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[Der Zeuge Lomakin betritt den Zeugenstand.]

VORSITZENDER: Sagen Sie Ihren Namen, bitte!

ZEUGE, SEINE HOCHWÜRDEN NICOLAI IWANOWITSCH LOMAKIN: Nicolai Iwanowitsch Lomakin.

VORSITZENDER: Ist es bei Ihnen Brauch, einen Eid abzulegen, bevor Sie Aussagen machen oder nicht?

LOMAKIN: Ich bin ein orthodoxer Geistlicher.

VORSITZENDER: Wollen Sie den Eid leisten?

LOMAKIN: Ich gehöre zur Rechtgläubigen Kirche. Als ich 1917 mein Gelübde als orthodoxer Geistlicher ablegte, habe ich geschworen, mein ganzes Leben lang die Wahrheit zu sprechen. An diesen Eid halte ich mich auch heute.

VORSITZENDER: Gut. Bitte setzen Sie sich, wenn Sie es wünschen!

OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Sagen Sie bitte, Herr Zeuge, sind Sie Erzdekan der Kirchen Leningrads, das heißt: unterstehen Ihnen alle Kirchen dieser Stadt?

LOMAKIN: Jawohl, sie sind mir alle unterstellt, und ich muß sie von Zeit zu Zeit besuchen und über ihren Zustand und das Leben der Pfarrgemeinde Seiner Gnaden dem Metropoliten Bericht erstatten.

OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Unterstanden Ihnen auch die Kirchen des Distrikts Leningrad?

LOMAKIN: Sie unterstehen mir zur Zeit nicht; jedoch während der Belagerung Leningrads und der Besetzung des Distrikts Leningrad waren sie mir unterstellt.

OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Mußten Sie nach der Befreiung des Distrikts Leningrad auf Anweisung des Patriarchen in diesen Distrikt hinausfahren, um die Kirchen zu besichtigen?

LOMAKIN: Nicht auf Anweisung des Patriarchen, sondern des Metropoliten Alexei, dem damals die Eparchie Leningrad unterstand.

OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Sprechen Sie etwas langsamer, bitte!

LOMAKIN: Nicht im Auftrag des Patriarchen Alexei, damals war Sergei Patriarch, sondern im Auftrag des die Eparchie verwaltenden Metropoliten Alexei, des jetzigen Patriarchen von Moskau und von ganz Rußland.

OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Sagen Sie, Herr Zeuge, wo waren Sie während der Belagerung von Leningrad?

LOMAKIN: Ich war ununterbrochen in Leningrad.

OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Wenn ich mich nicht irre, wurden sie mit der Medaille »Für die Verteidigung Leningrads« ausgezeichnet.

LOMAKIN: Ja, bei der heroischen Verteidigung von Leningrad wurde mir an meinem Geburtstag dieser hohe Regierungsorden verliehen.

OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Sagen Sie, Herr Zeuge, in welcher Kirche haben Sie zu Beginn der Belagerung amtiert?

LOMAKIN: Zu Beginn der Belagerung hatte ich die Leitung des Georges-Friedhofs und war Rektor der Nicolaikirche auf diesem Friedhof.

OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Also das war eine Friedhofskirche?

LOMAKIN: Jawohl.

OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Können Sie vielleicht dem Gerichtshof über die Beobachtungen berichten, die Sie während Ihres Dienstes in dieser Kirche machten?

LOMAKIN: Selbstverständlich.

OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Ich bitte Sie darum.

LOMAKIN: Im Jahre 1941 und Anfang 1942 war ich Rektor der Friedhofskirche. Dort hatte ich folgende tragische Szenen beobachtet, die ich dem Gerichtshof eingehend beschreiben möchte. Einige Tage nach dem heimtückischen Überfall Hitler-Deutschlands auf die Sowjetunion bemerkte ich, wie die Totenmessen schnell zunahmen. Es waren meistens alte Männer, Frauen und Kinder, die während der deutschen Bombenangriffe auf die Stadt getötet wurden, friedliche Leute unserer Stadt.

Wenn vor dem Kriege die Zahl der Toten zwischen 30 und 50 täglich betrug, so erhöhte sich während des Krieges diese Zahl schnell bis zu einigen Hunderten pro Tag. Es war physisch unmöglich, alle Toten in die Kirche zu bringen. Um die Kirche herum wurden ungeheuere Stapel von Särgen aufgebaut, die mit Leichen gefüllt waren, mit verstümmelten Leichen friedlicher Bürger von Leningrad, Opfer der Angriffe der deutschen Luftwaffe.

