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[Das Gericht vertagt sich bis

15. März 1946, 10.00 Uhr.]

Zweiundachtzigster Tag.

Freitag, 15. März 1946.

Vormittagssitzung.

DR. STAHMER: Welche Gründe waren für den Einfall in Holland und Belgien maßgebend?

GÖRING: Diese Frage ist zunächst vom rein militärischen und strategischen Standpunkt aus überprüft worden. Es ist zunächst geprüft worden, ob die Neutralität dieser beiden Staaten unbedingt gesichert sein würde.

VORSITZENDER: Es ist etwas mit der Übertragungsanlage nicht in Ordnung. Der Gerichtshof wird sich zurückziehen.

[Verhandlungspause.]

DR. STAHMER: Wollen Sie bitte fortfahren?

GÖRING: Ich wiederhole; zunächst mußten wir uns klar darüber werden, ob die Neutralität Hollands und Belgiens unter allen Umständen bei dem Konflikt und bei dem Kampfe im Westen gesichert sein würde. Anfänglich schien es so. Dann mehrten sich die Nachrichten, daß besonders zwischen Belgien und Frankreich, aber auch zwischen Holland und England Erörterungen stattgefunden hätten. Ein Zwischenfall bei Venlo, in welchem ein holländischer Generalstabsoffizier auf deutschem Gebiet gefaßt wurde und ein anderer, glaube ich, bei diesem Zusammenstoß von der Grenzwache erschossen wurde, ergab einen neuen Einblick darin, daß diese Neutralität unter Umständen unter verschärftem Druck der Feindseite nicht aufrecht erhalten werden konnte.

Wenn die Neutralität also nicht unter allen Umständen sicher war, entstand für den Kampf eine ungeheure Gefahr dadurch, daß die rechte Flanke bedroht und offen lag. Die rein militärischen Dienststellen, die nur die strategischen Gesichtspunkte zu berücksichtigen hatten, mußten, nachdem sie zur Stellungnahme aufgefordert waren, diese in rein militärischem Sinne abgeben, das heißt, darauf hinweisen, daß selbstverständlich durch Besetzung beider Länder die rein militärisch-strategische Situation eine andere sei, wie dann, wenn dies nicht geschehe und von seiten des Gegners eine solche Besetzung erfolgen würde.

Ein weiteres Moment, an die absolute Neutralität dieser Länder nicht mehr glauben zu können, war die Tatsache, daß fast sämtliche Einflüge von Großbritannien, die damals stattfanden, jedesmal in der Hauptsache über holländisches und belgisches Gebiet hinweggingen. Nachrichten verbürgter Art kamen uns zu Ohren, daß die belgische Armee ihren Aufmarsch, den sie zunächst bei Kriegsausbruch verstärkt an ihrer Südwestgrenze vorgenommen hatte, umgruppierte und mit sämtlichen Streitkräften an der deutschen Grenze aufmarschierte.

Weitere Nachrichten besagten, daß ein enger Gedankenaustausch zwischen dem französischen und dem belgischen Generalstab stattgefunden hatte und auf Druck des französischen Generalstabs Belgien sich verpflichtete, an der Befestigungslinie der Maas gegen Deutschland mit aller Verstärkung zu arbeiten.

Weitere Nachrichten besagten, daß sowohl der französische Generalstabschef Gamelin wie Admiral Darlan und der Chef der Luftwaffe Vuillemin die Besetzung Belgiens unter allen Umständen zur Sicherheit Frankreichs forderten, und daß erhebliche Aussprachen zwischen der Englischen und Französischen Regierung darüber stattfanden. Diese Nachrichten waren damals ziemlich verbürgt. Wie richtig und absolut klar sie waren, ergab sich später, als nach dem Einmarsch in Frankreich wir die Geheimdokumente des französischen Generalstabs und auch die Besprechungen, die zwischen der Französischen und Englischen Regierung im sogenannten Obersten Kriegsrat stattgefunden hatten, sahen.

