[Die Zeugin Schmaglewskaja betritt den Zeugenstand.]
VORSITZENDER: Wollen Sie mir zuerst Ihren Namen nennen?
ZEUGIN SEVERINA SCHMAGLEWSKAJA: Severina Schmaglewskaja.
VORSITZENDER: Wollen Sie mir diesen Eid nachsprechen: Ich schwöre hiermit bei Gott, dem Allmächtigen, daß ich vor diesem Gerichte die Wahrheit und nichts als die Wahrheit sagen und nichts verheimlichen werde, das mir bekannt ist, so wahr mir Gott helfe. Amen.
[Die Zeugin spricht die Eidesformel nach.]
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Sagen Sie mir bitte, Zeugin, waren Sie Häftling im Konzentrationslager Auschwitz?
SCHMAGLEWSKAJA: Ja.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Wie lange sind Sie in Auschwitz gewesen?
SCHMAGLEWSKAJA: Vom 7. Oktober 1942 bis Januar 1945.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Können Sie beweisen, daß Sie Häftling im Konzentrationslager Auschwitz waren?
SCHMAGLEWSKAJA: Ich habe eine Nummer, die hier auf meinen Arm tätowiert ist.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Ist das jene Nummer, die die Häftlinge in Auschwitz die »Visitenkarte« nannten?
SCHMAGLEWSKAJA: Ja.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Sagen Sie, Zeugin, waren Sie Augenzeugin der Behandlung, die die SS-Leute den Kindern zuteil werden ließen?
SCHMAGLEWSKAJA: Ja.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Bitte, erzählen Sie uns etwas davon!
SCHMAGLEWSKAJA: Ich kann von Kindern erzählen, die im Konzentrationslager geboren wurden, und von Kindern, die mit jüdischen Transporten ins Konzentrationslager gebracht wurden. Ich kann von Kindern erzählen, die direkt ins Krematorium geführt wurden, und auch von Kindern berichten, die im Konzentrationslager als Internierte lebten.
Schon im Dezember 1942, als ich zur Arbeit ging, ungefähr zehn Kilometer von Birkenau...
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Entschuldigen Sie, darf ich Sie unterbrechen? Sie waren also in der Abteilung Birkenau?
SCHMAGLEWSKAJA: Ja, ich war im Lager Birkenau; das ist ein Teil des Lagers Auschwitz, es hieß Auschwitz Nummer 2.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Fahren Sie bitte fort!
SCHMAGLEWSKAJA: Ich sah eine Frau, die schwanger war, und zwar im letzten Monat ihrer Schwangerschaft. Man sah es ihr an. Diese Frau mußte mit den anderen zehn Kilometer bis zur Arbeitsstelle gehen, dort mußte sie den ganzen Tag mit einer Schaufel in der Hand Gruben graben. Sie war schon krank, sie bat den Vorarbeiter, einen deutschen Zivilisten, er solle ihr erlauben, sich auszuruhen. Er tat dies nicht, lachte und stieß sie gemeinsam mit einem andern SS-Mann herum und begann, sie in ihrer Arbeit besonders streng zu beaufsichtigen; so war die Lage bei allen Frauen, die schwanger waren, und nur im letzten Augenblick wurde ihnen erlaubt, nicht zur Arbeit zu erscheinen.
Im Lager geborene Kinder wurden, soweit es sich um jüdische Kinder handelte, sofort getötet.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Ich bitte um Entschuldigung, was heißt »sofort getötet«?
SCHMAGLEWSKAJA: Die Kinder wurden den Müttern sofort weggenommen.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Wann? Wenn die Transporte ankamen?
SCHMAGLEWSKAJA: Nein, ich spreche von Kindern, die im Konzentrationslager geboren wurden. Die Kinder wurden den Müttern ein paar Minuten nach der Geburt weggenommen, und diese haben die Kinder niemals wieder gesehen. Ein paar Tage später mußte die Mutter wieder zur Arbeit.
Im Jahre 1942 gab es noch keine besonderen Blocks für Kinder; Anfang 1943, als man begann, die Häftlinge zu tätowieren, wurden die im Konzentrationslager geborenen Kinder ebenfalls tätowiert, und zwar auf den Beinen.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Warum auf den Beinen?
SCHMAGLEWSKAJA: Da die Kinder sehr klein waren und die Nummern aus fünf Ziffern bestanden, war auf den kleinen Armen nicht Platz genug, daher wurde die Tätowierung auf den Beinen der Kinder vorgenommen. Die Kinder hatten keine eigenen, sondern dieselben Ordnungsnummern wie die Erwachsenen.
Diese Kinder wurden in besondere Blocks gebracht, und nach ein paar Wochen, manchmal nach einem Monat, aus dem Konzentrationslager weggeführt.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Wohin?
SCHMAGLEWSKAJA: Wir haben es nie feststellen können, wohin diese Kinder gebracht wurden. Sie wurden während der ganzen Zeit, in der das Lager bestand, abtransportiert, das heißt, im Jahre 1943 und 1944; der letzte Kindertransport fand im Januar 1945 statt.
