[Der Zeuge verliest das Dokument in deutscher Sprache, nur ein Teil wird übersetzt. Das Dokument wird später als USSR-444 bezeichnet.]
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Zeuge, wenn Sie ein Dokument verlesen, müssen Sie es auch dem Gerichtshof vorlegen, da wir andernfalls nicht imstande sind, uns ein Urteil über dieses Dokument zu bilden.
SUZKEWER: Bitte.
VORSITZENDER: Wollen Sie uns bitte zunächst sagen, wo das Dokument gefunden wurde?
SUZKEWER: Ich habe das Dokument im Gebäude des Gebietskommissars der Stadt Wilna im Juli 1944 gefunden, als die Stadt bereits von den Deutschen gesäubert war.
VORSITZENDER: Wo, sagten Sie, wurde das Dokument gefunden?
SUZKEWER: Im Gebietskommissariat der Stadt Wilna, in der Gedeminstraße.
VORSITZENDER: War es das von den Deutschen besetzte Gebäude?
SUZKEWER: Ja, es war das Hauptquartier des deutschen Gebietskommissars von Wilna. Dort wohnten Hans Fincks und Muhrer.
VORSITZENDER: Lesen Sie den Teil des Dokuments nochmals, den Sie soeben verlesen haben, wir haben ihn nicht gehört.
SUZKEWER: Gewiß, bitte:
»An den Gebietskommissar zu Wilna.
Auf Ihren Befehl desinfiziert unsere Anstalt zur Zeit die alten jüdischen Kleider aus Ponari und übergibt sie der Wilnaer Verwaltung.«
VORSITZENDER: Wollen Sie es bitte vorlegen!
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Zeuge, ich möchte gerne folgendes wissen: Sie sagten, daß zu Anfang der deutschen Besetzung 80000 Juden in Wilna lebten. Wieviele Juden blieben nach der deutschen Besetzung übrig?
SUZKEWER: Nach der Besetzung von Wilna blieben ungefähr 600 Juden übrig.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Das heißt, daß 79400 Menschen hingerichtet wurden?
SUZKEWER: Ja.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Hoher Gerichtshof! Ich habe keine Frage mehr an den Zeugen zu stellen.
VORSITZENDER: Wünscht ein anderer Hauptanklagevertreter eine Frage zu stellen?
SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Ich habe keine Fragen.
MR. DODD: Keine Fragen.
VORSITZENDER: Will irgendein Verteidiger eine Frage stellen?
[Keine Antwort.]
Der Zeuge kann sich zurückziehen.
[Der Zeuge verläßt den Zeugenstand.]
Bitte, Oberst Smirnow.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Herr Vorsitzender, erlauben Sie mir, meinen Vortrag etwas zu ändern und den der religiösen Verfolgung gewidmeten Teil etwas später vorzutragen. Ich möchte jetzt zu dem Teil übergehen, der sich auf Experimente an lebenden Menschen bezieht. Es ist Seite 47 des russischen Textes.
Bevor ich zu diesem Teil meiner Ausführungen übergehe, möchte ich einige kurze Auszüge aus einem Dokument zur Verlesung bringen, die vorher dem Gerichtshof von meinem amerikanischen Kollegen noch nicht verlesen wurden, da der Hauptteil dieses Dokuments sich auf Experimente bezieht, die bereits von der Amerikanischen Anklagevertretung aus anderen Dokumenten beschrieben wurden. Es handelt sich um ein Dokument, 400-PS, USSR-435 der amerikanischen Anklage, das sich auf Versuche des Dr. Rascher bezieht. Es wurde dem Gerichtshof als Photokopie, die eine Serie von Dokumenten einschließt, vorgelegt. Ich verlese nur zwei Absätze aus diesem Dokument.
