[Das Gericht setzt die Verhandlung
für 10 Minuten aus.]
VORSITZENDER: Sollte sich der Sowjetankläger entscheiden, das Dokument vorzulegen, dann wird der Gerichtshof dieses als Beweismaterial zulassen. Wenn aber das Dokument als Beweisstück vorgelegt wird, dann wünscht der Gerichtshof, daß der Ankläger die Vorladung des Zeugen durchführt, so daß dieser ins Kreuzverhör genommen werden kann. Sollte die Anklagebehörde nicht in der Lage sein, den Zeugen herbeizuschaffen, so wird der Gerichtshof selbst den Versuch unternehmen, den Mann, der die Aussage gemacht hat, für das Kreuzverhör vorzuladen.
OBERST POKROWSKY: Ich kann dem Gerichtshof melden, daß ich die Zeit, während der sich der Gerichtshof beraten hat, dafür verwendet habe, um zu klären, ob wir den Zeugen herbeischaffen könnten. Ich habe jedoch keine erschöpfende Antwort erhalten. Deshalb entspreche ich dem Wunsche des Gerichtshofs und lasse vorläufig das Dokument beiseite. Ich werde darauf wieder zurückkommen, wenn es sich herausstellt, daß wir den Zeugen vorladen können. Ich glaube, daß dies dem Wunsche des Gerichtshofs entsprechen wird.
VORSITZENDER: Oberst Pokrowsky, ich bin nicht ganz sicher, ob Sie mich richtig verstanden haben. Was ich gesagt habe, ist folgendes: Es steht Ihnen frei, das Dokument jetzt vorzulegen, wenn Sie es wünschen. Das ist eine Sache für sich. Aber wenn Sie sich dahin entscheiden, dann müssen Sie versuchen, den Zeugen vorzuladen, und sollten Sie hierzu nicht imstande sein, dann wird der Gerichtshof versuchen, diesen hierher zu bringen. Aber das Dokument würde immer noch als Beweisstück zugelassen sein, es würde aus dem Protokoll nicht gestrichen werden, obwohl es dann selbstverständlich der Kritik ausgesetzt werden kann, daß es nur eine schriftliche Aussage oder ein Affidavit sei, und daß der Zeuge für das Kreuzverhör nicht zur Verfügung stehe. Deshalb wird die Aussage weniger Gewicht haben, als wenn der Zeuge für ein Kreuzverhör zur Verfügung gestanden hätte.
Ist das verständlich?
OBERST POKROWSKY: Wengler wurde von mir vernommen...
VORSITZENDER: Ich fürchte, daß ich das Wort »Affidavit« nicht richtig angewendet habe. Es war nur ein Verhör. Es wurde kein Eid geleistet, und das muß natürlich auch in Betracht gezogen werden.
Doch die Hauptsache ist: Sie können das Dokument vorlegen, wenn Sie es wünschen. Das liegt bei Ihnen. Wenn Sie dies jedoch tun, so müssen Sie versuchen, die Anwesenheit des Zeugen für ein Kreuzverhör sicherzustellen. Sollten Sie hierzu nicht in der Lage sein, so wird der Gerichtshof versuchen, den Zeugen zum Kreuzverhör herbeizuschaffen.
OBERST POKROWSKY: Als ich dem Gerichtshof über die von uns getroffenen Maßnahmen berichtete, ging ich von dem Standpunkt der vor der Vertagung gemachten Mitteilung aus. Ich habe sie so verstanden, daß es der Gerichtshof begrüßen würde, wenn jeder Zeuge, dessen Aussagen hier verlesen werden, vor dem Gerichtshof zur Vornahme eines ergänzenden Verhörs erscheinen würde. Deshalb habe ich versucht, ausfindig zu machen, ob wir diesen Zeugen jetzt vorladen können. Da ich noch keine endgültige Antwort von unseren Stellen erhalten habe, wollte ich dem Gerichtshof folgendes vorschlagen: wir werden dieses Protokoll jetzt überhaupt nicht erwähnen, da wir es nur für die Bestätigung eines Punktes brauchen, der bereits durch Dokumente, die dem Gerichtshof soeben vorgelegt wurden, und zwar durch den Bericht des Admirals Canaris, bestätigt ist. Worin liegt der Grund für das Verhör Wenglers? Der Grund liegt darin, daß aus ihm hervorgeht, daß das OKW von der Behandlung der Sowjetkriegsgefangenen Kenntnis hatte. Canaris bestätigt das gleiche.