Die Ansicht des Führers war, daß gerade durch das Nichtaufrechterhaltenkönnen der Neutralität seitens dieser Länder gegenüber verstärktem englisch-französischem Druck, daß dann besonders das für uns so vitale Ruhrgebiet in äußerste Gefahr geraten würde. Wie richtig diese Auffassung war, ergibt sich ebenfalls aus diesen Berichten, in denen der englische Regierungschef vorschlug und ausgiebig auch durch die Sachverständigen im Kriegsrat darlegen ließ, wie am zweckmäßigsten das Ruhrgebiet anzugreifen sei, und zwar dadurch, daß die englische Luftwaffe im niedrigsten Tiefflug über Belgien fliegen sollte, um dann im letzten Augenblick im kürzesten Anflug von der belgischen Grenze über das Ruhrgebiet herzufallen und die entscheidenden Industrien dort zu zerstören.

Wenn es zunächst nicht dazu kam, so war es die Sorge des französischen Ministerpräsidenten, daß er seinerseits für die französische Industrie fürchtete und es zunächst der anderen Seite überlassen wollte, die ersten Industrieangriffe durchzuführen. England bestand aber darauf, jederzeit diesen über Belgien zu führenden Angriff gegen das Ruhrgebiet einsetzen zu können.

Wenn man bedenkt, wie kurz nun die Flugstrecke von der belgischen Grenze bis zu den entscheidendsten Industrien des Ruhrgebietes ist, nur wenige Minuten, dann muß man die ganze Gefahr erkennen, die darin lag, wenn die Neutralität Belgiens seitens unserer Gegner nicht geachtet wurde; wenn sie geachtet würde, hätte umgekehrt ein Angriff durch die Luftwaffe Englands auf das Ruhrgebiet über die Deutsche Bucht von Norden kommend einen verhältnismäßig langen Anflug gehabt, bei dem es ohne weiteres möglich gewesen wäre, in der damaligen Zeit einen derartigen Angriff zu verhindern und zurückzuschlagen.

Kamen sie hingegen über Belgien, so war dies fast ziemlich ausgeschlossen. Es war also bei diesem schweren Kampf notwendig, in allererster Linie an die eigenen Kampf- und Lebensinteressen zu denken und hier nicht die Vorhand dem Gegner zu lassen, sondern in dem Augenblick, wo man aufrichtig durchdrungen war von der Erkenntnis dieser, unserem Volk und zunächst unserer Wehrmacht drohenden Gefahr, diese vorweg auszuschalten und die Vorteile, die der Gegner für sich erwartet hatte, sich selbst zu sichern.

DR. STAHMER: Aus welchen Gründen sind in Frankreich noch nach Beendigung des Krieges Offiziere wiederum interniert worden?

GÖRING: Ich möchte zunächst zu dieser Frage einen Ausdruck richtig stellen. In Frankreich war der Krieg keineswegs als solcher beendet. Es war ein Waffenstillstand geschlossen. In diesem Waffenstillstand war auch sehr großzügig verfahren worden. Diesem Waffenstillstand war schon in der Präambel eine Tendenz kommender Versöhnung gegeben, ganz im Gegensatz zu dem Waffenstillstand, der 1918 an derselben Stelle stattgefunden hatte.

Als damals der Marschall Pétain um den Waffenstillstand ersuchte, so war auch hier ihm zunächst zur Antwort gegeben worden, daß die Kapitulation eine bedingungslose sein müßte. Man hat dann durchblicken lassen, daß man aber auf eine Reihe von Wünschen, die sich auf Flotte, gewisse Teile eines unbesetzten Gebietes, Respektierung der Kolonien bezogen, eingehen würde. Die Lage war eine derartige, daß Deutschland in diesem Augenblick auf einer absoluten und bedingungslosen Kapitulation hätte durchaus bestehen können, und daß keinerlei französische Streitkräfte von Bedeutung und erst recht nicht irgendwelche Hilfsstreitkräfte, die von England hätten kommen können, zur Verfügung standen, um eine restlose militärische Katastrophe Frankreichs zu verhindern.

