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[Das Dokument wird dem Vorsitzenden überreicht.]

VORSITZENDER: Ja, fahren Sie fort.

DR. SEIDL:

»... und umgekehrt die Särge von Müttern mit den Kindern dahinter.

Ich möchte auf die verschiedenen Punkte zu sprechen kommen, von denen ich glaube, daß sie hier psychologisch eine gewisse Rolle spielen. Ich muß etwas ausholen. Nach der Niederlage im Weltkrieg hat Deutschland den Versailler Vertrag auferlegt bekommen, und kein ernsthafter Historiker ist heute noch der Meinung, daß Deutschland die Schuld am Weltkriege gehabt hätte. Lloyd George hat gesagt, die Völker sind hineingestolpert in den Krieg. Ich habe einen englischen Historiker neulich gelesen, Farrar, der über Eduard VII. und seine Politik damals geschrieben hat. Dieser Historiker Farrar schiebt die Hauptschuld am Weltkrieg der Politik Eduards VII. zu. Deutschland hat nach dem Zusammenbruch diesen Vertrag auferlegt bekommen, der nicht nur ein furchtbares Unglück für Deutschland war, sondern für die ganze Welt. Alle Versuche der Politiker, der Staatsmänner in Deutschland, bevor der Führer an die Macht kam – also als Deutschland eine Demokratie reinsten Wassers war –, irgendwelche Erleichterung zu erhalten, sind fehlgeschlagen.«

Ich verzichte darauf, den nun folgenden Teil des Protokolls wörtlich zu verlesen. Es hat sich noch eine Unterhaltung über verschiedene Punkte angeschlossen. Unter anderem war dann Gegenstand des Gespräches die damalige Stärke Deutschlands in der Luft und die Vorbereitungen in Bezug auf den Bau von U-Booten. Ich glaube nicht, daß diese Fragen im gegenwärtigen Zusammenhang wesentlich sind, und ich will sodann gleich übergehen zu der Stelle des Protokolls, wo die Vorschläge enthalten sind, die Heß Lord Simon gemacht hat. Es befindet sich das auf Seite 152 des Dokumentenbuches.

Aus der Niederschrift ergibt Sich, daß Heß damals die Vorschläge, die er unterbreiten wollte, vorher schriftlich niedergelegt hatte. Er hat diese schriftliche Aufzeichnung Herrn Dr. Mackenzie beziehungsweise Herrn Kirkpatrick gegeben, der sie dann verlesen beziehungsweise übersetzt hat. Und ich zitiere nun auf Seite 152 unten wörtlich:

»Basis for an understanding« – »Grundlage der Verständigung«

und hier muß ich den Gerichtshof bitten, von Seite 152 des Dokumentenbuches überzugehen auf Seite 159 des Dokumentenbuches, und zwar deshalb, weil der erste Punkt in dem Vorschlag offenbar mißverständlich wiedergegeben worden war. Auf Seite 159 befindet sich, etwa in der Mitte, eine Äußerung des Herrn Dr. Mackenzie, der den 1. Punkt richtig wiedergibt, und ich zitiere nun wörtlich:

»Um künftige Kriege zwischen der Achse und England zu verhindern, soll eine Abgrenzung der Interessensphären stattfinden. Die Interessensphäre der Achsenmächte soll Europa, die Englands sein Weltreich sein.«

Ich bitte nun wieder nach vorwärts zu blättern, und zwar auf Seite 153 des Dokumentenbuches. Hier befindet sich auf der letzten Seite der 2. Punkt der Vorschläge, die Heß gemacht hat. Dr. Mackenzie verliest: »2. Rückgabe der deutschen Kolonien.«

Ich gehe dann über zu Seite 154 des Dokumentenbuches und beginne wörtlich von oben zu zitieren:

Es ist möglich, daß im Dokumentenbuch hier versehentlich noch einmal die Ziffer 2 steht. Es muß richtig heißen »3«.

»Entschädigung deutscher Staatsangehöriger, die vor oder während des Krieges im Britischen Weltreich Wohnsitz hatten und durch Maßnahmen einer Regierung des Weltreiches oder durch irgendwelche Geschehen, wie Plünderung, Tumult usw. Schäden an Leben und Eigentum erlitten haben; Entschädigung auf gleicher Grundlage durch Deutschland an britische Staatsangehörige.