Diese beiden Absätze bestätigen die besondere Vorliebe des Dr. Rascher für das Lager Auschwitz. Diese Stelle werden die Herren Richter auf Seite 149, letzter Absatz des Dokumentenbuches finden. Ich beginne mit dem Zitat:
»Am einfachsten wäre es, wenn ich bald zur Waffen-SS überstellt, mit Neff nach Auschwitz fahren würde und dort die Frage der Wiedererwärmung an Land Erfrorener schnell in einem großen Reihenversuch klären würde. Auschwitz ist für einen derartigen Reihenversuch in jeder Beziehung besser geeignet als Dachau, da es dort kälter ist und durch die Größe des Geländes im Lager selbst weniger Aufsehen erregt wird (die Versuchspersonen brüllen, wenn sie sehr frieren).
Wenn es, hochverehrter Reichsführer, in Ihrem Sinne ist, diese für das Landheer wichtigen Versuche in Auschwitz (oder Lublin oder sonst einem Lager im Osten) beschleunigt durchzuführen, so bitte ich gehorsamst, mir bald einen entsprechenden Befehl zu geben, damit die letzte Winterkälte noch genützt werden kann.
Mit gehorsamsten Grüßen bin ich in aufrichtiger Dankbarkeit mit Heil Hitler Ihr Ihnen stets ergebener
S. Rascher.«
Ich möchte den Gerichtshof darauf aufmerksam machen, daß die Anziehungskraft, die das Lager Auschwitz auf Dr. Rascher ausübte, nicht zufällig war. Ich erinnere den Gerichtshof daran, daß Auschwitz die Zentralabteilung des Lagers in der Nähe der Stadt Auschwitz war. Gerade in Auschwitz wurden Versuche in einer derart grausamen Weise an lebenden Leuten durchgeführt, daß diese die Vorgänge in Dachau und anderen Lagern des Reiches weit übertreffen.
Dokument USSR-8 wurde bereits vorgelegt, es ist ein Bericht der Außerordentlichen staatlichen Kommission über die grausamen Verbrechen der Deutschen Regierung in Auschwitz. Den einleitenden Teil des Berichts, den ich verlesen werde, finden Sie auf Seite 196 des Dokumentenbuches. Ich verlese jetzt folgenden Absatz:
»Besondere Hospitäler, chirurgische Blocks, histologische Laboratorien und andere Einrichtungen wurden im Lager gebaut, aber nicht, um Menschen zu heilen, sondern sie umzubringen. Deutsche Professoren und Ärzte führten Massenversuche an völlig gesunden Männern, Frauen und Kindern durch: Sie experimentierten an Sterilisierung von Frauen und Kastrierung von Männern, an Kindern, und zahlreiche Leute wurden zwecks künstlicher Erregung mit Krebs, Typhus und Malaria infiziert und später beobachtet. Sie stellten Versuche an lebenden Menschen an, um die Wirkung von Giften festzustellen.«
Ich möchte hervorheben, daß in besonders großem Umfange die Sterilisierung und Kastrierung von Frauen und Männern durchgeführt wurde. Zu diesem Zweck wurden besondere Blocks in dem Lager erstellt.
Ich möchte jetzt zwei kurze Auszüge aus dem Bericht der Außerordentlichen staatlichen Kommission verlesen, die die Herren Richter auf der Rückseite von Seite 196 des Dokumentenbuches, fünfter Absatz, finden werden.