Keine Linie und keine französische Formation hätte den Durchstoß der deutschen Truppen bis an das Mittelmeer verhindern können. In England standen keinerlei Reserven zur Verfügung. Alles, was an Einsatzkräften dort war, befand sich in der Expeditionsarmee, die im belgisch-nordfranzösischen Raum und schließlich bei Dünkirchen zusammengeschlagen war.

In diesem Waffenstillstand wurden nun jene Bedingungen respektiert, die als Wünsche geäußert waren. Der Führer hatte unabhängig davon auch eine gewisse großzügige Lösung gerade der Offiziersfrage, bezüglich der Gefangenen sagen wir, angedeutet. Als nun ganz im Gegensatz zu einer weitgehenden Befriedigung, die wir erhofft hatten und die zunächst auch absolut eingetreten war, durch die Propaganda von jenseits des Kanals und die Errichtung eines dortigen neuen Widerstandszentrums unter dem General de Gaulle in Frankreich selbst die Widerstandsbewegung sich langsam zu entwickeln begann, war es von meinem Standpunkt aus durchaus verständlich, daß sich in erster Linie französische Offiziere als Patrioten hierfür zur Verfügung gestellt haben. Aber ebenso selbstverständlich war es für Deutschland, daß es diese Gefahr erkennend jene Elemente, die nun einmal bei solchen militärischen Widerstandsbewegungen die führenden sind und auch die Fachleute, nämlich die Offiziere, daß es dieser Gefahr in erster Linie dadurch Herr zu werden versuchte, daß es die sich frei in Frankreich bis dahin noch bewegenden Offiziere wiederum in Kriegsgefangenschaft genommen hat. Es war dies eine fundamentale Voraussetzung, um überhaupt die Gefahr eines Krieges im Rücken und eines erneuten Aufflammens in Frankreich auszuschließen. Es ist, glaube ich, überhaupt einmalig, daß, während noch an allen Fronten der Krieg aufs schwerste tobte, man einem Land, mit dem man zunächst nur einen Waffenstillstand hat, überhaupt gestattet, daß zu diesem Zeitpunkt, wo noch der Krieg im höchsten Ausmaß anhält, Offiziere sich frei bewegen können. Soviel ich weiß, ist das zum erstenmal in der Kriegsgeschichte geschehen.

DR. STAHMER: Können Sie bestimmte Tatsachen anführen zur Erklärung, daß der Kampf in Frankreich, der doch offenbar 1940 beiderseits ritterlich geführt ist, später so bittere Formen angenommen hat?

GÖRING: Man muß hier im Kampf mit Frankreich zwei Phasen völlig auseinanderhalten. Die erste Phase war die große militärische Auseinandersetzung, das heißt der Angriff der deutschen Streitkräfte gegen die Französische Armee. Dieser Kampf wurde schnell durchgeführt. Man kann nicht davon sprechen, daß er durchaus als ein ritterlicher Kampf zu bezeichnen war, denn gerade aus dieser Zeit stammten schon eine Reihe von Taten auf französischer Seite gegen unsere Gefangenen, die später in den beim Genfer Roten Kreuz abgelieferten Weißbüchern bezeichnet sind. Aber im großen und ganzen hatte er sich doch in den üblichen Formen eines militärischen Kampfes gehalten mit den Ausschreitungen, die immer in solch einem Kampfe da und dort auftreten.

Nachdem dies abgeschlossen war, trat zunächst eine Befriedung und Ruhe ein. Erst dann, als der Kampf weiterging und eine größere Ausweitung annahm, besonders als der Kampf mit Rußland hinzukam, und wie ich vorhin sagte, auch auf der Gegenseite ein neues französisches Leitungszentrum sich gebildet hatte, trat nun in den Ländern des Westens, die bis dahin ruhig waren und in denen es auch zu keinen irgendwelchen ernsten Vorkommnissen gekommen war, eine absolute Verschärfung durch die Widerstandsbewegungen ein: Überfälle auf deutsche Offiziere und Soldaten; Handgranaten und Bomben wurden in Lokale geworfen, wo sich deutsche Offiziere oder Soldaten befanden. Bomben wurden auch sogar dort hineingeworfen, wo sich Frauen, Nachrichtenhelferinnen und Rotkreuzschwestern befanden. Autos wurden überfallen, Verbindungen wurden durchschnitten, Bahnen wurden gesprengt und dies in zunehmendem Maße.

