[Der Zeuge macht die Bewegung.]
Als das ausgeführt war, trieb man sie in das Luktschinagefängnis. Als sich die Juden jedoch auf den Marsch begaben, fingen die Hosen an zu rutschen und sie konnten nicht weitergehen. Wer die Hose mit der Hand hochziehen wollte, wurde auf der Stelle erschossen. Ich habe selbst gesehen, als sich meine Kolonne in Bewegung setzte, daß auf der Straße ungefähr 100 bis 150 Erschossene lagen, und die Blutströme liefen die Straße entlang, als wäre ein roter Regen herabgekommen.
In den ersten Tagen des Monats August 1941 hat mich ein Deutscher auf der Dokumentenstraße, als ich zu meiner Mutter gehen wollte, aufgegriffen und zu mir gesagt: »Komm mit mir. Du wirst in einem Zirkus spielen.« Als ich mit ihm ging, sah ich, daß ein zweiter Deutscher einen alten Juden, den alten Rabbiner dieser Straße, Kassel, anschleppte, und ein dritter Deutscher hatte bereits einen jungen Burschen. Als wir zur alten Synagoge kamen, die in der Straße war, sah ich, daß dort Holz in Form einer Pyramide aufgeschichtet war. Ein Deutscher zog einen Revolver hervor und sagte, wir sollten unsere Kleidung ausziehen. Als wir nackt dastanden, kam er und zündete mit einem Streichholz den Holzstoß an. Dann kam ein weiterer Deutscher und schleppte aus der Synagoge drei Thorarollen heraus, gab uns diese und sagte, daß wir um den Scheiterhaufen tanzen und russische Lieder singen sollten. Hinter uns standen diese drei Deutschen und trieben uns mit den Bajonetten gegen das Feuer und lachten. Als wir fast bewußtlos waren, gingen die Deutschen weg. Aber ich muß sagen, daß die Massenvernichtung der jüdischen Bevölkerung in Wilna dann begann, als der Bezirkskommissar Hans Fincks sowie der Referent für jüdische Fragen, Muhrer, nach Wilna kamen.
Am 31. August wurde unter Anführung des Bezirkskommissars und Muhrers...
VORSITZENDER: In welchem Jahre?
SUZKEWER: Im Jahre 1941.
VORSITZENDER: Fahren Sie fort!
SUZKEWER: Unter Anführung des Bezirkskommissars Fincks und Muhrers wurde vom Sonderkommando das alte jüdische Viertel in Wilna umzingelt, und zwar die Rudnitskajastraße, die Jüdische Straße, die Galonzkigasse, die Schabelski- und Straschunastraße, wo ungefähr 8000 bis 10000 Juden wohnten. Ich war damals krank und schlief. Aber plötzlich fühlte ich einen Peitschenhieb. Als ich aus dem Bett sprang, sah ich, daß Schweichenberg vor mir stand, und neben ihm ein großer Hund. Er schlug alle und trieb uns auf den Hof. Als ich in den Hof kam, sah ich viele Frauen, Kinder und Greise, alle Juden, die dort wohnten. Schweichenberg ließ vom Sonderkommando alle umzingeln und sagte, daß er uns zum Ghetto führe. Aber natürlich war das, was der Deutsche sagte, wie immer, eine Lüge.
In Kolonnen nachts durch die Stadt wurden wir zum Lutischtschewgefängnis geführt, und wir wußten alle, daß das nicht das Ghetto bedeutete, sondern den Tod. Als wir im Lutischtschewgefängnis ankamen, in der Nähe des sogenannten Lutischkinmarktes, sahen wir dort ein Spalier von Deutschen mit weißen Stöcken, die bereits dastanden, um uns zu empfangen. Als wir durch das Spalier gingen, wurden wir geschlagen, und wenn jemand hinfiel, so sagte man zum nächsten Juden, er solle ihn aufheben und durch eine große Tür ins Gefängnis tragen. Vor dem Gefängnis lief ich weg. Ich schwamm durch den Fluß Wilja und versteckte mich im Haus meiner Mutter. Meine Frau, die damals im Gefängnis war und die später entfloh, erzählte mir, daß sie dort den bekannten jüdischen Professor Moloch Prilutzky gesehen hat, der im Sterben lag, auch den Präsidenten der jüdischen Gemeinde in Wilna, Dr. Jakob Wigotzky, den jungen jüdischen Historiker Pinkus Kohn, sowie die bekannten Künstler Hasch und Kadisch, die bereits tot waren. Die Deutschen haben alle geprügelt, beraubt und ihre Opfer dann ins Dorf Ponari gefahren.