Ich zitiere:
»Experimente an Frauen wurden in den Lazarettabteilungen des Lagers Auschwitz vorgenommen. In Block 10 wurden gleichzeitig bis zu 400 weibliche Gefangene gehalten und folgende Versuche an ihnen vorgenommen: Sterilisation durch Röntgenstrahlen mit nachfolgender Entfernung der Eierstöcke, Einimpfung von Krebs in die Gebärmutter, gewaltsame Geburten wurden herbeigeführt sowie die Wirkung der Gegenmittel bei der Röntgenbestrahlung auf die Gebärmutter festgestellt.«
Ich lasse drei Sätze aus und fahre fort:
»In Block 21«, das ist ein anderer Block, der Frauenblock war Nummer 10, »wurden Massenversuche der Kastrierung von Männern gemacht, um die Möglichkeit einer Sterilisierung mit Röntgenstrahlen zu studieren. Die Kastrierung selbst erfolgte einige Zeit nach der Behandlung mit Röntgenstrahlen. Diese Experimente mit Röntgenstrahlen und Kastrierung wurden von Professor Schumann und Dr. Dering ausgeführt. Häufig bestanden die Operationen in der Entfernung einer oder beider Hoden zum Zwecke des Studiums nach der Behandlung mit Röntgenstrahlen.«
Ich bitte den Gerichtshof, mir zu erlauben, zu diesen Beweisen noch einige kurze Auszüge aus den Aussagen des holländischen Staatsbürgers Dr. de Vind vorzulegen, die dem Gerichtshof bereits als USSR-52 vorgelegt wurden. Ich werde nicht die ganze Aussage verlesen, sondern nur die Zahlen. Der Gerichtshof wird sie auf Seite 203, Rückseite des Dokumentenbuches, letzter Absatz der ersten Spalte des Textes, finden.
Ich betone, daß diese Ziffern nur einen Block und zwar Block 10, betreffen. Folgende Frauen waren hier interniert:
»50 Frauen verschiedener Nationalität, die im März 1943 ankamen; 100 griechische Frauen, die im März 1943 ankamen; 110 Belgierinnen, die im April 1943, 50 Französinnen, die im Juli 1943 ankamen; 40 Holländerinnen, die im August 1943, 100 holländische Frauen, die am 15. September 1943, und 100 holländische Frauen, die eine Woche später ankamen; außerdem 12 polnische Frauen.«
Ich erlaube mir, einen weiteren Auszug aus der Aussage des holländischen Arztes Dr. de Vind zu zitieren, die ebenfalls dem Gerichtshof früher als USSR-52 vorgelegt wurde. Ich möchte nur den Teil verlesen, in dem er von Versuchen spricht, die ein gewisser Professor Schumann an 15 Mädchen ausführte. Die Herren Richter werden diese Stelle auf Seite 204 des Dokumentenbuches finden, erste Spalte des Textes, dritter Absatz. Ich beginne das Zitat:
»Professor Schumann, ein Deutscher: Solche Experimente wurden an 15 Mädchen im Alter von 17 bis 18 Jahren angestellt, unter ihnen war Schimmi Bella aus Saloniki, Griechenland und Buena Dora aus Saloniki, Griechenland. Von den 15 Mädchen blieben nur wenige am Leben. Diese befinden sich weiter in deutscher Gewalt, und infolgedessen haben wir über diese brutalen Versuche keine definitiven Angaben; aber folgendes unterliegt keinem Zweifel:
Die jungen Mädchen wurden zwischen zwei Platten gestellt und der Bestrahlung mit Ultrakurzwellen ausgesetzt. Eine Elektrode wurde auf den Unterleib und die andere auf die Hinterbacke gelegt. Der Strahlenfokus wurde direkt gegen die Eierstöcke gerichtet, die infolgedessen verbrannten. Auf Grund der falschen Dosierung entstanden am Unterleib und auf den Hinterbacken ernste Brandwunden. Ein Mädchen starb nach schrecklichem Leiden. Die anderen Mädchen wurden nach Birkenau in die Sanitätsabteilung oder in Arbeitsgruppen gesandt. Einen Monat später kehrten sie nach Auschwitz zurück, wo zwei Kontrolloperationen durchgeführt wurden, ein Längsschnitt und ein Querschnitt. Dabei wurden die Geschlechtsorgane entfernt und auf ihren Zustand untersucht. Als Folge der Zerstörung der Hormone waren die Mädchen physisch vollständig verändert und sahen wie Greisinnen aus.«
Damit beende ich das Zitat.