Es waren nicht nur polnische Kinder, denn es ist bekannt, daß in Birkenau Frauen interniert waren, die aus ganz Europa kamen. Bis zum heutigen Tag ist es nicht bekannt, ob diese Kinder am Leben geblieben sind oder nicht. Im Namen aller Frauen, die im Konzentrationslager zu Müttern geworden sind, möchte ich heute die Deutschen fragen: »Wo sind diese Kinder?«
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Zeugin, waren Sie Augenzeuge, als Kinder in die Gaskammern geschickt wurden?
SCHMAGLEWSKAJA: Ja, ich arbeitete sehr nahe am Eisenbahngeleise, das zum Krematorium führte. Manchmal kam ich morgens in die Nähe der deutschen Latrinen, und von dort konnte ich sehen, wie die Transporte einliefen. Da habe ich beobachtet, daß zusammen mit ins Konzentrationslager eingelieferten Juden auch viele Kinder ankamen, manchmal waren es Familien und zwar Familien mit mehreren Kindern. Der Gerichtshof wird sicherlich wissen, daß die Menschen ausgesondert wurden, ehe sie ins Krematorium kamen.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Wurde diese Auswahl von Ärzten vorgenommen?
SCHMAGLEWSKAJA: Nicht immer von Ärzten, manchmal waren es SS-Leute.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Aber auch von Ärzten?
SCHMAGLEWSKAJA: Ja, auch von Ärzten. Während solcher Auswahl wurden die jüngsten und gesündesten jüdischen Frauen in sehr geringer Zahl ins Lager eingeliefert. Die Frauen aber, die Kinder auf den Armen trugen oder Kinderwagen schoben, und diejenigen, die erwachsene Kinder hatten, wurden zusammen mit diesen Kindern ins Krematorium geschickt. Die Kinder wurden vor den Krematorien von den Eltern getrennt und gesondert in die Gaskammern geführt.
Zu der Zeit, als die meisten Juden in Gaskammern vernichtet wurden, wurde ein Befehl erlassen, die Kinder in die Öfen des Krematoriums oder in die Gräben um das Krematorium herum zu werfen, ohne sie vorher zu vergasen.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Wie soll man das verstehen, wurden die Kinder lebend hineingeworfen oder vor der Verbrennung auf andere Weise getötet?
SCHMAGLEWSKAJA: Jawohl, die Kinder wurden lebend in den Graben geworfen. Das Geschrei dieser Kinder konnte man im ganzen Lager hören. Es ist schwer zu sagen, wieviele Kinder auf diese Weise umgekommen sind.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Warum wurde das so gemacht? Weil die Gaskammern so überfüllt waren?
SCHMAGLEWSKAJA: Darauf ist schwer zu antworten. Ich weiß nicht, ob die Deutschen Gas sparen wollten, oder weil es keinen Platz mehr in den Gaskammern gab, ich weiß es nicht. Ich möchte hinzufügen, daß man die Anzahl der Kinder nicht, wie zum Beispiel die der Juden, feststellen konnte, da die Transporte direkt ins Krematorium geführt, nicht registriert und daher nicht tätowiert wurden. Sehr oft wurden sie nicht einmal gezählt. Wir, die Häftlinge, versuchten oft, uns über die Anzahl der Menschen, die in den Gaskammern umkamen, Rechenschaft zu geben, aber die Zahl der umgebrachten Kinder konnten wir nur nach der Anzahl der Kinderwagen schätzen, die ins Magazin kamen. Manchmal waren es Hunderte, manchmal Tausende von Kinderwagen.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Pro Tag?
SCHMAGLEWSKAJA: Die Zahl war nicht immer gleich. Es gab Tage, wo die Gaskammern von früh morgens bis spät abends arbeiteten. Ich möchte noch von den Kindern sprechen, die sich in nicht geringer Anzahl als Häftlinge in den Lagern befanden.
Anfang 1943 kamen in das Lager zusammen mit ihren Eltern polnische Kinder aus Zamojschewna. Gleichzeitig kamen auch russische Kinder aus den von den Deutschen besetzten Gebieten an. Später wurden diese Kinder, die zu den früher Genannten hinzukamen, noch um eine kleinere Anzahl jüdischer Kinder vermehrt. In kleinerer Zahl konnte man im Konzentrationslager auch italienische Kinder finden. Die Lage dieser Kinder war genau so schwer wie die der Erwachsenen, vielleicht sogar noch schwerer. Diese Kinder bekamen keine Pakete, da es keinen gab, der ihnen solche Pakete schicken konnte. Sendungen des Roten Kreuzes erreichten die Häftlinge niemals. Im Jahre 1944 begannen italienische und französische Kinder in großer Anzahl im KZ einzutreffen. Alle diese Kinder hatten Ekzeme, lymphatische Geschwüre, Skorbut, litten an Hunger, waren schlecht angezogen, oft barfuß und hatten keine Möglichkeit, sich zu waschen.