Neben der zunehmenden Zahl der Totenmessen entwickelte sich die Praxis der sogenannten Totenmessen in Abwesenheit: Die Gläubigen konnten nicht alle Leichen ihrer getöteten Verwandten und Bekannten in die Kirche bringen, da sie unter den Ruinen der von den Deutschen zerstörten Häuser begraben lagen. Um die Kirche herum konnte man während des Tages massenhaft Särge, hundert, zweihundert, sehen, über denen ein Priester eine Totenmesse las.

Entschuldigen Sie, aber es wird mir sehr schwer, hierüber zu sprechen. Dem Gerichtshof ist ja bekannt, daß ich die ganze Belagerungszeit mitgemacht habe, vor Hunger fast gestorben bin. Alle Schrecken der ununterbrochenen Luftangriffe der Deutschen habe ich erlebt. Mehrere Male wurde ich verletzt.

Im Winter 1941/1942 war die Lage von Leningrad besonders schwer: Die unaufhörlichen Angriffe der deutschen Luftwaffe, der Artilleriebeschuß, der Mangel an Licht, Wasser, Transport, Kanalisation in der Stadt und endlich die fürchterliche Hungersnot, überdies erlitten die friedlichen Bürger der Stadt unerhörte Entbehrungen, die in der Geschichte der Menschheit einmalig sind. Sie waren wirklich Helden, die für ihr Vaterland litten, diese unschuldigen friedlichen Bürger.

Außer dem, was ich Ihnen jetzt erzählt habe, erlebte ich während meiner Tätigkeit in der Friedhofskirche auch andere schreckliche Szenen. Der Friedhof wurde sehr oft von deutschen Flugzeugen angegriffen, und stellen Sie sich das Bild vor, Menschen, die die ewige Ruhe gefunden haben, ihre Särge, ihre Leichen, ihre Knochen und Schädel – all das wird herausgeschleudert. Gedenksteine und Kreuze liegen wild zerstreut herum, und die Menschen, die eben den Verlust ihrer Nächsten erlitten haben, mußten erneut leiden beim Anblick der riesigen Bombentrichter, vielleicht an der gleichen Stelle, an der sie gerade ihre nächsten Verwandten und Bekannten begraben hatten; sie mußten erneut leiden, weil diese ihre Ruhe nicht finden konnten.

OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Sagen Sie bitte, Herr Zeuge, in welchem Ausmaß erhöhte sich die Zahl der Totenmessen in dieser Friedhofskirche während der Hungerzeit?

LOMAKIN: Wie ich bereits sagte, infolge der unglaublichen, durch die Blockade geschaffenen Bedingungen, infolge der ununterbrochenen Angriffe der deutschen Luftwaffe und infolge des Artilleriebeschusses auf die Stadt wuchs die Zahl der Totenmessen in unglaublicher Weise, bis zu einigen tausend pro Tag an.

Jetzt möchte ich dem Gerichtshof insbesondere davon erzählen, was ich am 7. Februar 1942 beobachtet habe. Einen Monat vor diesem Vorfall war ich durch Hunger und durch den langen Weg, den ich täglich von der Wohnung zur Kirche zurücklegen mußte, so erschöpft, daß ich krank wurde. Meine Pflichten wurden durch zwei meiner Hilfsgeistlichen erfüllt. Am 7. Februar, einem »Verwandtensonnabend« vor Beginn der großen Fastenzeit, konnte ich zum ersten Male nach meiner Krankheit wieder zur Kirche. Vor meinen Augen eröffnete sich ein Bild, das mich erschauern ließ. Rings um die Kirche waren Haufen von Leichen aufgestapelt, die teilweise sogar den Eingang versperrten. Jeder Haufen bestand aus 30 bis 100 Leichen; sie lagen nicht nur am Kirchentor, sondern auch um die Kirche herum.

Ich war auch Zeuge, wie Menschen, die die Bestattung selbst auszuführen versuchten, vor Hunger erschöpft neben dem Leichnam in den Staub sanken und starben. Ich habe solches selbst oft beobachtet.

OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Ich bitte Sie, Herr Zeuge, mir Antwort auf folgende Frage zu geben:

Welche Zerstörungen wurden den Kirchen zugefügt?

