[Der Zeuge verlaßt den Zeugenstand.]
Ist damit Ihre Sache beendet, Dr. Seidl, oder haben Sie noch weiteres Beweismaterial anzubieten?
DR. SEIDL: Jawohl. Ich habe zunächst den Fragebogen zu verlesen, der inzwischen eingegangen ist, über die Vernehmung des Zeugen Alfred Heß, dessen Vernehmung der Gerichtshof ja durch Fragebogen gestattet hat.
Ich habe dann noch auf verschiedene Dokumente in dem Dokumentenbuch Nr. 3 Bezug zu nehmen und möchte aber vorher zum Abschluß für heute auf Wunsch des Angeklagten Heß feststellen, das bezieht sich auf Band 2 des Dokumentenbuches, daß Lord Simon als offizieller Vertreter der Britischen Regierung zu der Unterredung gekommen ist, und ich verlese daher von Seite 93 noch kurz einige Sätze:
Lord Simon führt aus:
»Herr Reichsminister, man teilte mir mit, daß Sie glaubten, in bestimmtem Auftrag hierher gekommen zu sein, und daß Sie hiervon zu einem Regierungsbevollmächtigten zu sprechen wünschen. Sie wissen, ich bin Dr. Guthrie. Ich komme daher im Auftrage der Regierung zu Ihnen, um Ihnen zuzuhören und mit Ihnen alles zu besprechen, was Ihnen zur Unterrichtung der Regierung gut dünkt.«
Das war alles, was ich noch in Ergänzung der Verlesung des Simon-Protokolls vorbringen wollte.
VORSITZENDER: Würden Sie imstande sein, heute zu beenden, wenn wir noch für einige Minuten weiterverhandeln würden?
DR. SEIDL: Herr Präsident, der Fragebogen beziehungsweise die Antworten auf dem Fragebogen sind ziemlich umfangreich ausgefallen. Der Zeuge wurde auch im Kreuzverhör vernommen, und ich nehme an, daß die Anklagevertretung auch die Unterlagen des Kreuzverhörs zu lesen beabsichtigt, und ich glaube nicht, daß das heute noch möglich sein wird.
VORSITZENDER: Sehr wohl, wir werden uns vertagen.
[Das Gericht vertagt sich bis
26. März 1946, 10.00 Uhr.]
Einundneunzigster Tag.
Dienstag, 26. März 1946.
Vormittagssitzung.
GERICHTSMARSCHALL: Hoher Gerichtshof! Der Angeklagte Streicher wird bei dieser Sitzung nicht anwesend sein.
VORSITZENDER: Bitte, Dr. Seidl.
DR. SEIDL: Herr Präsident, meine Herren Richter! Ich komme nun zur Verlesung der Niederschrift über die Befragung des Zeugen Alfred Heß.
VORSITZENDER: Wo können wir diese finden?
DR. SEIDL: Herr Präsident! Ich habe dieses Protokoll über die Vernehmung des Zeugen erst am letzten Samstag bekommen, und ich konnte es infolgedessen noch nicht dem Dokumentenbuch einverleiben. Der Zeuge wurde am 19. März in Bad Mergentheim vernommen.
VORSITZENDER: Wollen Sie damit sagen, daß wir keine Abschriften davon bekommen haben?
DR. SEIDL: Ich weiß nicht, ob der Herr Generalsekretär, von dem ich die Niederschrift bekommen habe, dem Hohen Gerichtshof eine Abschrift zur Verfügung gestellt hat.
VORSITZENDER: Dann fahren Sie am besten fort. Fahren Sie fort.
DR. SEIDL: Jawohl. Vor Beantwortung der ersten Frage schickte der Zeuge eine kurze Bemerkung voraus, die folgendermaßen lautet:
»Zu bemerken ist, daß ich meine Tätigkeit in der Auslandsorganisation der NSDAP im Anschluß an den Englandflug meines Bruders Rudolf Heß, Stellvertreter des Führers, einstellen mußte. Daher gilt meine nachstehende Aussage nur für die Zeit bis zum 12. Mai 1941.