Während ein Krieg hinter der Front zu den Zeiten, da es sich nur um einen Landkrieg handelte, schon genügend Schwierigkeiten bot, haben sich durch das Hinzukommen des Luftkrieges hier völlig neue Möglichkeiten und Methoden entwickelt. Nacht für Nacht kam eine große Reihe von Flugzeugen und warf eine Unmenge von Sprengstoff und Waffen, Anweisungen und ähnliches für diese Widerstandsbewegung ab, um sie zu verstärken und zu vergrößern. Es gelang zwar der deutschen Abwehr durch sogenanntes Flugspiel, durch abgeworfene Chiffrierschlüssel und Vortäuschungen, einen großen Teil dieser Materialien in die eigene Hand zu bekommen, aber es blieb immer noch genug übrig, was der Widerstandsbewegung in die Hand fiel. Die Grausamkeiten, die hierbei zunächst geschehen sind, sind ebenfalls von außerordentlicher Ausdehnung gewesen. Auch hierüber sind Dokumente vorhanden. Daß selbstverständlich...

JUSTICE JACKSON: Hoher Gerichtshof! Ich bedauere, das Verhör unterbrechen zu müssen, aber ich möchte den Gerichtshof fragen, ob er nicht von der Vorschrift des Statutes Gebrauch machen und von dem Verteidiger eine Erklärung verlangen möchte, inwieweit diese Ausführungen für die Anklagepunkte, die wir jetzt untersuchen, erheblich sind.

Damit entsteht eine ziemlich umfassende und wichtige Frage, deren Behandlung meines Erachtens eine beträchtliche Zeit beanspruchen wird, sofern man dem Faktor Zeit in diesem Verfahren Bedeutung beimessen will.

Was diese Ausführungen betrifft, so will ich zugeben, daß von den Partisanengruppen in den besetzten Gebieten Handlungen ausgeführt wurden, die für den eroberungslustigen Feind sehr störend, nachteilig und schädlich waren. Wenn hier beabsichtigt wird, auf Grund der Repressalientheorie Zeugenaussagen über die Handlungen der Partisanen gegen die deutschen Besatzungstruppen einzuführen, dann mochte ich ergebenst darauf hinweisen, daß der Verteidiger in verkehrter Reihenfolge vorgeht; das heißt, wenn die Verteidigung sagt: »Ja, wir haben gewisse Greueltaten begangen; wir haben das Völkerrecht verletzt«, dann könnte es sein, daß das Motiv – ich werde zeigen, daß es das nicht war –, nach Haager Konvention erheblich sei; dann müßte aber diese Frage wenigstens hier vorgetragen werden.

Wenn dieses Beweismaterial jedoch nicht auf Grund der Theorie vorgelegt wird, daß Repressalien gerechtfertigt sind, so hat es meines Erachtens in diesem Fall keinen Raum. Wenn es auf der Grundlage einer Theorie der Repressalien vorgelegt wird, dann lautet unsere erste Frage: wogegen wurden diese Repressalien ergriffen? Mit anderen Worten, die Lehre von den Repressalien kann nur herangezogen werden, wenn zunächst zugegeben wird, daß bestimmte Handlungen unter Verletzung des Völkerrechtes begangen wurden. Dann können Sie die Frage stellen, ob sie gerechtfertigt waren. Ich bin der Ansicht, daß es zur Abkürzung und sicherlich auch zur Klärung des Verfahrens beitragen würde, wenn der Verteidiger genau angeben würde, auf welche Handlungen der deutschen Besatzungstruppen sich diese Zeugenaussage, vermutlich als Entschuldigung, erstrecken soll. Wenn eine Vergeltungstheorie nicht mit genügender Deutlichkeit dargelegt werden kann, so daß wir die Verstöße auf deutscher Seite erkennen können, die durch die Repressalientheorie entschuldigt werden sollen, so würde uns diese Aussage für die Entscheidung der entscheidenden Frage nichts nützen.