Zur Zeit des Warschauer Aufstandes trafen im Konzentrationslager als Häftlinge Kinder aus Warschau ein. Das kleinste Kind war ein Junge von 6 Jahren. Diese Kinder wurden in eine besondere Baracke gebracht, und als der systematische Abtransport der Häftlinge von Birkenau in das Innere Deutschlands begann, wurden diese Kinder zu schweren Arbeiten benutzt.
Zur gleichen Zeit trafen Kinder ungarischer Juden im Konzentrationslager ein; sie arbeiteten zusammen mit den Kindern aus Warschau, die nach dem Warschauer Aufstand angekommen waren. Diese Kinder arbeiteten an zwei Karren, die sie ziehen mußten. So fuhren sie Kohle, eiserne Maschinen, auch Fußbodenbretter und andere schwere Gegenstände von einem Lager ins andere. Sie mußten auch Baracken auseinandernehmen. Das geschah natürlich erst bei der Liquidierung des Lagers. Diese Kinder blieben bis zum Schluß im Konzentrationslager; im Januar 1945 wurden sie evakuiert. Sie mußten zu Fuß nach Deutschland unter genau so schweren Verhältnissen wie die Front zurückgehen. Unter Bewachung der SS gingen sie zu Fuß, hatten keine Nahrung und mußten ungefähr dreißig Kilometer pro Tag zurücklegen.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Starben während dieses Marsches Kinder an Erschöpfung?
SCHMAGLEWSKAJA: Ich war nicht einer Gruppe zugeteilt, in der sich Kinder befanden, da ich es fertig brachte, am zweiten Tag des Evakuierungsmarsches wegzulaufen.
Ich möchte noch etwas über die Methoden der Demoralisierung der Häftlinge im KZ sagen. Alles, was die Häftlinge in den Konzentrationslagern zu erleiden hatten, war das Resultat eines Systems, der Erniedrigung des Menschen.
Die Eisenbahnwagen, in denen die Häftlinge ins Konzentrationslager kamen, waren Viehwagen. Wenn sich die Züge in Bewegung setzten, wurden diese Viehwagen hermetisch mit Nägeln verschlossen. In jedem dieser Wagen befanden sich viele Menschen. Die SS-Bewachung berücksichtigte keineswegs, daß Menschen auch physische Bedürfnisse haben. Es kam vor, daß manche dieser Menschen die nötigen Töpfe mit sich führten. Sie mußten diese Töpfe oft für ihre physischen Bedürfnisse gebrauchen.
Während geraumer Zeit arbeitete ich in einem Lagerraum, wo das Küchengeschirr der Häftlinge eingeliefert wurde.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Wollen Sie sagen, daß Sie in einem Lagerraum arbeiteten, in dem das Küchengeschirr der Ermordeten eingeliefert wurde?
SCHMAGLEWSKAJA: Nein, in dieses Lager wurde bloß das Küchengeschirr gebracht, das die Leute bei ihrer Ankunft im Konzentrationslager mit sich führten.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Ist ihnen das Geschirr weggenommen worden?
SCHMAGLEWSKAJA: Ich wollte sagen, daß manche dieser Töpfe noch Nahrungsmittel und auch menschliche Ausscheidungen enthielten. Jede der Arbeiterinnen bekam einen Eimer kalten Wassers und mußte während eines halben Tages zahlreiches Küchengeschirr waschen. Diese Töpfe, die öfters nicht gut gewaschen sein konnten, wurden an die Menschen weitergegeben, die gerade in den Konzentrationslagern eintrafen. Aus diesem Geschirr mußten sie essen. Deshalb erkrankten sie manchmal in den ersten Tagen schon an Ruhr und anderen Krankheiten.
VORSITZENDER: Oberst Smirnow, ich glaube nicht, daß der Gerichtshof so viele Einzelheiten über diese häuslichen Dinge zu hören wünscht.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Die Zeugin wurde nur vorgeladen, um über die Behandlung der Kinder in den Konzentrationslagern auszusagen.
VORSITZENDER: Wollen Sie die Aussage der Zeugin auf der Linie halten, die Sie einzuschlagen wünschen?
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Sagen Sie, Zeugin, können Sie noch etwas anderes über die Stellung der Deutschen gegenüber den Kindern in den Lagern hinzufügen? Haben Sie uns schon alles erzählt, was Sie über diese Frage wissen?
SCHMAGLEWSKAJA: Ich möchte noch sagen, daß die Kinder dem gleichen System der Demoralisierung und Erniedrigung durch Hungern unterworfen wurden, wie die Erwachsenen. Sie waren so hungrig, daß sie in Abfällen nach etwas Nahrung suchten, nach Kartoffelschalen.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Sagen Sie, Zeugin, können Sie mit Ihrer Aussage bezeugen, daß die Zahl der verbleibenden Kinderwagen von ermordeten Kindern sich manchmal auf 1000 per Tag belief?
SCHMAGLEWSKAJA: Ja, es gab solche Tage.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Herr Vorsitzender, ich habe an die Zeugin keine weiteren Fragen mehr zu stellen.
VORSITZENDER: Will einer der Hauptanklagevertreter die Zeugin befragen?