LOMAKIN: Wie ich bereits gesagt habe, meine Herren Richter, mußte ich als Erzdekan regelmäßig die Kirchen der Stadt besichtigen und meinem Vorgesetzten, dem Metropoliten, berichten, und zwar hatte ich in allen Einzelheiten zu berichten, und hier sind meine persönlichen Beobachtungen und Eindrücke:

Die Auferstehungskirche am Gribojedowkanal, eine hochkünstlerische Kirche, wurde durch Artilleriefeuer des deutschen Feindes schwer beschädigt. Die Kuppeln wurden zerschmettert, die Dächer von Geschossen durchschlagen, zahlreiche Fresken wurden teilweise beschädigt oder gänzlich zerstört. Die Dreifaltigkeitskathedrale in der Ismailowskaja-Festung, ein Denkmal des türkischen Krieges, das mit schönen künstlerischen Friesen über die Einnahme der Ismailowskaja-Festung verziert war, wurde systematisch von der deutschen Artillerie beschossen und stark beschädigt. Das Dach wurde zerstört und alle künstlerischen Skulpturen wurden zerschlagen. Nur wenige Bruchstücke blieben übrig.

OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Sagen Sie bitte, Herr Zeuge, wieviele Leningrader Kirchen wurden beschädigt und wieviele wurden zerstört?

LOMAKIN: Fast vollständig wurde die Kirche des Seraphimfriedhofs zerstört. Sie wurde nicht nur durch Artilleriefeuer, sondern auch durch Luftangriffe schwer beschädigt. Die deutsche Luftwaffe hat sehr große Beschädigungen an Kirchen verursacht. Zu allererst muß ich über zwei Kirchen sprechen, die am meisten durch die Belagerung von Leningrad gelitten haben. Es ist in erster Linie die Kathedrale des Fürsten Wladimir, in der ich gegenwärtig die Ehre habe zu predigen. Ich war Rektor dieser Kathedrale vom Februar bis 1. Juli 1942, und nun muß ich Ihnen einen äußerst interessanten und erschütternden Vorfall erzählen, der sich am Abend vor Ostern des Jahres 1942 ereignete. Um 5 Uhr abends, Moskauer Zeit, unternahm die deutsche Luftwaffe einen Großangriff. Um 5.30 Uhr fielen zwei Bomben. Die Gläubigen warteten gerade darauf, an das Bild der Grablegung unseres Herrn heranzutreten. Es stand dort eine ungeheure Menge Gläubiger, die ihre christliche Pflicht erfüllen wollten. Ich sah ungefähr 30 Leute, die verwundet an verschiedenen Stellen vor dem Eingang zur Kathedrale und um die Kathedrale herum lagen. Einige Zeit waren sie gänzlich hilflos, bis wir ihnen ärztliche Hilfe bringen konnten. Es war eine Szene völliger Verwirrung. Menschen, die nicht Zeit hatten, in die Kathedrale zu gelangen, versuchten, sich in den Splittergräben zu verbergen, der andere Teil, der in die Kathedrale gelangte, verteilte sich und wartete einfach auf den Tod. Die Erschütterung durch die Bomben war in der Kathedrale so stark, daß im Verlaufe des Bombardements das Glas zerbrach und die Stukkatur herunterfiel. Als ich aus einem Zimmer der zweiten Etage in die Kathedrale hinunterkam, bot sich mir ein erschütterndes Bild. Die Menschen umdrängten mich und fragten: »Väterchen, bist du am Leben? Sie sagten, wie soll man daran glauben, wenn erzählt wird, daß die Deutschen christliche Menschen seien, die Christus lieben, und daß sie den Menschen, die gottgläubig sind, nichts antun? Wo ist ihr Glaube, wenn sie am Ostersonnabend so herumschießen?« Ich muß bemerken, daß dieser Angriff der deutschen Luftwaffe bis zum Ostermorgen dauerte. Die Nacht der Liebe, die Nacht der christlichen Freude, die Nacht der Auferstehung wurde durch die Deutschen eine Nacht des Blutes und des Leidens Unschuldiger. Es vergingen zwei bis drei Tage. In der Kathedrale des Fürsten Wladimir – ich als Rektor konnte das übersehen – und in anderen Kirchen und Friedhöfen erschienen die Opfer des Osterangriffs der deutschen Luftwaffe: Greise, Frauen und Kinder...

OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Sagen Sie, Herr Zeuge, Sie mußten auch den Bezirk Leningrad besuchen und den Zustand der Kirchen untersuchen?

Waren Sie nicht Augenzeuge...

VORSITZENDER: Oberst Smirnow, wenn Ihr Verhör noch weitergeht, so werden wir lieber jetzt 10 Minuten vertagen.