Es geht hier nicht darum, ob die besetzten Länder Widerstand leisteten; natürlich leisteten sie Widerstand. Es handelt sich vielmehr darum, ob Handlungen der erwähnten Art durch Repressalien entschuldigt werden können; wenn dies der Fall ist, müssen diese Handlungen zugegeben werden; auch muß die Lehre der Vergeltung meines Erachtens viel genauer unterbaut werden.

VORSITZENDER: Bitte, Dr. Stahmer.

DR. STAHMER: Ich habe die Ausführungen selbst nicht aufnehmen können, weil die Übersetzung nicht ganz mitgekommen ist; aber ich meine, daß dieses Vorbringen aus folgenden Erwägungen erheblich ist:

Den Angeklagten wird vorgeworfen, daß Geiseln in großem Umfange festgenommen und erschossen wurden, und es wird behauptet, daß dieses zu Unrecht erfolgt sei. Auf jeden Fall wurde auf die Motive, die zu der Festsetzung der Geiseln geführt haben, bisher nicht oder nur unzureichend eingegangen. Es ist zur Klärung dieser für die Entscheidung des Prozesses wichtigen Frage meines Erachtens unbedingt erforderlich, festzustellen, daß zu der Festnahme und der Behandlung von Geiseln das Verhalten der Widerstandsbewegung geführt hat.

Es wird meines Erachtens sehr wohl und mit Recht ausgeführt werden können, daß das Vorgehen der Widerstandsbewegung die Ursache gewesen ist für die Maßnahmen, die dann von der deutschen militärischen Leitung zu ihrem Bedauern getroffen werden mußten.

JUSTICE JACKSON: Darf ich kurz auf den Antrag Dr. Stahmers, falls es sich um einen solchen handelt, erwidern?

Mir scheint, daß der Vorschlag Dr. Stahmers, hier die Motive zu untersuchen, uns zu weit vom Thema abbringt. Wenn er sich auf die völkerrechtliche Lehre über Repressalien berufen will, dann muß er deren Bedingungen beachten:

Gemäß Artikel 2 der Genfer Konvention vom 27. Juli 1929 sind Repressalien gegen Kriegsgefangene ausdrücklich verboten. Dr. Stahmer muß also andere Personen als Kriegsgefangene ins Auge fassen. Nach der Lehre der Vergeltungsmaßnahme, wie wir sie verstehen, muß jede Handlung, die als Vergeltungsmaßnahme gerechtfertigt werden soll, auf eine bestimmte und fortgesetzte Verletzung des Völkerrechts durch die Gegenseite zurückgeführt werden können. Das bedeutet, daß nicht jede gelegentliche und zufällige Verletzung zu umfangreichen Repressalien berechtigt. Wenn dem so wäre, dann würde das Völkerrecht hinfällig; denn jede noch so unbedeutende Verletzung der einen Seite würde die andere vollständig von allen Regeln der Kriegführung entbinden.

Zweitens: Alles, was als eine gerechtfertigte Repressalie in Anspruch genommen wird, muß innerhalb einer angemessenen Zeit erfolgen und in einem vernünftigen Verhältnis zu der Verletzung stehen, die verhindert werden soll. Das bedeutet, daß Massenmorde nicht als Repressalie durchgeführt werden können, um einen einzigen Mord zu vergelten. Dann muß der Ergreifung von Repressalien ein Protest vorangegangen sein. Repressalien können nicht ohne vorherige Bekanntmachung durchgeführt werden. Die Repressalien müssen bekanntgemacht werden und die Bekanntmachung muß durch eine verantwortliche Stelle der Regierung erfolgen.