4. Waffenstillstand und Friedensschluß mit Italien zur gleichen Zeit.«

Es kommt dann noch eine persönliche Bemerkung von Heß, die lautet:

»Der Führer hat mir wiederholt diese Punkte allgemein in Aussprachen mit ihm als die Grundlage einer Verständigung mit England dargestellt.«

Weitere Auszüge werde ich aus diesem Protokoll nicht verlesen.

Auf die Verlesung der übrigen rot angestrichenen Stellen verzichte ich. Die Unterredung hat damit ihr Ende gefunden, daß Lord Simon erklärte, er werde die Vorschläge, die Heß ihm unterbreitet hat, zur Kenntnis der Britischen Regierung bringen. Das war also Beweisstück H-15.

Meine Herren Richter! Der Angeklagte Rudolf Heß wird in der Anklageschrift beschuldigt, daß er die Machtergreifung der Naziverschwörer gefördert habe, und daß er die militärische, wirtschaftliche und psychologische Vorbereitung auf den Krieg, angeführt in Anklagepunkt 1, gefördert habe; daß er teilnahm an der politischen Planung und Vorbereitung von Angriffskriegen und Krieg in Verletzung internationaler Verträge, Abkommen und Zusicherungen, angeführt in Anklagepunkt 1 und 2, und daß er teilnahm an der Vorbereitung und Planung außenpolitischer Pläne der Nazi-Verschwörer, angeführt im Anklagepunkt 1.

Diese Beschuldigung ist der Kern der gegen Rudolf Heß erhobenen Anklage. Es ist daher meine Pflicht, auch im Beweisverfahren kürz auf die Zusammenhänge einzugehen, die im Jahre 1939 zum Ausbruch des Krieges geführt haben. Dazu ist folgendes zu sagen:

Am 23. August 1939 wurde in Moskau zwischen Deutschland und der Sowjetunion der Nichtangriffspakt abgeschlossen, welcher von der Anklagevertretung bereits als Beweisstück GB-145 vorgelegt wurde. Am gleichen Tage, also nur eine Woche vor Ausbruch des Krieges und drei Tage vor dem geplanten Aufmarsch gegen Polen, wurde zwischen diesen beiden Staaten noch ein geheimes Abkommen getroffen. Dieser Geheimvertrag enthält im wesentlichen eine Abgrenzung der beiderseitigen Interessensphären in dem zwischen Deutschland und der Sowjetunion liegenden europäischen Gebiet.

VORSITZENDER: Dr. Seidl, Sie haben hoffentlich nicht die Vorschrift des Gerichtshofs vergessen, daß jetzt nicht die geeignete Gelegenheit ist, eine Rede zu halten. Jetzt besteht nur die Möglichkeit, Dokumente vorzulegen und Zeugen aufzurufen. Sie werden Gelegenheit haben, Ihre Rede später halten zu können.

DR. SEIDL: Jawohl. Ich beabsichtige nicht, eine Rede zu halten, sondern ich beabsichtige, einleitende Worte zu sagen zu einem Dokument, das ich dem Gerichtshof überreichen werde. Deutschland erklärte sich in diesem Geheimdokument an Litauen, Lettland, Estland und Finnland desinteressiert.

VORSITZENDER: Dr. Seidl, wir haben das Dokument noch gar nicht gesehen, wenn Sie es einreichen wollen, tun Sie es bitte.

DR. SEIDL: Jawohl. Ich kann das Dokument sofort einreichen. Es handelt sich hier um eine eidesstattliche Versicherung des früheren Botschafters Dr. Friedrich Gaus. Er war im Jahre 1937 Leiter der Rechtsabteilung im Auswärtigen Amt. Er hat als Begleiter des damaligen deutschen Bevollmächtigten in Moskau mit die Verhandlungen geführt, und er hat sowohl den bereits als Beweisstück vorgelegten Nichtangriffspakt entworfen als auch das Geheimabkommen, dessen Inhalt ich nunmehr dem Gerichtshof als beweiserhebliche Tatsache unterbreiten will.

VORSITZENDER: Wollen Sie bitte das Dokument einreichen?

DR. SEIDL: Jawohl. Ich habe aber die Absicht, aus diesem Dokument dann Teile zu verlesen.

VORSITZENDER: Dr. Seidl! Der Gerichtshof kann nicht genau verstehen, worum es sich bei diesem Dokument handelt, da es nicht in Ihrem Dokumentenbuch enthalten ist, und es scheint auch so, als ob Sie keinen diesbezüglichen Antrag gestellt oder darauf Bezug genommen haben. Es ist auch in deutsch, es ist noch nicht übersetzt.