Die erste Frage: Welches waren die Aufgaben und der Zweck der Auslandsorganisation der NSDAP?
Antwort: Zweck der Auslandsorganisation war die kulturelle, soziale und wirtschaftliche Betreuung aller Reichsdeutschen im Ausland, gleichgültig, ob es sich um Parteigenossen handele oder nicht. Die Auslandsorganisation sollte in diesem Sinne Brücke zwischen den reichsdeutschen Auslandsdeutschen und der Heimat sein. Ziel war, die Liebe und die Verbundenheit zur fernen Heimat zu pflegen und zu erhalten und das Verständnis für das Vaterland wachzuhalten, sowie das Verständnis der Deutschen im Inland für den harten Lebenskampf ihrer Landsleute in aller Welt zu wecken. Der Deutsche im Ausland sollte durch sein würdiges, anständiges Verhalten im Ausland in seinem Gastlande gern gesehen sein und so als bester Repräsentant seines Vaterlandes wirken.
2. Frage: Wer konnte Mitglied der Auslandsorganisation werden?
Antwort: Die Frage ist unverständlich. Eine Mitgliedschaft bei der Auslandsorganisation gab es überhaupt nicht, ebensowenig, wie es beispielsweise eine Mitgliedschaft beim Auswärtigen Amt des Reiches gab oder bei einem Gau der NSDAP im Reiche.
3. Frage: Ist es richtig, daß sich auf dem Auslandsausweis jedes reichsdeutschen Parteigenossen als herrschender Grundsatz der Auslandsorganisation folgender Grundsatz aufgedruckt fand: Befolge die Gesetze des Landes, dessen Gast Du bist; die Innenpolitik des Gastlandes lasse dessen Bewohner machen, mische Dich nicht in diese, auch nicht gesprächsweise?
Antwort: Es ist richtig, daß sich der angeführte Grundsatz unter ähnlichem auf dem Ausweis beziehungsweise auf der Schutzhülle des Ausweises befand. Wenn ich mich nicht irre, stand unter diesen Grundsätzen noch die Warnung vor Ausschluß aus der NSDAP bei Mißachtung dieser Grundsätze. Letzteres wird ohne große Schwierigkeit durch Beschaffung einer Schutzhülle, die jeder Parteigenosse im Auslande hatte, feststellbar sein.
4. Frage: Hat die Auslandsorganisation der NSDAP irgendeine Tätigkeit entwickelt, die sie als Fünfte Kolonne erscheinen lassen könnte?
Antwort: ›Fünfte Kolonne‹ ist kein klarer, einheitlich angewandter Begriff. Im allgemeinen sollte damit wohl eine geheime Spionage- oder Sabotagetätigkeit gemeint sein. Entsprechend ihren Richtlinien hat die Auslands organisation keine solche Tätigkeit entwickeln können.
Ich entsinne mich, daß das Schlagwort ›Fünfte Kolonne‹ der Auslandspresse in der Auslandsorganisation als ein geschickter Bluff der antifaschistischen Propaganda gewertet wurde und daß es ehrliche Heiterkeit erregte. Im Ernst konnte doch wohl kein Staat auf den Gedanken kommen, daß eine so weltbekannte, beargwöhnte und jedem Zugriff offene Organisation für einen Geheimdienst im Sinne der Fünften Kolonne geeignet sei. Ich nehme als selbstverständlich an, daß dieser oder jener Deutsche im Ausland geheime Aufträge hatte (Dienste, die andere Staatsangehörige für ihr Vaterland genau so leisten); aber Auftraggeber oder Vermittler solcher Agenten war bestimmt nicht die Auslandsorganisation.
5. Frage: Welcher Art waren die Weisungen und Richtlinien, die der Stellvertreter des Führers der Auslandsorganisation für ihre Tätigkeit gegeben hat?
