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[Der Zeuge betritt den Zeugenstand.]

VORSITZENDER: Wie heißen Sie?

ZEUGE DR. EUGEN ALEXANDROWITSCH KIWELISCHA: Kiwelischa, Eugen Alexandrowitsch.

VORSITZENDER: Sprechen Sie mir die Eidesformel nach! »Ich«, und dann sagen Sie Ihren Namen, »Bürger der Union der Sozialistischen Sowjet-Republiken, der hier in diesem Prozeß als Zeuge geladen ist, gelobe und schwöre vor diesem Gerichtshof, dem Gericht die lautere Wahrheit und alles, was ich über diesen Fall weiß, zu sagen.«

[Der Zeuge spricht die Eidesformel

auf russisch nach.]

VORSITZENDER: Sie können sich setzen. Bitte, buchstabieren Sie Ihren Familiennamen.

KIWELISCHA: K-i-w-e-l-i-s-c-h-a.

VORSITZENDER: Bitte, Oberst Pokrowsky.

OBERST Y. V. POKROWSKY, STELLVERTRETENDER HAUPTANKLÄGER FÜR DIE SOWJETUNION: Welche Stellung hatten Sie zur Zeit des Überfalls von Hitler-Deutschland auf die Sowjetunion in der Roten Armee?

KIWELISCHA: Zur Zeit des Überfalls von Hitler- Deutschland auf die Sowjetunion war ich Unterarzt im 305. Regiment der 44. Schützendivision.

OBERST POKROWSKY: Hat Ihr Regiment 305 der 44. Schützendivision an den Kämpfen gegen die Deutschen teilgenommen?

KIWELISCHA: Jawohl, unser Regiment 305 der 44. Schützendivision hat an den Kämpfen gegen die Deutschen vom ersten Tage des Krieges an teilgenommen.

OBERST POKROWSKY: An welchem Tag und unter welchen Umständen sind Sie in deutsche Gefangenschaft geraten?

KIWELISCHA: In deutsche Kriegsgefangenschaft bin ich am 9. August 1941 in der Gegend der Stadt Uman, Bezirk Kirowograd, geraten.

Ich bin in dem Augenblick in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten, als zwei russische Armeen, zu denen unsere Gruppe gehörte, nach längeren Kämpfen eingekesselt waren.

OBERST POKROWSKY: Was wissen Sie über die Behandlung der Soldaten der Roten Armee, die von hitlerischen Truppen gefangengenommen wurden? In welcher Lage befanden sich diese Kriegsgefangenen?

KIWELISCHA: Ich kenne nur zu gut alle Formen der barbarischen Verhöhnung der russischen Kriegsgefangenen durch die hitlerischen Behörden und Armeen, weil ich mich lange Zeit selbst unter den Kriegsgefangenen befand.

Am ersten Tag meiner Gefangenschaft wurde ich in der Etappe einer großen Kolonne von Kriegsgefangenen einem Durchgangslager zugeteilt. Unterwegs erfuhr ich – ich betone, daß dies am ersten Tage war – während einer Unterhaltung mit Kriegsgefangenen, mit denen ich ging, daß der größte Teil der Kriegsgefangenen ungefähr drei bis vier Tage früher als die kleine Gruppe, zu der ich gehörte, gefangengenommen worden war. Während dieser drei oder vier Tage wurden diese Menschen unter stärkster deutscher Bewachung in einem Stall eingesperrt gehalten und erhielten während dieser Zeit weder Speise noch Trank. Als wir daher später durch Dörfer marschierten, haben alle Gefangenen beim Anblick von Brunnen oder Wasser ihre trockenen Lippen geleckt und unwillkürlich Schluckbewegungen gemacht, wenn ihre Augen auf die Brunnen und das Wasser fielen. Spät am Abend desselben Tages wurde unsere ganze Kolonne, ungefähr 5000 Gefangene, in einem Viehhof untergebracht, wo wir keine Möglichkeit hatten, uns von diesem langen Wege auszuruhen, und die ganze Nacht unter freiem Himmel stehen mußten. So ging es auch am nächsten Tage; auch da erhielten wir weder Nahrung noch Wasser.