DR. SEIDL: Herr Präsident! Als ich das Dokumentenbuch für den Angeklagten Heß angefertigt habe, hatte ich diese eidesstattliche Versicherung noch nicht in Händen. Sie stammt vom 15. März 1946. Zu der Zeit, als über die Beweiserheblichkeit der Anträge für den Angeklagten Heß verhandelt wurde, hatte ich auch noch keine genaue Kenntnis der Zusammenhänge, so daß ich in der Lage gewesen wäre, einen entsprechenden Antrag zu stellen. Die Abschnitte, die ich aus dem Dokument zu verlesen beabsichtige, sind kurz, und es wird sich ohne weiteres, ermöglichen lassen, daß sie hier im Gerichtssaal von den anwesenden Übersetzern übersetzt werden.

VORSITZENDER: Haben Sie ein Exemplar für die Anklagebehörde?

DR. SEIDL: Jawohl, eine deutsche Kopie.

VORSITZENDER: Ich befürchte, daß mir das nicht viel nützen wird, und ich weiß nicht, ob es allen Mitgliedern der Anklagebehörde nutzt. Haben die Anklagevertreter etwas dagegen, daß aus diesem Dokument verlesen wird?

GENERAL R. A. RUDENKO, HAUPTANKLÄGER FÜR DIE SOWJETUNION: Herr Vorsitzender! Ich weiß nichts von dem Bestehen eines solchen Dokuments, und ich beanstande entschieden seine Verlesung; ich möchte, daß die Verfügung des Gerichtshofs auch von der Verteidigung befolgt wird. Seinerzeit, als die Anklagebehörde Beweismaterial vorlegte, wurden die Dokumente auch der Verteidigung überreicht. Der Verteidiger des Angeklagten Heß legt jetzt ein völlig unbekanntes Dokument vor, und im Einklang mit der Verfügung möchte die Anklagebehörde vorher Einsicht in dieses Dokument nehmen. Ich weiß nicht, von welchen Geheimnissen – von welchen geheimen Abkommen – der Verteidiger von Heß spricht, und worauf er seine Behauptung stützt. Ich würde sie zum mindesten als unbegründet kennzeichnen, daher bitte ich das Verlesen dieses Dokuments nicht zuzulassen.

DR. SEIDL: Der Herr Anklagevertreter der Sowjetunion erklärt, daß er von dem Bestehen dieses geheimen Dokuments, das durch dieses Affidavit bewiesen werden soll, keine Kenntnis habe. Unter diesen Umständen sehe ich mich gezwungen, den Antrag zu stellen, den Außenkommissar der Sowjetunion, Molotow, als Zeugen au laden, damit erstens festgestellt wird, ob dieser Vertrag tatsächlich geschlossen wurde, zweitens, was der Inhalt dieses Vertrages ist und drittens...

VORSITZENDER: Dr. Seidl! Das erste, was Sie zu tun haben, wäre, daß Sie dieses Dokument übersetzen lassen. Solange diese Übersetzung nicht fertiggestellt ist, ist der Gerichtshof nicht bereit, Ihnen insoweit Gehör zu schenken. Wir wissen nicht, was das Dokument enthält.

DR. SEIDL: Was in dem Dokument steht, habe ich bereits vorher ausführen wollen. In dem Dokument steht...

VORSITZENDER: Nein, der Gerichtshof ist nicht bereit, von Ihnen zu hören, was in dem Dokument steht. Wir wollen das Dokument selber sehen, und zwar sowohl in englisch als auch in russisch. Das soll natürlich nicht heißen, daß Sie das selber machen müssen, Herr Dr. Seidl. Wenn Sie der Anklagebehörde diese Abschrift geben, wird sie es in die verschiedenen Sprachen übersetzen lassen, und wenn das erfolgt ist, werden wir diese Angelegenheit erneut behandeln.