Versuche von Sterilisation an Frauen und Kastrierung von Männern wurden in Auschwitz schon zu Beginn des Jahres 1942 in großem Umfange gemacht, und eine gewisse Zeitspanne nach der Sterilisation wurden die Männer zum Studium der Gewebe kastriert. Die Bestätigung dieser Tatsache finden Sie in dem Bericht der Außerordentlichen staatlichen Kommission über Auschwitz, wo zahlreiche Erklärungen von Häftlingen dieses Lagers vorliegen, die solchen Operationen unterworfen wurden. Der Gerichtshof wird diesen Teil meines Zitats auf Seite 197 des Dokumentenbuches finden, Absatz 2, zweite Spalte des Textes. Ich zitiere zwei Absätze:
»Valigura, eine Versuchsperson, gab an:
›Mehrere Tage nach meiner Verbringung nach Birkenau, ich glaube, es war Anfang Dezember 1942, wurden alle jungen Männer zwischen 18 und 30 Jahren durch Röntgenbestrahlung der Hodensäcke sterilisiert. Ich war auch unter den Sterilisierten. Elf Monate später, das heißt am 1. November 1943, wurde ich kastriert. Mit mir zusammen sind 200 Mann an einem Tage sterilisiert worden.‹
Der Zeuge David Sures aus Saloniki, Griechenland, sagte folgendes aus:
›Ungefähr im Juli 1943 wurde ich zusammen mit zehn anderen Griechen in eine Liste eingetragen und nach Birkenau geschickt. Dort mußten wir uns alle auskleiden und wir wurden mit Röntgenstrahlen sterilisiert. Einen Monat später wurden wir zu der Zentralabteilung des Lagers befohlen, wo alle Sterilisierten chirurgisch kastriert wurden.‹«
Es war natürlich kein Zufall, daß die Massenversuche an Menschen mit Sterilisation und Kastrierung begannen. Dieses war eine natürliche Folgerung der theoretischen Grundsätze der deutschen Faschisten, die Vermehrung der von ihnen unterjocht geglaubten Völker zu unterbinden. Es war ein Teil der hitlerischen Entvölkerungstechnik. Gerade darüber möchte ich als Beweis ein Zitat aus dem Buch von Rauschning: »Die Stimme der Zerstörung« anführen, das bereits früher dem Gerichtshof vorgelegt wurde. Diese Stelle wurde noch nicht verlesen. Die Herren Richter können sie auf Seite 207 Ihres Dokumentenbuches finden. Hitler sagte zu Rauschning:
»Unter Zerstörung verstehe ich nicht unbedingt die Ausrottung dieser Menschen. Ich werde einfach systematische Mittel anwenden, den Nachwuchs dieser Bevölkerung zu unterbinden.«
Ich lasse drei Sätze aus und gehe weiter:
»Es gibt viele Wege, mit deren Hilfe man systematisch und verhältnismäßig schmerzlos, auf jeden Fall unblutig, das Aussterben unerwünschter Rassen erreichen kann.«
Diese Stellen können Sie auf Seite 137 des Originalbuches finden. Sterilisierung und Kastrierung wurden eine verbrecherische Praxis der Hitler-Leute in den besetzten Gebieten Osteuropas. Zwei dieser Dokumente möchte ich dem Gerichtshof vorlegen.
VORSITZENDER: Oberst Smirnow, würde es jetzt nicht günstig sein, abzubrechen. Der Gerichtshof möchte gern wissen, wie lange Sie Ihrer Meinung nach noch brauchen werden, Ihren Vortrag zu beenden.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Herr Vorsitzender! Ich glaube, daß ich heute die Vorlage des Beweismaterials vollständig beenden werde. Doch möchte ich um die Erlaubnis bitten, heute noch drei Zeugen vernehmen zu dürfen; außerdem wird mein restlicher Vortrag noch eine Stunde dauern. Es ist jedoch sehr schwer für mich, die Zeit genau zu bestimmen, da dies in vielen Fällen von anderen, Ihnen bekannten Umständen, abhängt, die mich zwingen konnten, meine Absichten zu ändern.
VORSITZENDER: Wir werden die Sitzung für 10 Minuten unterbrechen.