OBERST POKROWSKY: Gab es nicht Fälle, in denen die Kriegsgefangenen beim Vorübergehen an Wasserbehältern oder Brunnen selbst versuchten, Wasser zu bekommen und zwei oder drei Schritte aus der Reihe heraustraten?

KIWELISCHA: Ja, ich erinnere mich an einige Fälle und werde im einzelnen ein Beispiel anführen, das am ersten Tage unseres Marsches vorkam, und das war unter folgenden Umständen: Wir gingen an einem Dorf vorbei, wobei uns friedliche Zivilisten begegneten und versuchten, die Gefangenen mit Wasser und Brot zu versorgen. Aber die Deutschen ließen die Kriegsgefangenen nicht an die Zivilisten heran, ebenso durften auch die Zivilisten nicht an die Kriegsgefangenenkolonne herankommen. Einer der Kriegsgefangenen entfernte sich von der Kolonne 5-6 Meter und wurde ohne jede Warnung von einem deutschen Soldaten aus einer Maschinenpistole erschossen. Einige seiner Kameraden eilten ihm zu Hilfe, weil sie annahmen, daß er noch am Leben war, aber auch auf sie schoß man ohne jegliche Warnung. Einige von ihnen wurden dabei schwer verwundet, während zwei tot waren.

OBERST POKROWSKY: War das der einzige Fall, bei dem Sie Augenzeuge waren, oder konnten Sie während Ihrer Überführung von einem Platz zum anderen noch andere Fälle dieser Art beobachten?

KIWELISCHA: Nein, das war kein Einzelfall. Beinahe jede Überführung von einem Lager in ein anderes war von Erschießungen und Ermordungen solcher Art begleitet.

OBERST POKROWSKY: Wurden nur die Kriegsgefangenen erschossen oder wandte man auch Vergeltungsmaßnahmen gegen die Zivilisten an, die versucht hatten, den Kriegsgefangenen Wasser und Brot zu reichen?

KIWELISCHA: Vergeltungsmaßnahmen wurden nicht nur gegen die Kriegsgefangenen ergriffen, sondern auch gegen friedliche Zivilisten. Ich entsinne mich, daß wir einmal auf einer Überführung einer Gruppe von Frauen und Kindern begegneten, die versuchten, so wie alle anderen, uns mit Wasser und Brot zu versorgen, aber die Deutschen ließen sie nicht an uns heran. Eine Frau schickte ein Mädchen von ungefähr fünf Jahren, wahrscheinlich ihre Tochter, an die Kolonne der Kriegsgefangenen. Das Mädchen kam ganz nahe an die Stelle der Kolonne, wo ich ging, heran, und als es ungefähr 5-6 Schritte von uns entfernt war, wurde es von einem deutschen Soldaten erschossen.

OBERST POKROWSKY: Aber, vielleicht brauchten die Kriegsgefangenen jene Nahrung nicht, die die Zivilisten ihnen zu bringen versuchten, vielleicht wurden sie von den Deutschen genügend mit Nahrung versorgt?

KIWELISCHA: Die Gefangenen litten buchstäblich Hunger, denn die Deutschen sorgten bei den Überführungen von einem Lager in ein anderes für keinerlei Nahrung.

OBERST POKROWSKY: Demnach waren die Gaben der jeweiligen Dorfbewohner praktisch die einzige Möglichkeit, um die Kraft der Kriegsgefangenen aufrechtzuerhalten?

KIWELISCHA: Das ist richtig.

OBERST POKROWSKY: Die Deutschen haben sie erschossen?

KIWELISCHA: Sie haben mich richtig verstanden.

OBERST POKROWSKY: In welchen Kriegsgefangenenlagern waren Sie selbst? Nennen Sie diese.

KIWELISCHA: Das erste Lager, in dem ich mich befand, war unter freiem Himmel auf einem Felde in der Nähe der kleinen Ortschaft Tarnowka.

Das zweite Lager befand sich auf dem Grundstück einer Ziegelei und früheren Geflügelfarm am Rande der Stadt Uman.

Das dritte Lager befand sich in der Nähe der Stadt Iwan-Gora.

Das vierte Lager befand sich auf dem Gelände der Pferdeställe irgendeiner Einheit in der Nähe der Stadt Gaisin.

