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[Das Gericht vertagt sich bis

25. März 1946, 10.00 Uhr.]

Neunzigster Tag.

Montag, 25. März 1946.

Vormittagssitzung.

OBERST CHARLES W. MAYS, GERICHTSMARSCHALL: Hoher Gerichtshof! Die Angeklagten Streicher und Ribbentrop sind heute von der Sitzung ferngeblieben.

DER VORSITZENDE, LORD JUSTICE SIR GEOFFREY LAWRENCE: Herr Dr. Seidl!

[Dr. Seidl begibt sich zum Rednerpult.]

DR. ALFRED SEIDL, VERTEIDIGER DER ANGEKLAGTEN HESS UND FRANK: Herr Präsident, meine Herren Richter! Ich habe am letzten Freitag erklärt, daß ich aus dem 1. Band des Dokumentenbuches nichts verlesen werde; das bedeutet aber nicht, daß ich mich nicht im Plädoyer auf das eine oder andere Dokument beziehen möchte. Es ergibt sich nunmehr die Frage, ob es unter diesen Umständen nicht notwendig ist, die Dokumente, auf die ich mich vielleicht beziehen werde, und die ich jetzt nicht verlesen werde, als Beweisstücke dem Gerichtshof zu übergeben, oder ob es genügt, wenn die Dokumente im Buch abgeschrieben sind. Ich wäre dankbar, wenn der Gerichtshof in dieser Frage mir helfen würde.

SIR DAVID MAXWELL-FYFE, STELLVERTRETENDER HAUPTANKLÄGER FÜR DAS VEREINIGTE KÖNIGREICH: Euer Lordschaft, ich schlage vor, daß der Gerichtshof diese Dokumente im Augenblick als de bene esse ansieht, und daß ihre Zulässigkeit erörtert werden kann, wenn Herr Dr. Seidl zu seinem Plädoyer kommt. Das dritte Buch zum Beispiel enthält eine Anzahl von Meinungsäußerungen verschiedener Politiker und Nationalökonomen aus verschiedenen Ländern. Die Anklagebehörde wird zu gegebener Zeit vorbringen, daß diese Dokumente keine Beweiskraft haben und sich sogar auf eine so fernliegende Angelegenheit beziehen, daß sie nicht erheblich sind. Aber ich meine, es wäre das beste, diese Erörterung erst dann vorzunehmen, wenn wir wissen, welchen endgültigen Zweck Dr. Seidl mit der Vorlage dieser Dokumente verfolgt. Für den Augenblick schlage ich vor, sie anzunehmen, und zwar, wie ich meine, de bene esse.

VORSITZENDER: Herr Dr. Seidl! Der Gerichtshof ist der Ansicht, daß Sie diese Dokumente jetzt als Beweismittel einführen sollten, und zwar der Reihe nach numeriert. Vielleicht ist es am besten, den Nummern ein »H« voranzusetzen, H-1 und so weiter. Dann, wie Sir David vorschlägt, können, da ja die Dokumente alle auf einmal vorgelegt werden, die vielleicht notwendigen Einsprüche wegen ihrer Zulässigkeit oder Erheblichkeit zu einem späteren Zeitpunkt erhoben werden.

DR. SEIDL: Jawohl. Ich gehe dann nochmals auf Band 1 des Dokumentenbuches über. Das erste Beweisstück ist eine Rede, die der Angeklagte Rudolf Heß am 8. Juli 1934 gehalten hat. Dieses Dokument bekommt die Nummer H-1, Seite 23 des Dokumentenbuches.

Das zweite Dokument befindet sich auf Seite 27 des Dokumentenbuches...

VORSITZENDER: Einen Augenblick, Herr Dr. Seidl.

In welcher Hinsicht ist diese Rede erheblich?

DR. SEIDL: Die Rede vom 8. Juli 1934?

VORSITZENDER: Jawohl, die auf Seite 23 vom 8. Juli 1934.

DR. SEIDL: Jawohl, Herr Präsident! Diese Rede beschäftigt sich mit der Frage Krieg und Frieden. Nachdem dem Angeklagten Rudolf Heß zur Last gelegt wird, an der psychologischen Vorbereitung eines Angriffskrieges beteiligt gewesen zu sein, und insofern auch Mitteilnehmer an der Verschwörung gewesen zu sein, scheint mir die Einstellung des Angeklagten Heß zur Frage eines Krieges von beweiserheblicher Bedeutung zu sein.

VORSITZENDER: Gut. Sie dürfen die Rede vorlesen.

DR. SEIDL: Herr Präsident! Ich habe nicht die Absicht, die Rede jetzt zu verlesen. Ich will nur die Rede als Beweisstück anführen, um im Plädoyer die Möglichkeit zu haben, vielleicht darauf Bezug zu nehmen.

VORSITZENDER: Ja, gut.

DR. SEIDL: Ich werde überhaupt nichts aus dem ersten Dokumentenbuch verlesen. Ich will nur einzelne Dokumente als Beweisstücke aufführen.

