Truppen waren weg, die Feinde waren noch nicht da und Batterien haben nicht geschossen.

VAN DER ESSEN: Ja, das ist gerade die etwas paradoxe Lage, in der sich Loewen befand. Es hat einen Augenblick gegeben, in dem die Engländer fort und die Deutschen noch nicht da waren, und wo nur einige Lahme und nicht transportfähige Kranke in den Kellern waren. Ein paar Leute waren zurückgeblieben, wie der Chef der Feuerwehr und auch Magister van Wayenberg, der Rektor der Universität, der mit dem Auto der Feuerwehr die Toten und Sterbenden von Loewen nach Brüssel abtransportierte; er hat diese Fahrt mehrmals gemacht; dann war dort noch mein Kollege Dr. Kennog, Mitglied der medizinischen Fakultät, der die Leitung der Stadt übernahm.

PROF. DR. EXNER: Wissen Sie, wo diese Batterien gestanden sind, die deutschen?

VAN DER ESSEN: Ja. Die eine in Corbeek, die andere in Lovenjoul. Die eine im Osten und die andere im Norden. Die einzigen Einschlagstellen, die der Turm der Bibliothek aufweist, sind vier an der Ostseite und sieben an der Nordseite. Wenn noch belgische oder britische Batterien dagewesen wären, hätten diese Einschüsse genau auf der entgegengesetzten Seite sein müssen.

PROF. DR. EXNER: Wissen Sie etwas über das Kaliber dieser Batterien?

VAN DER ESSEN: Über das Kaliber der Batterien?

PROF. DR. EXNER: Ja.

VAN DER ESSEN: Ja. Man hat die Geschosse aufbewahrt und augenblicklich befinden sie sich in der Bibliothek der Universität oder besser darin, was als Bibliothek dient. Dort befinden sich vier vollständige Geschosse und zwei oder drei Splitter.

PROF. DR. EXNER: Und wissen Sie den Namen des Bauern, der angeblich von einem deutschen Offizier gefragt worden ist, ob das wirklich die Universitätsbibliothek ist? Kennen Sie den Bauern persönlich?

VAN DER ESSEN: Ja, sein Name ist Vigneron. Aber ich kenne ihn nicht persönlich. Der Bibliothekar der Universität, der mit ihm eine Unterredung hatte, veranlaßte die »Kommission zur Feststellung von Kriegsverbrechen«, den in Rede stehenden Bauern zu vernehmen.

PROF. DR. EXNER: Aber Sie sind ja selbst Mitglied der Kommission, nicht?

VAN DER ESSEN: Ja. Ich bin bereit, hier zu erklären, daß ich an der Untersuchung betreffend die Bibliothek von Loewen nicht unmittelbar beteiligt war, ebensowenig wie der Universitätsrektor und der Bibliothekar an dieser Unternehmung teilgenommen haben. Diese wurden von einem Beamten der Justizdelegation vorgenommen, der einzig und allein und vollkommen auf Befehl des Staatsanwalts von Louvain handelte, und wir standen ganz außerhalb dieser Angelegenheit.

PROF. DR. EXNER: Haben Sie die Akten gesehen?

VAN DER ESSEN: Was wollen Sie sagen?

PROF. DR. EXNER: Es wundert mich, daß man sie nicht hergebracht hat. Sagen Sie, warum hat sich der Direktor der Bibliothek oder der unmittelbar Betroffene nicht nach Besetzung der Stadt an den Bürgermeister, oder der Bürgermeister an den Stadtkommandanten gewendet?

VAN DER ESSEN: Ich habe Ihre Frage nicht ganz verstanden.

PROF. DR. EXNER: Als das deutsche Militär kam, da wurde ein Stadtkommandant eingesetzt. Warum hat sich nicht entweder der Bürgermeister oder der Direktor der Universitätsbibliothek an den Stadtkommandanten gewandt und diese Sache vorgebracht?

VAN DER ESSEN: Warum diese Sache nicht vorgebracht wurde? Aus dem einfachen Grunde, weil zu diesem Zeitpunkt fast niemand mehr in der Stadt anwesend war und eine allgemeine Verwirrung herrschte.