Der nächste und wichtigste Punkt ist, daß eine vorsätzliche Politik der Völkerrechtsverletzung nicht als Repressalie gedeckt werden kann; nur bestimmte Maßnahmen für bestimmte Taten können unter den Bedingungen, die ich soeben erwähnt habe, als Repressalie gelten. Man kann keine Schreckensherrschaft mit der Lehre der Repressalie rechtfertigen. Und so erlaube ich mir die Bemerkung, daß der Antrag Dr. Stahmers, die Beweggründe Görings oder aller Angeklagten gemeinsam oder die deutschen Beweggründe schlechthin zu untersuchen, einer rechtlichen Prüfung standhält. Nach der Schuldigerklärung kann dies dargelegt werden, um eine Strafmilderung zu erreichen; für die Frage der Schuld oder Unschuld hinsichtlich der Anklagepunkte, die wir dem Gerichtshof vorgelegt haben, ist diese Erwägung jedoch nicht zulässig.

VORSITZENDER: Herr Justice Jackson, soweit ich Sie verstanden habe, sind Sie ebenfalls der Ansicht, daß Beweismaterial dieser Art für die Frage des Strafmaßes erheblich sein könnte?

JUSTICE JACKSON: Ich glaube, wenn die Herren Richter die Angeklagten für schuldig befunden haben, erhebt sich nach unserer Praxis die Frage des Strafmaßes. Man könnte fast alles, was ein Angeklagter vorzubringen für nötig erachtet, als für das Strafmaß erheblich ansehen; ich glaube aber nicht, daß Herr Dr. Stahmer sich hier mit der Frage der Anträge beschäftigt, die für dieses Thema von Bedeutung sind. Wenn das der Fall ist, wäre ich natürlich damit einverstanden, daß jeder Antrag auf Milderung gehört wird. Aber soweit ich verstehe, wird dies zur Schuldfrage vorgetragen.

VORSITZENDER: Das mag sein, aber der Gerichtshof dürfte es für zweckmäßiger halten, die Aussage jetzt zu hören. Das Statut läßt, soviel ich weiß, keine Beweise mehr zu, nachdem der Schuldspruch gegen einen Angeklagten gefällt ist. Darum muß alles Beweismaterial, das zur Milderung vorgebracht wird, jetzt vorgetragen werden.

JUSTICE JACKSON: Die Schwierigkeit dürfte meiner Meinung nach darin bestehen, daß ein Angeklagter sehr wohl in gewissen, aber nicht in allen Punkten für schuldig befunden werden kann. Das würde zu diesem Zeitpunkt eine Erörterung der Straffrage erfordern, die zu zwei Dritteln belanglos sein würde, wenn er nur in einem Punkt für schuldig befunden wird.

Es mag sein, daß ich zu Gunsten der Praxis, die mir bekannt ist oder von der man wenigstens annehmen kann, daß ich etwas davon verstehe, voreingenommen bin. In unserem Verfahren wird die Frage der Schuld zuerst untersucht. Die Frage der Strafe ist davon getrennt und wird erst nach dem Schuldspruch entschieden. Meiner Auffassung nach wäre das auch in diesem Verfahren ein vernünftiger Weg. Und ich fasse es so auf, daß dieser Vortrag – und ich glaube, Dr. Stahmer bestätigt meine Ansicht – sich nicht auf die Straffrage bezieht. Ich glaube nicht, daß er zugeben wird, diesen Punkt schon jetzt erreicht zu haben.

DR. STAHMER: Darf ich mich noch ganz kurz zu der Rechtsfrage äußern? Es steht fest, oder jedenfalls wird diesseits behauptet, daß in Frankreich völkerrechtliche Verletzungen durch die Organisation des Bandenkrieges in großem Umfange vorgekommen sind. Die Bekämpfung dieses völkerrechtswidrigen Verhaltens kann erfolgen durch Repressalien, die soeben von Herrn Oberrichter Jackson ausgeführt wurden. Es ist richtig, daß für die Anwendung von Repressalien gewisse Voraussetzungen gegeben sind. Es kann hier meines Erachtens dahingestellt bleiben, ob solche...