Das fünfte Lager war in der Gegend der kleinen Garnison Winniza.

Das sechste Lager war in der Nähe der Stadt Schmerinka und das letzte Lager, wo ich am längsten blieb, war im Dorf Rakowo, sieben Kilometer von der Stadt Proskurow, im Gebiet von Kamenez-Podolsk, entfernt.

OBERST POKROWSKY: Auf diese Weise hatten Sie aus eigener Erfahrung die Möglichkeit, die Verhältnisse in einer Reihe von Lagern kennenzulernen?

KIWELISCHA: Ja, ich war selbst in allen diesen Lagern und kenne diese Verhältnisse durch und durch.

OBERST POKROWSKY: Sie sind von Beruf Arzt?

KIWELISCHA: Ja, ich bin Arzt von Beruf.

OBERST POKROWSKY: Sagen Sie dem Gerichtshof, wie es mit der ärztlichen Hilfe und der Ernährung jener Kriegsgefangenen bestellt war, die sich in den von Ihnen aufgezählten Lagern befanden.

KIWELISCHA: Als ich in das Lager unweit der Stadt Tarnowka eingeliefert wurde, sonderte man mich und andere Ärzte der russischen Armee von der allgemeinen Abteilung der Kriegsgefangenen ab und sandte uns in ein sogenanntes Lazarett zur Arbeit. Dieses Lazarett befand sich in einem Stall mit einem Zementboden, ohne jegliche Einrichtung für Verwundete. Hier lag auf dem Zementboden eine Gruppe verwundeter Sowjetkriegsgefangener, meistens Offiziere. Viele von ihnen waren zehn bis zwölf Tage vor meiner Ankunft in Tarnowka gefangengenommen worden. Während der ganzen Zeit erhielten sie keine ärztliche Hilfe, obwohl viele operativer Eingriffe bedurften, Medikamente und Verbände brauchten. Sie wurden aber systematisch ohne Wasser gelassen, und sie wurden auch demgemäß versorgt. Zumindest als ich ins Lager kam, gab es keine Einrichtung, die den Eindruck erweckte, daß die Deutschen irgendwelche Nahrung für die Kriegsgefangenen gekocht oder vorbereitet hätten. Im Lager von Uman, in das ich am zweiten Tag nach meiner Ankunft in Tarnowka kam, waren ungefähr 15000 bis 20000 Verwundete, von denen sich zahlreiche nicht selbständig bewegen konnten. Sie lagen alle unter freiem Himmel in ihrer Sommeruniform. Man versorgte sie mit Essen und Wasser eben wie alle übrigen Gefangenen in diesem Lager. Ärztliche Hilfe wurde ihnen nicht erteilt. Sie lagen auf dem Boden, ihre Verbände waren verstaubt und mit Blut und Eiter durchtränkt. Verbandsmittel, Instrumente und Einrichtungen für Operationen und andere Eingriffe gab es im Lager Uman nicht.

In Gaisin waren die Kriegsgefangenen, Verwundeten und Kranken in einem Pferdestall, der einen Holzboden hatte, untergebracht. Dort gab es keine zur Unterbringung von Menschen geeignete Einrichtung. Die Gefangenen lagen auf dem Boden, wie es in anderen Lagern der Fall war, und erhielten nicht die geringste ärztliche Hilfe. Wie in den anderen Lagern waren auch hier weder Verbandsmittel noch Arzneien oder Instrumente vorhanden.

OBERST POKROWSKY: Sie sprachen von dem Uman-Lager. Sehen Sie sich diese Photographie an und sagen Sie mir, ist das nicht die Aufnahme eines Lagers, in dem Sie sich befanden?

KIWELISCHA: Auf dieser Photographie sehe ich das Lager auf dem Ziegeleigrundstück in Uman. Ich kenne das Bild sehr gut.

OBERST POKROWSKY: Ich möchte dem Gerichtshof noch mitteilen, daß die von mir dem Zeugen vorgelegte Photographie des Lagers von Uman dem Gerichtshof bereits als USSR-345 vorgelegt worden war und das Lager darstellt, über das wir bereits die Aussage des Zeugen Bingel haben.