Gleich nach der Ankunft des deutschen Heeres wurde der Zugang zur Bibliothek systematisch und endgültig gesperrt, so daß die Belgier nicht die geringsten Untersuchungen mehr durchführen konnten. Dann trafen zwei deutsche Untersuchungskommissionen an Ort und Stelle ein. Die erste nahm am 26. Mai 1940 Untersuchungen vor. Als Sachverständiger kam Professor Kellermann von der Technischen Hochschule in Aachen, der von einem Mitglied der Partei in braunem Hemd begleitet wurde.

Sie haben die Vorfälle geprüft und ließen als Zeugen den Rektor der Universität und den Bibliothekar rufen. Gleich von Beginn der Untersuchung an versuchten sie, den Rektor und den Bibliothekar zu der Erklärung zu veranlassen, daß die Engländer die Bibliothek in Brand gesteckt hätten; als Beweis zeigte der Sachverständige eine Bombenhülse mit den Worten: »Riechen Sie doch, es riecht nach Benzin. Es wurden also Chemikalien zum Anzünden der Bibliothek verwendet.« Daraufhin fragten der Rektor und der Bibliothekar der Universität: »Wo haben Sie diese Hülse gefunden?« »An jener Stelle.« »Als wir dort vorbeigingen, war sie nicht dort,« hat der Rektor dann gesagt.

Der deutsche Sachverständige hatte sie dort hingelegt. Ich möchte mit Erlaubnis des Hohen Gerichtshofs der beträchtlichen Wichtigkeit halber hinzufügen, daß eine zweite Untersuchungskommission im Monat August 1940 eintraf, deren Leiter ein hervorragender Mann, der Obergerichtsrat von Neuß war. In seiner Begleitung war ein Sachverständiger, der die Untersuchungen über den Reichstagsbrand geführt hat.

Diese Kommission untersuchte wieder alles. In Anwesenheit des Rektors und eines anderen Zeugen, Krebs, eines Benediktinermönchs aus dem Kloster Mont-César, machten sie sich über die Schlußfolgerungen der ersten Kommission lustig und bezeichneten diese ganz offen vor den belgischen Zeugen als lächerlich.

PROF. DR. EXNER: Sie haben gesagt, daß das Bibliotheksgebäude Türme gehabt hat; wissen Sie vielleicht, ob Artilleriebeobachter auf den Türmen waren?

VAN DER ESSEN: Das einzige, was ich hierzu sagen kann, ist, daß der Rektor sich dem immer entgegengestellt hat, von Anfang an, und daß er jeden Versuch dieser Art abgewehrt hätte, weil er wußte, daß die Verwendung der Türme als Artilleriebeobachtungsposten offensichtlich dem Feind eine Gelegenheit und einen Grund gegeben hätte, die Bibliothek unter Feuer zu nehmen. Der Rektor war sich dessen bewußt und erklärte mir stets: »Wir müssen sehr achtgeben, daß britisches Militär oder andere in diesem Gebiet befindliche Truppen nicht auf die Türme steigen.«

Ich weiß aus Erklärungen des Pförtners, daß kein britischer Soldat je den Turm bestiegen hat. Das ist ganz sicher.

Was die Belgier betrifft, so muß ich sagen, daß ich nichts darüber weiß.

PROF. DR. EXNER: Es ist – es wäre an sich ja kein Wunder, wenn die Universitätsbibliothek getroffen worden wäre; endlich und schließlich ist ja während des Krieges auch die Universitätsbibliothek von Berlin, von Leipzig, von München, von Breslau, von Köln und so weiter getroffen worden. Es fragt sich nur, ob das absichtlich geschah, und da fällt mir der Bauer,...

VAN DER ESSEN: Der Bauer...

PROF. DR. EXNER: Ich möchte Sie fragen, ist in diesen Untersuchungen irgendetwas zur Sprache gekommen, was ein Motiv für das deutsche Militär gewesen sein könnte, gerade dies als Ziel zu nehmen?