VORSITZENDER: Darf ich Sie fragen, ob Sie damit übereinstimmen, daß die Bedingungen, die Herr Justice Jackson vorgetragen hat, richtig wiedergegeben worden sind?

DR. STAHMER: Jawohl! Es handelt sich dann hier aber auch nach meiner Auffassung um den Tatbestand des Notstandes, der durch das völkerrechtswidrige Verhalten bei Auslösung des Bandenkrieges entstand. Und dieser Tatbestand gab den Heeresbefehlshabern das Recht, allgemeine Anordnungen zu treffen, um diesen widerrechtlicherweise herbeigeführten Tatbestand zu beseitigen. Es ist also in jedem Falle dieser Sachverhalt für die Urteilsfindung von Bedeutung und erheblich.

VORSITZENDER: Der Gerichtshof beabsichtigt nicht, eine unbegrenzte Anzahl von Verteidigern zu hören, aber, wie ich sehe, ist Herr Dr. Exner hier, und wir sind bereit, einen weiteren Verteidiger – wenn die Verteidigung es wünscht, Herrn Dr. Exner – zu diesem Thema zu hören.

PROFESSOR DR. FRANZ EXNER, VERTEIDIGER DES ANGEKLAGTEN JODL: Meine Herren Richter! Wir sind in der Tat alle interessiert an der Frage der Repressalien, und ich möchte ein paar Worte ausführen.

Ich habe immerhin zehn Jahre Völkerrecht an der Universität gelesen, und ich glaube, ein bißchen davon zu verstehen. Die Frage der Repressalien ist eines der umstrittensten Gebiete des Völkerrechts. Man kann sagen, daß nur in einem Punkt Sicherheit besteht, dem Punkt nämlich, den Herr Oberrichter Jackson als ersten hervorgehoben hat: »Repressalien gegen Kriegsgefangene sind unzulässig«. Alles andere ist bestritten und keineswegs geltendes Völkerrecht. Es ist nicht richtig, daß es allgemeine Staatenpraxis wäre und daher geltendes Völkerrecht, daß ein Protest Voraussetzung ist für die Ergreifung der Repressalien. Es ist auch nicht richtig, daß ein sogenannter vernünftiger Zusammenhang bestehen muß. Es wurde behauptet, es müsse ein zeitlicher Zusammenhang sein, und es müsse vor allem Proportionalität zwischen der drohenden Völkerrechtswidrigkeit und der zugefügten Völkerrechtswidrigkeit bestehen; es gibt Gelehrte des Völkerrechts, welche es behaupten; es ist in der Tat so, daß gewünscht werden müßte, daß hier eine Proportionalität jeweils stattfindet, aber ein geltendes Völkerrecht in dem Sinne, daß irgendeine Abmachung in diesem Sinne bestanden hätte, oder daß ein völkerrechtliches Gewohnheitsrecht vorhanden wäre, gibt es nicht. Es wird also gesagt werden müssen, auf Grund von Völkerrechtswidrigkeiten der Gegenseite dürfen wir keineswegs Repressalienkrieg gegen Kriegsgefangene ergreifen; jede andere Form der Repressalie dagegen ist zulässig.

Ich wollte das nur im allgemeinen ausführen und vielleicht noch das: Es ist behauptet worden, daß wir über einen Strafmilderungsgrund jetzt keine Ausführungen machen dürfen. Ich möchte das Gericht daran erinnern, daß uns nur ein einziger Speech gestattet wird, und wenn wir also in diesem Speech, der ja vor der Entscheidung der Frage über die Schuld stattfindet, nicht über die Strafmilderung sprechen dürfen, so dürften wir ja überhaupt nicht über die Strafmilderung Ausführungen machen.

VORSITZENDER: Der Gerichtshof unterbricht die Verhandlung.