Ich gehe dann über zu Seite 28 des Dokumentenbuches. Hier handelt es sich ebenfalls um eine Rede des Angeklagten Heß, die er am 27. November 1934 gehalten hat. Dieses Beweisstück bekommt die Nummer H-2.

VORSITZENDER: Die Rede vom 8. Dezember fängt auf Seite 27 an.

DR. SEIDL: Auf Seite 27, jawohl. Das ist hier unrichtig eingetragen. Als drittes Beweisstück überreiche ich eine Rede, beziehungsweise einen Auszug aus einer Rede vom 17. November 1935, Seite 31 des Dokumentenbuches, Beweisstück Nr. H-3. Ich gehe dann über auf Seite 32 des Dokumentenbuches, Auszug aus einer Rede vom 11. Oktober 1936, Beweisstück H-4.

Es folgt sodann eine Rede vom 14. März 1936, Seite 33 des Dokumentenbuches, Beweisstück- H-5.

Das nächste Beweisstück befindet sich auf Seite 35 des Dokumentenbuches, eine Rede vom 21. März 1936, Beweisstück H-6.

Beweisstück H-7 ist die Rede auf Seite 36 des Dokumentenbuches.

Beweisstück H-8 wird die Rede vom 6. Juni 1936, Seite 40 des Dokumentenbuches.

Ich gehe dann über auf Seite 43 des Dokumentenbuches, eine Rede auf dem Reichsparteitag 1936 in Nürnberg, H-9.

Es folgt sodann eine Rede, die auf Seite 59 des Dokumentenbuches im Auszug wiedergegeben ist, Beweisstück H-10.

Eine Rede vom 14. Mai 1938 in Stockholm befindet sich auf Seite 70 des Dokumentenbuches, Beweisstück H-11.

Das nächste Beweisstück befindet sich auf Seite 78 des Dokumentenbuches, Beweisstück H-12.

Damit ist der erste Band des Dokumentenbuches erledigt. Ich gehe nun über zu dem zweiten Bande, und zwar zu der eidesstattlichen Versicherung, die ich bereits am letzten Freitag vorgelegt habe. Sie befindet sich auf Seite 164 des Dokumentenbuches. Die eidesstattliche Versicherung stammt von der früheren Sekretärin Hildegard Fath; sie bekommt die Beweisstücknummer H-13.

Das nächste Beweisstück befindet sich auf Seite 86 des Dokumentenbuches, Band 2, eine Verfügung vom 3. Juni 1936, Beweisstück H-14.

Und ich komme nun dazu, gewisse Abschnitte aus der Niederschrift zu verlesen, die über die Unterredung zwischen dem Angeklagten Rudolf Heß und Lord Simon am 10. Juni 1941 stattgefunden hat. Diese Niederschrift beginnt auf Seite 93 des Dokumentenbuches. Die Niederschrift bekommt die Beweisstücknummer H-15..

Meine Herren Richter! Der Angeklagte Heß ist am 10. Mai 1941 nach England geflogen. Von diesem Fluge wußte niemand als sein damaliger Adjutant Hitsch. Der Führer selbst wurde von dem Fluge und von den damit verbundenen Absichten in einem Briefe in Kenntnis gesetzt, der dem Führer ausgehändigt wurde, nachdem Heß bereits in England gelandet war. Nach seiner Ankunft in England wurde Heß wiederholt von Beamten des Auswärtigen Amtes vernommen, und es hat dann, wie bereits erwähnt, am 10. Juni 1941 die Unterredung zwischen ihm und Lord Simon stattgefunden. Diese Unterredung hat zweieinhalb Stunden in Anspruch genommen. Im Verlaufe dieser Unterredung hat der Angeklagte Heß, Lord Simon von den Motiven in Kenntnis gesetzt, die ihn zu seinem außergewöhnlichen Unternehmen veranlaßten, und er hat dann im Verlauf der Unterredung vier Vorschläge unterbreitet, beziehungsweise vier Punkte, von denen er behauptete, daß sie den Willen Adolf Hitlers wiedergeben würden, auf Grund deren er sich eine Verständigung und einen Friedensschluß denken könnte. Die Unterredung wurde von Lord Simon unter einem Decknamen geführt, er tritt in dem Protokoll, das kurz nach der Unterredung dem Angeklagten Heß ausgehändigt wurde, als Dr. Guthrie auf.

Soweit ich unterrichtet bin, ist diese Maßnahme deshalb getroffen worden, damit vielleicht die Stenographen oder die Übersetzer nicht von vornherein wissen sollten, um was es sich handelte. In der Niederschrift tritt auch ein Dr. Mackenzie auf – bei diesem handelt es sich um einen Beamten des Auswärtigen Amtes – und Mr. Kirkpatrick, der bereits früher mit dem Angeklagten Heß gesprochen hatte. Nach einigen einleitenden Worten von Lord Simon hat sodann der Angeklagte Heß begonnen, die Gründe auseinanderzusetzen, die ihn zu seinem außergewöhnlichen Schritt veranlaßten, und ich zitiere nun auf Seite 93 des Dokumentenbuches in der Mitte wörtlich. Ich muß noch ergänzend sagen, daß in dem Protokoll der Angeklagte Heß unter dem Namen »J« auftritt. Der Angeklagte Heß führte nach den einleitenden Worten folgendes aus:

VORSITZENDER: Dr. Seidl! Es scheint sich hier bei dem Datum um einen Druckfehler zu handeln. Das Datum wird hier als der 9. August angegeben, und Sie sagten der 10. Juni, nicht wahr?

DR. SEIDL: 10. Juni, ja.

VORSITZENDER: Handelt es sich um einen Fehler hier auf Seite 93 oben, – 9. 8. 41?

DR. SEIDL: Auf dem Umschlag des Dokuments findet sich folgende Bemerkung: »Minutes of the conversation which took place on –« am 9. Juni 1941 irgendwo in England.

Auf der Innenseite des Dokuments findet sich dann auch der Eintrag 9. 6. 1941, und es muß sich offenbar um einen Schreibfehler handeln.

VORSITZENDER: Ja, das muß es wohl gewesen sein. Sie haben »8« statt »6« geschrieben.

DR. SEIDL: Jawohl.

VORSITZENDER: Gut.

DR. SEIDL:

»Ich weiß, daß mein Kommen wohl von niemandem richtig verstanden worden ist, denn es ist ein außergewöhnlicher Schritt, den ich getan habe, daß ich es gar nicht erwarten kann. Deswegen möchte ich beginnen damit, daß ich darlege, wie ich dazu gekommen bin.«

Ich fahre dann auf Seite 94 fort:

»Ich bin auf den Gedanken gekommen, als ich im Juni des vergangenen Jahres noch während des Frankreichfeldzuges beim Führer war« –

Die folgende Zwischenbemerkung glaube ich auslassen zu dürfen, und ich fahre dann wörtlich wieder weiter fort:

»Ich muß gestehen, daß ich zum Führer kam, überzeugt, wie wir alle, daß wir über kurz oder lang, aber einmal sicher, England besiegen würden, und ich vertrat daher den Standpunkt dem Führer gegenüber, daß wir selbstverständlich von England nunmehr zurückfordern müßten, an materiellen Gütern – wie den Wert unserer Handelsflotte usw. –, was uns durch den Versailler Vertrag einst genommen wurde.«

Ich gehe über auf Seite 95:

»Der Führer hat mir dann sofort widersprochen. Er war der Meinung, daß der Krieg vielleicht der Anlaß sein könnte, endlich zur Verständigung mit England zu kommen, die er angestrebt hat, seit er politisch tätig ist Das kann ich bezeugen, daß, seitdem ich den Führer kenne, seit 1921, der Führer immer davon gesprochen hat, es müßte die Verständigung zwischen Deutschland und England zustande gebracht werden. Sobald er an der Macht sein würde, würde er das tun, und er sagte mir damals in Frankreich, daß man keine harten Bedingungen, auch wenn man siegen würde, stellen dürfte, einem Lande gegenüber, mit dem man sich verständigen wolle. Ich habe damals den Gedanken gehabt, wenn man in England das wüßte, könnte es vielleicht möglich sein, daß England seinerseits zu einer Verständigung bereit wäre.«

Ich gehe über zu Seite 96 des Dokumentenbuches:

»Es kam dann des Führers Angebot nach Abschluß des Frankreichfeldzuges an England. Das Angebot wurde bekanntlich abgelehnt. Um so mehr festigte sich bei mir der Gedanke, daß unter diesen Umständen ich meinen Plan verwirklichen müßte. Es kamen dann im Verlaufe der nächsten Zeit die Kriegshandlungen zur Luft zwischen Deutschland und England, die, im großen gesehen, schwerere Verluste beziehungsweise schwerere Schäden für England bedeuteten als für Deutschland. Infolgedessen hatte ich den Eindruck, daß England überhaupt nicht mehr nachgeben könne, ohne stark prestigemäßig zu leiden.

Deshalb sagte ich mir, muß ich jetzt erst recht meinen Plan verwirklichen, denn wenn ich drüben in England sein würde, könnte England dieses zum Anlaß nehmen, um Verhandlungen zwischen Deutschland und England zu pflegen, ohne an Prestige zu verlieren.«

Ich gehe nun über auf Seite 97 des Dokumentenbuches. Nach einer kurzen Zwischenbemerkung des Herrn Dr. Mackenzie fuhr Heß weiter:

»Ich war der Meinung, daß außer der Frage der Bedingungen für eine Verständigung in England noch ein ge wisses Mißtrauen allgemeiner Art zu überwinden wäre. Ich muß gestehen, daß ich vor einem sehr schweren Entschluß stand, dem schwersten meines Lebens, selbstverständlich, und ich glaube, es ist mir ermöglicht worden dadurch, daß ich mir immer wieder vor Augen gehalten habe, sowohl auf deutscher Seite, so wie auf englischer Seite, eine endlose Reihe von Kindersärgen mit den weinenden Müttern dahinter...«

VORSITZENDER: Dr. Seidl, haben Sie das Originaldokument vor sich?

DR. SEIDL: Jawohl.

VORSITZENDER: Können Sie es bitte heraufgeben?

DR. SEIDL: Jawohl.