Antwort: Die Weisungen und Richtlinien des Stellvertreters des Führers für die Tätigkeit der Auslandsorganisation bewegten sich im Rahmen meiner Antworten zu 1. und 3. Er hat immer wieder mit besonderem Nachdruck auf seine strengen Anweisungen hingewiesen, daß die Gruppen im Ausland alles zu unterlassen haben, was die Gastländer verletzen könnte oder was als Einmischling in deren Angelegenheiten anzusehen ist. Als sein Grundsatz galt auch, daß der Nationalsozialismus als eine rein deutsche Bewegung kein Exportartikel sei, den man anderen Völkern als für sie geeignet aufdrängen wolle.
6. Frage: Hat der Stellvertreter des Führers der Auslandsorganisation irgendwelche Anweisungen oder Befehle gegeben, die sie zu einer Tätigkeit ähnlich der einer Fünften Kolonne hätten veranlassen können?
Antwort: Der Stellvertreter des Führers hat nicht nur nie solche Anweisungen oder Befehle erteilt, sondern wie oben zu 5. festgestellt, Richtlinien erlassen, die eine Tätigkeit im Sinne der sogenannten Fünften Kolonne völlig ausschließen.
7. Frage: Ist es richtig, daß im Gegenteil der Stellvertreter des Führers auf das peinlichste darauf geachtet hat, daß unter allen Umständen eine Einmischung in die inneren Verhältnisse des Gastlandes unterblieben ist?
Antwort: Ich kann nur wiederholen, daß es eine Hauptsorge des Stellvertreters des Führers war, die Arbeit der Auslandsorganisation im Ausland so zu gestalten, daß unbedingt jegliche Einmischung in innere Verhältnisse des Gastlandes unterblieb. Die wenigen unbedeutenden Verstöße, die bei der damals sehr großen Zahl Reichsdeutscher im Ausland – sie betrug mehrere Millionen – unvermeidlich vorgekommen sind, wurden entsprechend scharf geahndet.
8. Frage: Welches waren die Aufgaben und der Zweck des Volksbundes für das Deutschtum im Ausland?
Antwort: Der Volksbund für das Deutschtum im Ausland hatte die sogenannten Volksdeutschen kulturell zu betreuen. Volksdeutsche sind deutsche Stammesangehörige, die freiwillig oder durch Gesetze anderer Länder ihre reichsdeutsche Staatsangehörigkeit verloren haben beziehungsweise die Staatsangehörigkeit eines anderen Landes angenommen haben, zum Beispiel Amerikas, Ungarns, Siebenbürgens und so weiter.
9. Frage: Hat der Volksbund für das Deutschtum im Ausland jemals, insbesondere aber vor dem 10. Mai 1941, irgendeine Tätigkeit entwickelt, die ihn als Fünfte Kolonne hätte erscheinen lassen können?
Antwort: Hierzu muß ich feststellen, daß die Tätigkeit der Auslandsorganisation mit der des Volksbundes für das Deutschtum im Ausland nichts zu tun hatte, So daß ich keinerlei Einblick in dessen Arbeitsweise haben kann. Indessen halte ich es für ganz ausgeschlossen, daß mein Bruder dem Volksbund für das Deutschtum im Ausland Aufgaben im Sinne einer Fünften Kolonne gestellt haben könnte. Es würde weder dem Aufgabenkreis des Stellvertreters des Führers entsprochen haben, noch seinen Ansichten über die Aufgabe des Volksbundes für das Deutschtum im Ausland.
10. und letzte Frage: Welcher Art waren die Anordnungen und Weisungen, die der Stellvertreter des Führers für die Tätigkeit dieses Bundes erteilt hat?
Antwort: Anordnungen und so weiter, die mein Bruder für die Tätigkeit des Bundes erteilt hat, sind mir nicht bekannt, da, wie bereits erwähnt, meine Tätigkeit in der Auslandsorganisation in keinem Zusammenhang mit dem Volksbund für das Deutschtum im Ausland stand.