DR. SEIDL: Jawohl. Ich gehe dann auf ein anderes Dokument über, gegen dessen Verlesung aber sicher keine Einwendungen erhoben werden können, und zwar deshalb, weil es sich hier um ein von der Anklagevertretung bereits vorgelegtes Beweisstück handelt. Es handelt sich um die Ansprache des Führers vor den Oberbefehlshabern der Wehrmacht vom 22. August 1939. Es wurde von der Anklagevertretung der Sowjetunion als 798-PS vorgelegt, und zwar unter der Beweisstücknummer US-29. Ich zitiere auf Seite 6 der deutschen Photokopie wörtlich:

»Hitler hat darauf erklärt...«

VORSITZENDER: Haben Sie dieses Dokument in Ihrem Dokumentenbuch oder nicht? – Nur der größeren Bequemlichkeit halber.

DR. SEIDL: Das Dokument wurde in seinem vollen Umfang bereits von der Anklagevertretung vorgelegt.

VORSITZENDER: Sie wollen sagen, daß es nicht hier ist, es liegt mir nämlich nicht vor. Es ist nicht in Ihrem Dokumentenbuch?

DR. SEIDL: Im Dokumentenbuch ist es nicht, weil ja der Gerichtshof erklärt hat, daß jeder Verteidiger das Recht hat, sich auf andere, bereits von der Anklagebehörde vorgelegte Dokumente zu beziehen.

Ich zitiere wörtlich:

»Ich habe die Umstellung Rußland gegenüber allmäh lich durchgeführt. Im Zusammenhang mit dem Handelsvertrag sind wir in das politische Gespräch gekommen. Vorschlag eines Nichtangriffspakts. Dann kam ein universaler Vorschlag von Rußland. Vor vier Tagen habe ich einen besonderen Schritt getan, der dazu führte, daß Rußland gestern antwortete, es sei zum Abschluß bereit. Die persönliche Verbindung mit Stalin ist hergestellt. Von Ribbentrop wird übermorgen den Vertrag schließen. Nun ist Polen in der Lage, in der ich es haben wollte.«

Ende des Zitats.

Herr Präsident, meine Herren Richter! Ich hatte nun die Absicht, den vom Gerichtshof bereits genehmigten Zeugen Bohle zu vernehmen. Der Angeklagte Heß hat mich jedoch ersucht, auf die persönliche Vernehmung dieses Zeugen zu verzichten und über die Beweistatsachen, zu denen der Zeuge gehört werden sollte, eine eidesstattliche Versicherung zu verlesen.

Ich habe eine derartige eidesstattliche Versicherung vorbereitet, und es würde unzweifelhaft das Verfahren beschleunigen, wenn der Gerichtshof die Verlesung dieser Versicherung, dieses Affidavits, gestatten würde. Wenn jedoch der Gerichtshof der Ansicht sein sollte, daß...

SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Ich habe nicht Gelegenheit gehabt, diese eidesstattliche Versicherung einzusehen. Wie ich bereits sagte, will ich den Zeugen ins Kreuzverhör nehmen, falls er sich darüber äußert, wozu er geladen wurde.

VORSITZENDER: Wo befindet sich der Zeuge?

DR. SEIDL: Er ist hier. Ich rufe dann mit Erlaubnis des Gerichtshofs den Zeugen Bohle auf.

VORSITZENDER: Wollen Sie ihn vorladen oder das Affidavit vorlesen?

DR. SEIDL: Jawohl, nachdem Sir David Maxwell- Fyfe anscheinend der Verlesung der eidesstattlichen Versicherung widerspricht, möchte ich den Zeugen rufen.

SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Ich habe das Affidavit noch nicht gesehen, Euer Lordschaft. So möchte ich jetzt, wie gesagt, falls das Affidavit alle die Punkte behandelt, über die der Zeuge sprechen soll, ihn gern ins Kreuzverhör nehmen.

VORSITZENDER: Falls die Anklagebehörde nicht damit einverstanden ist, daß das Affidavit vorgelegt wird, muß der Zeuge vorgeladen werden. Falls aber die Anklagebehörde mit der Verlesung des Affidavits und weiterhin damit einverstanden ist, daß dann der Zeuge zum Kreuzverhör vorgeladen wird, ist das dem Gerichtshof durchaus recht.

SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Ich habe durchaus nichts dagegen, Euer Lordschaft. Natürlich befinde ich mich in einer etwas schwierigen Lage, da ich mit dem Inhalt des Affidavits nicht vertraut bin.

VORSITZENDER: Vielleicht wäre es am besten, wenn der Gerichtshof für zehn Minuten eine Pause einlegen würde. Dann könnten Sie sich das Affidavit durchsehen.

SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Sehr gerne, Euer Lordschaft.