VAN DER ESSEN: Nach all den mir zugegangenen Aussagen ist zu schließen, und zu diesem Ergebnis ist die Kommission gekommen, daß das Motiv, ich will nicht sagen das Hauptmotiv – denn bei derartigen Dingen gibt es keine vollkommene Sicherheit –, also ein durchaus wahrscheinliches und sogar ziemlich sicheres Motiv für die Zerstörung der Bibliothek war, daß die deutsche Armee ein Denkmal beseitigen wollte, welches dem Friedensvertrag von Versailles gesetzt war. Auf der Bibliothek befand sich die Statue einer behelmten Jungfrau, die mit dem Fuß einen Drachen, den Feind, zertritt. Aus gewissen Gesprächen deutscher Offiziere ließ sich ziemlich deutlich entnehmen, daß dieses Denkmal als Zeugnis der Niederlage des letzten Krieges und insbesondere des Versailler Vertrags vernichtet werden sollte, und deshalb wollte man jenes Gebäude systematisch in Brand stecken.

Ich möchte erwähnen, daß es nicht das erstemal war, daß die Deutschen die Universität von Loewen vernichtet hätten.

PROF. DR. EXNER: Sie meinen, der Batteriekommandant habe das gewußt?

VAN DER ESSEN: Da gibt es eine interessante Zeugenaussage, die ich dem Herrn Verteidiger vortragen möchte.

An dem Tage, an dem die beiden Batterien aufgestellt wurden, sprach ich mit einem Steuereinnehmer an der Straße nach Roosweek, einige Kilometer von Loewen. An jenem Nachmittag stiegen höhere Offiziere, er bezeichnete sie als das Kommando der deutschen Armee, bei ihm ab. Sie waren mit einem Lastwagen ausgerüstet, der alle möglichen Radiogeräte enthielt, um drahtlose Schießbefehle an die deutsche Artillerie geben zu können.

Diese Offiziere haben sich bei ihm eingerichtet, erhielten natürlich etwas zu essen und haben ihn zu ihrer Mahlzeit eingeladen. Nachdem er einen Augenblick gezögert hatte, nahm er die Einladung an, und im Laufe des Essens entstand eine sehr heftige Diskussion. Die Offiziere riefen: »Diese Schweine von Belgiern« – bitte entschuldigen Sie den Ausdruck, er wurde aber gebraucht – »haben doch diese Inschrift in der Bibliothek angebracht!« Sie spielten also auf die bekannte Inschrift »Furore teutonico« an, die niemals an der Bibliothek angebracht war. Aber alle deutschen Offiziere waren fest davon überzeugt, daß die Inschrift »Furore Teutonico Diruta Dono Americana Restituta«, zerstört durch deutsche Wut, wiedererrichtet durch amerikanische Schenkung, sich dort befinde.

Ich gebe aber durchaus zu, daß man in Deutschland geglaubt haben kann, sie sei dort angebracht gewesen. Der Umstand, daß eine Diskussion unter den Offizieren entstand, die diese beiden Batterien befehligten, scheint mir den Beweis dafür zu erbringen, daß, wenn auf die Bibliothek gezielt wurde, dies geschah, um ein Gebäude zu vernichten, in dem sich nach ihrer Anschauung eine für das deutsche Volk und die Armee beleidigende Inschrift befand.

Das war die Aussage, die ich dem Herrn Verteidiger geben kann, und ich sage wie es ist.

PROF. DR. EXNER: Und Sie meinen, der Hauptmann, der diese Batterie kommandiert hat, hatte die Inschrift schon gekannt?

VAN DER ESSEN: Ganz bestimmt.

PROF. DR. EXNER: Danke schön.

DR. STAHMER, VERTEIDIGER FÜR DEN ANGEKLAGTEN GÖRING: Herr Zeuge, Sie haben vorhin gesagt, dreiundvierzig Flugzeuge haben die Bibliothek überflogen und auf die Bibliothek Bomben geworfen. Wie Sie vorhin auf die Frage von Herrn Professor Exner gesagt haben, waren Sie ja selbst nicht in der Stadt anwesend. Woher haben Sie diese Nachricht?