Am 6. September, um 6 Uhr morgens, haben Tausende von Deutschen unter Anführung des Bezirkskommissars Fincks, Muhrer, Schweichenberg, Martin Weiß und anderer die ganze Stadt umzingelt, sind in die jüdischen Häuser eingebrochen und gaben den jüdischen Einwohnern Befehl, nur das mitzunehmen, was sie tragen konnten. Sie mußten auf die Straße hinausgehen. Dann wurden sie ins Ghetto geführt. Als wir die Wilkomirowskajastraße entlanggingen, sah ich, daß die Deutschen kranke Juden aus dem Krankenhaus in ihren blauen Krankenkitteln herausgebracht hatten. Sie wurden vor die Kolonne gestellt, und ein deutscher Filmoperateur filmte die Szene.
Aber ich muß sagen, daß nicht alle Juden in dieses Ghetto getrieben wurden. Fincks tat dies mit Vorbedacht. Die jüdischen Einwohner einer Straße wurden in ein Ghetto und die einer anderen nach Ponari getrieben. Vorher hatten die Deutschen in Wilna zwei Ghettos eingerichtet. Im ersten Ghetto waren 29000 Juden und im zweiten 15000 Juden. Ungefähr die Hälfte der jüdischen Bevölkerung von Wilna ist nicht bis zum Ghetto gekommen, sondern wurde auf dem Wege erschossen. Ich erinnere mich, als wir im Ghetto ankamen...
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Einen Augenblick! Habe ich Sie richtig verstanden, daß, bevor das Ghetto eingerichtet, die Hälfte der jüdischen Bevölkerung von Wilna bereits ausgerottet war?
SUZKEWER: Ja, das ist richtig.
Bei meiner Ankunft im Ghetto sah ich, daß Martin Weiß mit einem jüdischen Mädchen hineinging, er betrachtete es; als wir weitergingen, nahm er einen Revolver und erschoß es. Das Mädchen hieß Gitele Tarlow.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Wie alt war das Mädchen?
SUZKEWER: Das Mädchen war 11 Jahre alt.
Ich muß sagen, daß das Ghetto von den Deutschen nur eingerichtet wurde, um die Bevölkerung bequemer zu vernichten. Der Chef des Ghettos war der Kommissar für jüdische Fragen, Muhrer. Er erließ eine Reihe von verrückten Befehlen. Zum Beispiel: Die Juden durften keine Uhren haben; die Juden durften im Ghetto nicht beten; wenn ein Deutscher vorbeiging, mußte man den Hut abnehmen, aber man durfte ihn nicht anschauen.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Waren das amtliche Befehle?
SUZKEWER: Jawohl, es waren Muhrers Befehle.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Wurden diese Befehle im Ghetto angeschlagen?
SUZKEWER: Jawohl.
Wenn Muhrer ins Ghetto kam und die jüdischen Werkstätten besuchte, befahl er allen Arbeitern, sich auf den Boden zu legen und wie Hunde zu bellen.
Am Versöhnungstag im Jahre 1941 sind Schweichenberg und das deutsche Sonderkommando in das zweite Ghetto eingedrungen und haben alle alten Männer verhaftet, die in der Synagoge beteten. Sie führten sie nach Ponari. Ich entsinne mich eines Tages, als Schweichenberg in das zweite Ghetto kam, und die Häscher die Juden zusammentrieben.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Wer waren diese Häscher?
SUZKEWER: Es waren Soldaten des Sonderkommandos, die die jüdische Bevölkerung des Ghettos Häscher nannte.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Es waren also Soldaten des Sonderkommandos, die die jüdische Bevölkerung des Ghettos Häscher nannte?
SUZKEWER: Ja.
Die Häscher schleppten die Juden aus den Kellern und versuchten, sie nach Ponari zu treiben. Aber die Juden wußten bereits, daß keiner von ihnen zurückkommen würde und wollten, nicht mitgehen. Danach begann Schweichenberg auf die Bevölkerung des Ghettos zu schießen. Neben ihm stand ein großer Hund, und als dieser Schüsse hörte, sprang er Schweichenberg an und versuchte, ihn in die Gurgel zu beißen. Der Hund war anscheinend toll geworden. Dann tötete Schweichenberg den Hund und sagte uns, daß wir den Hund begraben und über seinem Grab weinen sollten. Ja, wir haben damals geweint, daß in dem Grab der Hund und nicht Schweichenberg lag.
Ende Dezember 1941 kam ein Befehl im Ghetto heraus, der den jüdischen Frauen verbot, ein Kind auszutragen.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Ich bitte Sie, Herr Zeuge, zu sagen, in welcher Form dieser Befehl herauskam.