VORSITZENDER: Ich glaube, Sie müssen sich entscheiden, Oberst Pokrowsky, ob Sie das Dokument vorlegen wollen oder nicht. Wenn Sie das Dokument vorlegen wollen, so können Sie dies tun, doch halte ich es nicht für korrekt, den Inhalt des Dokuments anzuführen und das Dokument selbst nicht vorzulegen. Wenn Sie das Dokument vorlegen wollen, so können Sie das tun. Ich habe bereits die Bedingungen angeführt; falls Sie das Dokument einreichen, müssen Sie versuchen, den Zeugen herbeizuschaffen. Sollten Sie dazu nicht in der Lage sein, so wird der Gerichtshof versuchen, ihn herbeizuschaffen.
OBERST POKROWSKY: Ich glaube, daß die Aussage Wenglers nicht so wichtig ist, daß wir ihr viel Aufmerksamkeit schenken sollen. Sollten wir den Zeugen vorladen können, werden wir das Dokument vorlegen.
VORSITZENDER: Gut.
OBERST POKROWSKY: Angesichts der im Protokoll verlesenen Dokumente und auch angesichts des Protestes der deutschen Kriegsgefangenen im Lager 78, der davon zeugt, wie human die Sowjetbehörde deutsche Kriegsgefangene behandelt hat, klingt der Satz aus dem Anhang 1 des Einsatzbefehls Nummer 14 des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD über die Behandlung der Sowjetkriegsgefangenen wie eine schamlose Verhöhnung. Dieser Satz ist im Dokument, das ich dem Gerichtshof als USSR-3 unterbreite, zu finden. Er steht auf Seite 204 des Dokumentenbuches:
»Dadurch hat der bolschewistische Soldat jeden Anspruch auf Behandlung als ehrenhafter Soldat und nach dem Genfer Abkommen verloren.«
Ich bitte den Gerichtshof, sich daran zu erinnern, daß im Anhang 2 des Befehls Nummer 11 des Generalstabs des OKW vom 7. November 1941 die folgende Anweisung enthalten ist. Ich zitiere aus Beweisstück USSR-3, aus dem Auszüge auf Seite 233 Ihres Dokumentenbuches enthalten sind, und zwar letzter Absatz der rechten Spalte im Original:
»Die Tätigkeit des Sonderkommandos hat sich mit Erlaubnis des Etappenkommandeurs (Bezirkskommandeurs für Kriegsgefangenenwesen) derart abzuwickeln, daß das Aussortieren möglichst unbemerkt vonstatten geht. Liquidationen sind ohne Verzug und in einer Entfernung vom Lager und bewohnten Plätzen auszuführen, die die Geheimhaltung vor den übrigen Kriegsgefangenen und der Bevölkerung gewährleisten.«
Das waren die »Abtransporte auf Lkw. irgendwohin in die Nähe«, an die der Berufshenker Kuntze dachte, als er seinen Vorgesetzten über den »bei der Hinrichtung von 28 kriegsgefangenen Invaliden passierten Vorfall« berichtete.
Unter den Dokumenten, die dem Gerichtshof von der Sowjetischen Delegation vorgelegt werden, befinden sich Angaben über die am 7. April 1945 erfolgte Erschießung von einhundertfünfzig sowjetischen Kriegsgefangenen und Zivilisten auf dem Seelhorster Friedhof in Hannover. Wir legen diese Angaben als Dokument USSR-112 vor. Sie finden das Protokoll, auf das ich mich berufe, auf Seite 207 des Dokumentenbuches. Es sind mehrere Berichte, darunter eines Offiziers der Roten Armee, Peter Palnikov, der der Erschießung entkommen konnte. Diese Berichte wurden uns von der Amerikanischen Untersuchungsbehörde zur Verfügung gestellt. Sie finden die Aussagen, auf die ich mich beziehe, auf Seite 207 Ihres Dokumentenbuches. Sie werden dort auch Aussagen anderer Personen aus der örtlichen Bevölkerung finden, die von den Amerikanischen Untersuchungsbehörden unter Eid vernommen wurden. Die Aussagen der Zeugen werden durch den ärztlichen Bericht über die aus den Gräbern auf dem Seelhorster Friedhof ausgegrabenen Leichen bestätigt. Weiterhin unterbreiten wir genau geprüfte und beglaubigte Photographien.
Ich werde diese Dokumente nicht alle verlesen, sondern nur darauf hinweisen, daß gemäß dem abschließenden Bericht der Kommission die einhundertsiebenundsechzig ausgegrabenen Leichen »Merkmale der Unterernährung in besonders großem Umfang« aufwiesen.
Diesen Umstand muß ich betonen, um dem Gerichtshof ein vollkommen klares Bild über die Ernährungslage der Sowjetkriegsgefangenen in den verschiedenen Lagern zu geben. Alle russischen Kriegsgefangenen wurden mit gleicher Grausamkeit und Konsequenz ausgehungert, ganz gleich in welchem der besetzten Gebiete sich das Lager befand.
Während ich über die an den Kriegsgefangenen begangenen hitlerischen Greueltaten berichte, verfügen wir bereits über verschiedene gerichtliche Urteile, die gegen solche faschistische Verbrecher verhängt wurden, die ihr Verbrechen in den zeitweilig besetzten Gebieten begangen haben. Gemäß Artikel 21 des Statuts unterbreite ich dem Gerichtshof als Beweisstück USSR-87 das Urteil eines Bezirks-Militärgerichts. Sie finden dieses Urteil auf den Seiten 215 bis 221 des Dokumentenbuches. Das Urteil wurde in Smolensk am 19. Dezember 1945 verkündet. Der Gerichtshof verurteilte zehn Nazis, die an zahlreichen Verbrechen beteiligt waren, die in der Stadt und im Gebiet Smolensk begangen wurden, und zwar zu verschiedenen Strafen: von zwölf Jahren Zwangsarbeit angefangen bis zum Tode durch den Strang.
Ich werde das Dokument nicht vollständig verlesen, möchte jedoch erwähnen, daß sich in den in Ihren Abschriften bezeichneten Stellen auf den Seiten 4, 5 und 6 des Urteilsspruches, das heißt auf den Seiten 218, 219 und 220 des Dokumentenbuches, Angaben befinden, die von der durch Blutvergiftung verursachten Qual und dem Tod der für pseudowissenschaftliche Experimente benützten Gefangenen handeln. Diese Experimente wurden von Leuten vorgenommen, die in Deutschland zur Schande der deutschen Medizin Professoren und Doktoren genannt wurden.
Dort wird weiter erwähnt, wie auf dem Wege von Wjasma nach Smolensk ungefähr 10000 halblebende erschöpfte Menschen durch bestialische Behandlung seitens der Wachen vernichtet wurden.
Diese Stelle des Berichts werden Sie unter Punkt 3 des Urteilsspruches finden, was der Seite 218 Ihres Dokumentenbuches entspricht. Der Urteilsspruch beweist die systematische Massenerschießung von Kriegsgefangenen in der Stadt Smolensk, und zwar im Lager 126, dem »Dulag 126 Süd.« Dies geschah auf dem Transport zum Lagerlazarett. Das Urteil betont die Tatsache, daß Kriegsgefangene, die aus Erschöpfung arbeitsunfähig waren erschossen wurden.
Ich möchte mich jetzt mit den Grausamkeiten beschäftigen, die von den Hitleristen gegenüber den Angehörigen der tschechoslowakischen, polnischen und jugoslawischen Armeen begangen wurden. Wir ersehen aus der Anklageschrift, daß eine der wichtigsten verbrecherischen Handlungen, für die die Hauptkriegsverbrecher verantwortlich sind, die Massenhinrichtung polnischer Kriegsgefangener war, die in den Wäldern von Katyn bei Smolensk von den deutsch-faschistischen Eindringlingen vorgenommen wurde.
Ich unterbreite dem Gerichtshof als Beweis für dieses Verbrechen die amtlichen Dokumente der Sonderkommission, die mit der Feststellung und Untersuchung der den Erschießungen zugrundeliegenden Umstände beauftragt war. Die Kommission handelte im Auftrag der Außerordentlichen Staatskommission.
Außer den Mitgliedern der Außerordentlichen Staatskommission, den Akademikern Burdenko, Alexis Tolstoj und dem Metropoliten Nicolas setzte sich diese Sonderkommission aus folgenden Persönlichkeiten zusammen: dem Präsidenten des Panslawischen Komitees, Generalleutnant Gundorow, dem Vorsitzenden des Exekutivausschusses der Union des Roten Kreuzes und des Roten Halbmondes, Kolesnikow, dem Volkskommissar für das Erziehungswesen der RSFSR, Akademiker Potemkin, dem Obersten Chef des Heeressanitätswesens der Roten Armee, Generaloberst Smirnow und dem Vorsitzenden des Exekutivausschusses des Bezirks Smolensk, Melnikow. Die Kommission umfaßte außerdem einige der bekanntesten Spezialisten als gerichtsmedizinische Sachverständige.
Es würde zuviel Zeit in Anspruch nehmen, wenn ich das ausführliche Dokument, welches das Ergebnis dieser Untersuchungen darstellt, das ich jetzt als USSR-54 vorlege, vollständig verlesen wollte. Ich werde deswegen nur einige verhältnismäßig kurze Auszüge aus dem Dokument verlesen. Auf der zweiten Seite des Dokuments, das ist Seite 223 Ihres Dokumentenbuches, lesen wir die in Ihren Akten angezeichnete Stelle:
»Die gerichtsmedizinischen Sachverständigen gaben die Anzahl der Leichname auf ca. 11000 an. Die gerichtsmedizinischen Sachverständigen haben eine genaue Untersuchung der ausgegrabenen Leichen sowie der Dokumente und des Beweismaterials, die mit den Leichen in den Gräbern gefunden wurden, vorgenommen. Während der Ausgrabung und Untersuchung der Leichen verhörte die Kommission viele Einwohner als Zeugen. Nach ihren Aussagen konnte man die genaue Zeit sowie die Umstände feststellen, unter denen die Verbrechen von seiten der deutschen Eindringlinge begangen wurden.«
Ich glaube, daß ich nicht alles zu verlesen brauche, was die Kommission während ihrer Untersuchung über die deutschen Verbrechen nach und nach festgestellt hat. Ich werde nur die allgemeinen Schlußfolgerungen, die die Arbeit des Komitees zusammenfaßt, verlesen. Sie finden die Zitate auf Seite 43 des Originaldokuments USSR-54 oder auf Seite 264 Ihres Dokumentenbuches:
»Allgemeine Schlußfolgerungen:
Aus dem gesamten Material, das der Sonderkommission zur Verfügung steht, nämlich aus den Aussagen von mehr als 100 Zeugen, aus den Angaben der gerichtsmedizinischen Sachverständigen, aus den Dokumenten und Beweisstücken der Gräber im Walde von Katyn, ergaben sich mit unwiderlegbarer Klarheit folgende Schlußfolgerungen:
1. Kriegsgefangene Polen, die sich in drei Lagern westlich von Smolensk befanden und die zu Straßenbauarbeiten vor Kriegsausbruch verwendet wurden, blieben dort auch nach dem Einfall der deutschen Eindringlinge in Smolensk bis einschließlich September 1941.
2. Im Walde von Katyn wurden von den deutschen Okkupationsbehörden im Herbst 1941 Massenerschießungen an polnischen Kriegsgefangenen aus den obengenannten Lagern begangen.
3. Die Massenerschießungen der polnischen Kriegsgefangenen im Walde von Katyn wurden von einer deutschen Militärbehörde ausgeführt, die sich unter dem Decknamen ›Stab des Baubataillons 537‹ verborgen hielt, und an deren Spitze der Oberleutnant Arnes und seine Mitarbeiter, Oberleutnant Rex und Leutnant Hott, standen.
4. Im Zusammenhang mit der Verschlechterung der allgemeinen militärischen und politischen Lage für Deutschland trafen die deutschen Besatzungsbehörden bis Anfang 1943 eine Reihe von Provokationsmaßnahmen, um ihre eigenen Bestialitäten im Hinblick auf den Streit zwischen den Russen und den Polen den Sowjetbehörden zuzuschieben.
5. Zu diesem Zwecke versuchten
a) die deutsch-faschistischen Eindringlinge auf dem Wege der Überredung, der Bedrohung sowie barbarischer Folterungen unter den Sowjetbürgern ›Zeugen‹ zu finden, denen sie die lügnerischen Aussagen erpreßten, daß die kriegsgefangenen Polen von den Sowjetbehörden im Frühjahr 1940 erschossen worden wären.
b) Die deutschen Besatzungsbehörden haben im Frühjahr 1943 aus anderen Orten die Leichen der von ihnen erschossenen kriegsgefangenen Polen herbeigeschafft und sie in die ausgehobenen Gräber des Waldes von Katyn gelegt, um die Spur ihrer eigenen Bestialität zu verwischen und die Zahl der ›Opfer der bolschewistischen Bestialitäten‹ im Walde von Katyn zu vergrößern.
c) Während die deutschen Besatzungsbehörden die Provokationen vorbereiteten, benutzten sie etwa 500 russische Kriegsgefangene für die Arbeiten zur Aushebung der Gräber von Katyn und zur Entfernung der sie bloßstellenden Dokumente und Beweisstücke. Die russischen Kriegsgefangenen wurden gleich nach Beendigung dieser Arbeiten erschossen.
6. Durch die Angaben der gerichtsmedizinischen Sachverständigenkommission wird außerhalb jeden Zweifels festgestellt:
a) die Zeit der Erschießung, nämlich Herbst 1941;
b) die deutschen Henker haben bei der Erschießung der polnischen Kriegsgefangenen dieselbe Methode (Pistolenschuß ins Genick) angewandt, wie bei den Massenmorden an den Sowjetbürgern in anderen Städten, insbesondere in Orel, Woronesch, Krasnodar und Smolensk.«
VORSITZENDER: Der Gerichtshof wird sich nunmehr vertagen.