VAN DER ESSEN: Wie ich bereits vorhin erwähnte, ist das, was ich aussagte, nicht meine eigene Wahrnehmung, denn es betrifft mich in keiner Weise, sondern die Zeugenaussage des Rechtsanwalts Davids, der ein Landhaus in Kesseloo besaß. Dieser Rechtsanwalt war morgens aufgestanden, um sich den Himmel anzusehen, denn in seinem Hause befanden sich viele Flüchtlinge, darunter Frauen und Kinder. Da ununterbrochen Flugzeuge zu sehen waren, verließ er das Haus an diesem Morgen, um zu sehen, was vorging. Er hat dieses Flugzeuggeschwader vorüberfliegen sehen und zählte es ab. Er selbst war ehemaliger Kriegsteilnehmer, er zählte dreiundvierzig Flugzeuge, die in der Richtung der Bibliothek von Loewen flogen. Als sie über der Bibliothek angekommen waren, fiel eine Bombe genau über dem Giebel, der am weitesten von dem Zeugen entfernt war. Gleich darauf sah der Zeuge Rauch aus dem Dach der Bibliothek aufsteigen.

Auf diese Zeugenaussage stützt sich meine Erklärung.

DR. STAHMER: Dann hat also eine einzige Bombe die Bibliothek getroffen?

VAN DER ESSEN: Ja, Herr Verteidiger, es gab sowohl Artilleriefeuer als auch Bomben, die von Flugzeugen abgeworfen wurden. Vom technischen Standpunkt aus gesehen, scheint es vollkommen sicher zu sein, daß eine Flugzeugbombe die Bibliothek getroffen hat, denn das Dach hatte eine Metalldecke, die den äußersten rechten Teil hält, bis auf die Stelle, wo sie in steilem Winkel geneigt ist. Nach Aussagen von Technikern, die wir darüber befragten, kann eine Beule in einer derartigen Metallmasse niemals von einem einfachen Artillerietreffer hervorgerufen werden, sondern sie stammt wahrscheinlich von einer Bombe, die auf diese Stelle gefallen ist.

DR. STAHMER: Wieviel Bomben wurden insgesamt von den Flugzeugen geworfen?

VAN DER ESSEN: Da der Zeuge sich auf einer das Gebiet von Loewen beherrschenden Höhe befand, von der aus er in der Ebene die Bibliothek liegen sah, konnte er natürlich die von den Flugzeugen abgeworfenen Bomben nicht zählen. Er hat nur gesehen, daß Bomben gefallen sind und dann eine Rauchwolke, die von der Bibliothek aufstieg.

DR. STAHMER: Wieviele Bombeneinschläge hat denn die Stadt aufzuweisen? Wieviele Bombeneinschläge sind in der Stadt festgestellt worden?

VAN DER ESSEN: Wieviele Bomben? Darüber kann ich Ihnen keine Auskunft geben. Ich weiß aber, daß Flugzeuge in gerader Linie von Norden nach Süden über das Bibliotheksviertel hinweggeflogen sind.

Durch diesen Bombenabwurf im Mai 1940 wurden das Höhere Philosophische Institut, das Pharmazeutische Institut, einige andere Universitätsinstitute sowie eine Anzahl von Privathäusern beschädigt, jedoch nicht ernstlich.

DR. STAHMER: Wann wurden die Bomben geworfen, vor der Beschießung oder nach der Artilleriebeschießung?

VAN DER ESSEN: Die Bomben wurden vorher und nachher abgeworfen. Es hat Luftangriffe gegeben. Ich selber habe am Nachmittag des 10. Mai 1940 einem furchtbaren Bombardement beigewohnt. Es wurden von einem Geschwader von sieben Flugzeugen Bomben abgeworfen. Ich bin kein Militärsachverständiger, aber ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie zwei Flugzeuge im Sturzflug die Brücke von Tirlemont bombardierten. Das Ergebnis war, daß eine große Anzahl von Häusern zerstört und 208 Personen am 10. Mai 1940 nachmittags getötet wurden.