SUZKEWER: Muhrer kam in das Spital in der Straße Nr. 6 und sagte den jüdischen Ärzten, daß ein Befehl aus Berlin gekommen sei, der besagte, daß jüdische Frauen nicht mehr gebären dürften, und wenn die Deutschen erführen, daß eine Frau einem Kinde das Leben geschenkt hat, würde das Kind vernichtet werden.
Ende Dezember gebar meine Frau im Ghetto einen Jungen. Ich war damals nicht im Ghetto, ich befand mich auf der Flucht vor einer dieser sogenannten Vernichtungsaktionen, und als ich später ins Ghetto zurückkam, erfuhr ich, daß meine Frau zwei Tage vorher ein Kind geboren hatte. Ich bin sofort in das Spital gegangen, aber ich sah, daß das Krankenhaus von Deutschen umzingelt war. Ein schwarzer Wagen stand vor dem Tor. Daneben stand Schweichenberg, und die Häscher des Sonderkommandos schleppten aus dem Spital Greise und Kranke heraus und warfen sie wie Holz in den Wagen. Unter diesen erkannte ich den bekannten jüdischen Schriftsteller und Verleger Grodninsky, der auch in diesen Wagen gezerrt wurde. Als die Deutschen am Abend fortgingen, ging ich in das Spital hinein und sah, daß meine Frau vollständig verweint aussah. Es hatte sich herausgestellt, daß, als sie das Kind gebar, die jüdischen Ärzte bereits den Befehl erhalten hatten, daß keine jüdischen Kinder mehr geboren werden durften. Sie haben dann das Kind mit anderen in einem Zimmer versteckt. Aber als die Kommission kam, haben sie wahrscheinlich das neugeborene Kind schreien hören. Jedenfalls haben sie die Tür aufgebrochen und sind in das Zimmer hineingegangen. Als meine Frau hörte, daß man die Türe aufgebrochen hatte, ist sie sofort aufgesprungen, um zu sehen, was mit dem Kind geschah. Sie sah, wie ein Deutscher das Kind hielt und ihm etwas unter die Nase schmierte. Sodann warf er das Kind auf das Bett und lachte. Als meine Frau das Kind vom Bett aufnahm, hatte es bereits schwarze Lippen. Als ich ins Zimmer kam, habe ich selbst gesehen, daß das Kind tot war. Es war noch warm.
Am nächsten Tag besuchte ich meine Mutter im Ghetto und sah, daß ihr Zimmer leer war. Auf dem Tisch war noch ein offenes Gebetbuch und ein Glas Tee, das sie nicht berührt hatte. Ich erfuhr, daß in derselben Nacht die Deutschen das Haus umzingelt hatten und alle Einwohner herausgeschleppt und nach Ponari getrieben hatten.
In den letzten Tagen des Dezember 1941 machte Muhrer dem Ghetto ein Geschenk. Es war ein Wagen, voll mit Schuhen, die den in Ponari erschossenen Juden gehörten. Unter diesen alten Schuhen, die er den Familien im Ghetto schickte, erkannte ich die Schuhe meiner Mutter.
Bald nachher wurde das zweite Ghetto vollständig vernichtet, und die deutsche Zeitung in Wilna schrieb, daß die Juden in diesem Gebiet einer Epidemie erlegen waren.
Am 23. Dezember 1941, nachts, kam Muhrer und verteilte unter die Bevölkerung des Ghettos 3000 gelbe Billetts, die sogenannten Ausweise. Die Inhaber dieser 3000 gelben Ausweise waren berechtigt, ihre Verwandten bei sich eintragen zu lassen, das heißt, insgesamt zirka 9000 Personen. Im Ghetto befanden sich damals ungefähr 18000 bis 20000 Leute. Diejenigen, die diese gelben Ausweise hatten, gingen am nächsten Morgen zur Arbeit, während die anderen, die im Ghetto waren und diese gelben Ausweise nicht hatten, und nicht in den Tod gehen wollten, im Ghetto selbst niedergemetzelt wurden. Der Rest wurde nach Ponari getrieben.
Ich habe hier ein Dokument, das ich nach der Befreiung Wilnas vorgefunden habe, und das die jüdische Bekleidung in Ponari betrifft. Wenn Sie das Dokument interessiert, kann ich es Ihnen vorlegen.
VORSITZENDER: Haben Sie das Dokument?
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Auch ich kenne dieses Dokument nicht.
SUZKEWER: In diesem Dokument heißt es – ich werde nur einige Zeilen verlesen: