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(Gezeichnet) Alfred Heß;

beschworen und unterschrieben am 19. März 46.«

Der Zeuge Alfred Heß wurde dann im Zusammenhang mit seiner Vernehmung auch einem Kreuzverhör unterzogen. Ich nehme an, daß die Anklagebehörde dieses Kreuzverhör selbst dem Gerichtshof unterbreiten will. Wenn es aber so ist, daß dieses Kreuzverhör und die dazu gehörigen Fragen noch nicht übersetzt sind, dann wäre es vielleicht praktisch, wenn das jetzt im Anschluß gleich geschieht.

MR. THOMAS J. DODD, ANKLÄGER FÜR DIE VEREINIGTEN STAATEN: Hoher Gerichtshof! Wir haben die Kreuzverhör-Protokolle erhalten, aber ich möchte vorschlagen, daß wir sie, anstatt Zeit auf die Verlesung zu verwenden, lieber vorlegen und mit Erlaubnis des Gerichtshofs in die vier Sprachen übersetzen lassen. Es würde etwa noch weitere zehn Minuten beanspruchen, um sie vorzulesen, und uns liegt nichts daran, es sei denn, daß der Gerichtshof es für angebracht hält.

VORSITZENDER: Einverstanden, Herr Dodd.

DR. SEIDL: Herr Präsident, meine Herren Richter! Ich weiß nicht, ob das gestern von mir vorgelegte Affidavit des Botschafters Gaus schon übersetzt worden ist, und ob sich bereits Übersetzungen in den Händen des Gerichtshofs befinden. Ich habe gestern mittag sechs Abschriften dem Informationsbüro übergeben und habe seitdem nichts mehr gehört.

VORSITZENDER: Kann die Anklagebehörde den Gerichtshof darüber unterrichten?

SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Euer Lordschaft! Die Anklagebehörde hat noch kein Exemplar dieses Affidavits erhalten. Wir wissen daher nicht, was es enthält. Wir schlagen vor, daß Herr Dr. Seidl die Verlesung verschiebt, bis wir die Möglichkeit gehabt haben, es zu prüfen.

VORSITZENDER: Ja, das muß dann leider verschoben werden.

DR. SEIDL: Jawohl. Ich gehe nun zu Band 3 des Dokumentenbuches über. Meine Herren Richter! Dieser Band des Dokumentenbuches enthält im wesentlichen Äußerungen und Zitate aus Büchern und Reden ausländischer Staatsmänner, Diplomaten und Wirtschaftswissenschaftler zu der Entstehungsgeschichte des Versailler Vertrags, zum Inhalt des Versailler Vertrags, zu den durch diesen Vertrag bedingten territorialen Veränderungen, wie zum Beispiel die Frage des Polnischen Korridors, und vor allem auch zu den verheerenden wirtschaftlichen Folgen, die dieser Vertrag für Deutschland und auch für die übrige Welt mit sich gebracht hat.

VORSITZENDER: Ja, Sir David?

SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Euer Lordschaft! Ich habe die Dokumente in diesem Buch gelesen, und ich möchte nur ein oder zwei Bemerkungen dazu machen.

Sie sind Meinungsäußerungen einer großen Anzahl verschiedener Leute, darunter Politiker, Wirtschaftler und Journalisten. Diese Meinungen sind in polemischer und einige in journalistischer Form zum Ausdruck gebracht worden. Mit den meisten ist man vertraut und hat sie gekannt, als sie vor 15 oder 25 Jahren geäußert wurden.

Nun bin ich der Ansicht, wie ich schon vorher dem Gerichtshof unterbreitet habe, daß der gesamte Gegenstand überhaupt viel zu entlegen ist. Ich möchte jedoch einen Vorschlag machen, den der Gerichtshof, wie ich hoffe, vernünftig finden wird. Ich schlage vor, daß die Anklagebehörde dieses Buch, wie ich gestern schon angeregt habe, im Moment »de bene esse« zuläßt, und daß Herr Dr. Seidl die Argumente, die darin von den verschiedenen, von ihm benannten Herren vorgebracht werden, in seinem Plädoyer verwendet, falls er sie für richtig hält. Er kann dann diese Argumente zur Illustrierung verwenden, aber immer unter der Voraussetzung, daß seine These vom Gerichtshof als beweiserheblich für die zur Erörterung stehenden Fragen angesehen wird. So wird Dr. Seidl nicht des Rechtes verlustig gehen, diese Dokumente – vorbehaltlich der Erheblichkeit der darin vorgebrachten Fragen – zu verwenden. Aber ich möchte behaupten, daß es ganz falsch wäre, sie jetzt hier als Beweismittel zu verlesen. Es sind lediglich polemische und journalistische Meinungsäußerungen, die sich auf ein Thema beziehen, das nach unveränderter Ansicht der Anklagebehörde zu entlegen ist.

Mir ist jedoch sehr daran gelegen, daß Dr. Seidl alle Möglichkeiten für sein Plädoyer haben soll. Ich bin daher der Ansicht, daß es angebracht wäre, die Dokumente jetzt nur vorzulegen, ohne sie zu verlesen, und daß sie der Beschränkung der Beweiserheblichkeit weiterhin unterworfen bleiben, welche Frage der Gerichtshof nach Vorlage des gesamten Beweismaterials erörtern kann, so daß er sie dann in seinem Schlußplädoyer verwenden kann.

Ich hoffe, daß der Gerichtshof dies nicht nur als passende, sondern auch vernünftige Handhabung für die Behandlung solchen Materials betrachtet.

DR. SEIDL: Herr Präsident, darf ich vielleicht kurz...

VORSITZENDER: Einen Augenblick, Dr. Seidl. Wir werden Sie sogleich anhören. Vielleicht sollten wir jetzt anhören, was Sie zu sagen haben. Halten Sie den Vorschlag von Sir David für annehmbar?

DR. SEIDL: Herr Präsident! Auf den ersten Blick scheint der Vorschlag von Sir David Maxwell-Fyfe sehr vernünftig zu sein. Aber ich glaube, doch sagen zu müssen, daß für die Verteidigung große Schwierigkeiten entstehen werden, wenn die Sache so behandelt wird. Es werden nämlich die Argumente über die Beweiserheblichkeit, die der ganzen Natur nach in das Beweisverfahren gehören und dort entschieden werden müssen, in das Plädoyer der Verteidigung verlegt. Dies hätte zur Folge, daß der Verteidiger in seiner Schlußansprache immer wieder unterbrochen würde, daß er für die Beweiserheblichkeit seiner Zitate argumentieren müßte, daß vielleicht ganze Teile seiner Rede auf diese Weise unter den Tisch fallen würden, und daß dadurch die Gefahr heraufbeschworen würde, daß der Zusammenhang der Rede völlig unterbrochen wird.

VORSITZENDER: Bitte, Sir David.

SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Euer Lordschaft! Die Gefahr, daß gewisse Teile seiner Rede nicht als erheblich betrachtet werden, besteht für jeden Anwalt. Aber ich dachte, mein Vorschlag wäre ein guter Ausweg; aber wenn er nicht angenommen wird, muß die Anklagebehörde höflich, jedoch nachdrücklich darauf bestehen, daß die Probleme der Bedingungen des Versailler Vertrags für den Gerichtshof beweisunerheblich sind. Ich habe dies schon ausgeführt, und ich will es nicht noch einmal ausführlich entwickeln. Ich möchte jedoch klarstellen, daß die Fragen, welche durch diese Zitate angeschnitten werden, natürlich Gegenstand politischer Meinungsverschiedenheiten in fast jedem Land Europas waren, und daß verschiedene Meinungen geäußert worden sind über die Richtigkeit und Zweckmäßigkeit der Bestimmungen des Versailler Vertrags, besonders der wirtschaftlichen. Ich bestreite nicht, daß darüber Meinungsverschiedenheiten bestehen, aber ich bin der Ansicht, daß sie nicht vor diesen Gerichtshof gehören. Ich persönlich habe nahezu alle Zitate englischer Staatsmänner der letzten Jahre als Politiker hier beantwortet, und ich bin überzeugt, daß viele Leute in diesem Gerichtshof den einen oder anderen Standpunkt vertreten hatten; aber dies ist für diesen Gerichtshof nicht wesentlich. Nach meiner Ansicht ist es insbesondere falsch, in der Streitfrage nur Meinungen der einen Seite als Beweismaterial vorzubringen. Jede dieser Reden, sofern sie englisch waren, war entweder eine Antwort auf eine vorangegangene Rede oder sie sind in der Folge beantwortet worden. Das gleiche gilt nach meiner Ansicht auch bezüglich der Reden des Senators Borah in den Vereinigten Staaten.

Mein zweiter Punkt ist der, daß es sich hier nicht um wirkliches Beweismaterial handelt. Dies ist eine Frage des Standpunkts, und es muß einmal zu einem dem Gerichtshof genehmen Zeitpunkt entschieden werden, ob diese Frage als beweiserheblich erachtet wird. Ich habe deshalb den Vorschlag gemacht, diese Entscheidung zu treffen, nachdem das gesamte echte, tatsächliche Beweismaterial dem Gerichtshof unterbreitet worden ist. Ich möchte jedoch, abgesehen von meinem Vorschlag, völlig klarstellen, daß die Anklagebehörde einheitlich der Ansicht ist, daß die Frage der Richtigkeit oder praktischen Anwendbarkeit der Bestimmungen des Versailler Vertrags nicht beweiserheblich ist. Ich möchte zwischen diesen beiden Fragen einen Unterschied machen.

Die andere Frage ist von Dr. Stahmer im Hinblick auf die wirklichen Bedingungen der Präambel zu den militärischen Klauseln skizziert worden. Das ist eine ganz andere Sache, die wir besprechen können, wenn, wie ich erfahre, gewisse Rechtstragen von einem der Verteidiger für die Verteidigung vorgebracht werden. Die Richtigkeit und praktische Durchführbarkeit des Vertrags und besonders seiner wirtschaftlichen Klauseln sind jedoch, wie gesagt, Gegenstand großer Meinungsverschiedenheiten, und es gibt buchstäblich tausenderlei verschiedene Ansichten jeder Schattierung hierüber. Ich behaupte, daß diese Streitfrage vor diesem Gerichtshof nicht zur Diskussion steht, und zweitens behaupte ich, daß dies kein Beweismaterial. Ist. Es ist auch dann kein Beweismaterial, wenn diese Frage hier zur Diskussion stünde.

DR. SEIDL: Darf ich darauf vielleicht kurz erwidern?

VORSITZENDER: Ihr Vorschlag, Sir David, würde also bedeuten, daß Dr. Seidl keine Zitate aus diesen Dokumenten bringen könnte?

SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Ja, Euer Lordschaft, sicherlich. Auf Grund meiner Voraussetzung, daß es eine unerhebliche Angelegenheit ist, könnte er es nicht.

VORSITZENDER: Ja, sie sind nicht zulässig.

SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Sie sind nicht zulässig.

VORSITZENDER: Ja.

SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Mein ursprünglicher Vorschlag war, die Diskussion über die Zulässigkeit zu verschieben, bis das gesamte Beweismaterial vorliegt. Wenn dieser aber nicht angenommen wird, behaupte ich glatt – wenn ich diesen Ausdruck mit allem Respekt benützen darf –, daß sie nicht zulässig sind.

VORSITZENDER: Nun, Dr. Seidl?

DR. SEIDL: Darf ich vielleicht kurz erwidern, Herr Präsident?

VORSITZENDER: Ja, ja.

DR. SEIDL: Es würde eine völlige Verkennung meiner Absichten bedeuten, wenn man annehmen wollte, daß ich mit der Vorlage dieses Dokumentenbuches beweisen wollte, ob der Versailler Vertrag ein Ausdruck staatsmännischer Weisheit sei oder nicht. Darauf kommt es mir hier nicht an.

Mit der Vorlage dieser Dokumente soll vielmehr bewiesen werden, beziehungsweise soll zur Diskussion gestellt werden:

Erstens: Ob die Gegenseite beim Vertragsabschluß, beziehungsweise bei den Vorverhandlungen – ich erinnere an die vierzehn Punkte Wilsons – sich ihrerseits einer Verletzung der allgemeinen Vertragspflichten schuldig gemacht hat, ob insbesondere eine culpa in contrahendo hier anzunehmen sei.

Zweitens; Die Vorlage der Dokumente soll dartun, ob die Gegenseite die sich aus dem Vertrag ergebenden Pflichten erfüllt hat, um auf diese Weise festzustellen, beziehungsweise dem Gericht die Möglichkeit zu einer Feststellung zu geben, welche Rechtsfolgen Deutschland möglicherweise daraus ableiten konnte.

Drittens: Der Versailler Vertrag und seine Verletzung durch die Angeklagten nimmt eine zentrale Stellung in dem Anklagepunkt 1, nämlich in der von der Anklage behaupteten Verschwörung, ein. Die Anklagebehörde hat daher auch auf eine Frage des Gerichtshofs, von welchem Zeitpunkt ab die Verschwörung als begonnen anzusehen sei, geantwortet, daß dies bereits für das Jahr 1921 anzusetzen sei.

Viertens: Die Anklagevertretung hat umfangreiches...

VORSITZENDER: Ich habe nicht die geringste Vorstellung von dem, was Sie mit dem letzten Punkt gemeint haben. Ich verstehe nicht, was Sie im letzten Punkt gesagt haben, absolut nicht.

DR. SEIDL: Ich wollte damit sagen, daß für den Beginn der von der Anklage behaupteten Verschwörung der Versailler Vertrag mit eine entscheidende Rolle gespielt hat, und daß die Entstehung dieses Vertrags mindestens in irgendeinem ursächlichen Zusammenhang mit der behaupteten Verschwörung steht. Bevor über Rechtswidrigkeit und über Schuld gesprochen werden kann, müssen die Tatsachen festgestellt werden, die ursächlich waren für die von der Anklage behauptete Verschwörung.

Viertens: Die Anklagevertretung hat umfangreiches Beweismaterial vorgelegt, um die Entwicklung der NSDAP zu beweisen. Umfangreiche Dokumentenbücher wurden dem Gerichtshof übergeben, um das Anwachsen der Mitgliederstärke zu beweisen, um die Zunahme der Reichstagsmandate unter Beweis zu stellen. Wenn nun dieses Beweismaterial erheblich war, dann ist es meine Behauptung, daß auch die Umstände und die Tatsachen, die überhaupt erst diesen Aufstieg der Partei ermöglicht haben, schon aus den Gesichtspunkten des Kausalzusammenhanges heraus beweiserheblich sein müssen.

VORSITZENDER: Behaupten Sie, daß die von einem Journalisten nach Abfassung des Versailler Vertrags gemachte Äußerung, daß seiner Meinung nach der Vertrag von Versailles ungerecht für Deutschland wäre, entweder für die Auslegung des Vertrags oder für irgendeinen anderen Zweck, mit dem sich dieser Gerichtshof hier beschäftigt, zulässig wäre?

DR. SEIDL: Herr Präsident! Ich gebe zu, daß selbstverständlich die vereinzelte Meinung eines ausländischen Journalisten nicht ohne weiteres ein beweiserhebliches Dokument sein muß. Ich behaupte jedoch, daß die Meinung des Staatssekretärs Lansing über das Zustandekommen des Versailler Vertrages und sein Zusammenhang mit der Vorgeschichte dieses Vertrages von irgendeiner beweiserheblichen Bedeutung sein muß. Welcher Materialbeweiswert seiner Meinung zukommt, das ist eine Frage, welche jetzt noch nicht entschieden werden kann. Diese Frage wird der Gerichtshof erst dann entscheiden können, wenn das gesamte Beweismaterial vorliegt. Ich behaupte weiter, daß die Meinung des Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses des Senats der Vereinigten Staaten über den Versailler Vertrag, über sein Zustandekommen, über seine Auswirkungen im Rahmen der von der Anklage behaupteten Verschwörung, die sich in erster Linie gegen den Vertrag gerichtet haben soll, prima fade einen Beweiswert haben kann. Das gleiche gilt für die meisten der übrigen in diesem Dokumentenbuch zusammengestellten Äußerungen. Ich erinnere an Gustav Cassel, an John Maynard Keynes, den offiziellen Finanzberater der Britischen Regierung, und an eine Reihe anderer.

VORSITZENDER: Wollen Sie behaupten, daß Deutschland wegen der Bestimmungen des Versailler Vertrages oder wegen einer Verletzung dieser Bestimmungen durch die Signatarmächte das Recht hatte, einen Angriffskrieg zu unternehmen?

DR. SEIDL: Darauf kann ich im Zusammenhang jetzt endgültig, solange ich nicht das Beweismaterial der übrigen Angeklagten gehört habe, nicht antworten. Ich behaupte jedoch, daß aus einer Verletzung des Versailler Vertrages durch die Gegenseite unter Umständen das Deutsche Reich oder die Angeklagten das Recht zur Wiederaufrüstung ableiten konnten, und das beinhaltet ja auch schon eine Verletzung des Versailler Vertrages, die den Angeklagten zum Vorwurf gemacht wird. Was das Recht zu einem Angriffskrieg anbelangt, so möchte ich hierzu endgültige Äußerungen zurückstellen, mindestens bis zu dem Zeitpunkt, bis der Gerichtshof vom Affidavit des Botschafters Gaus offiziell Kenntnis erlangt hat.

VORSITZENDER: Eine weitere Frage: Wollen Sie sagen, daß die vierzehn Punkte des Präsidenten Wilson zulässiges Beweismaterial darstellen, um das schriftliche Dokument des Versailler Vertrages auszulegen?

DR. SEIDL: Ich behaupte nicht, daß die vierzehn Punkte Wilsons für sich allein schon zulässiges Beweismaterial sind. Ich behaupte aber, daß der Zusammenhang zwischen diesen vierzehn Punkten Wilsons und dem Versailler Vertrag und der daraus sich ergebende Widerspruch eine ursächliche Bedeutung für die von der Anklage behauptete Verschwörung haben.

VORSITZENDER: Dann sagen Sie im Grunde, daß der Versailler Vertrag, soweit er von den vierzehn Punkten abwich, ein ungerechter Vertrag war?

DR. SEIDL: Herr Präsident! Ob der Vertrag gerecht war oder nicht, das ist ja ein Punkt, den ich mit diesem Dokument überhaupt nicht beweisen will. Ob der Vertrag ungerecht war oder nicht, ist meines Erachtens eine Tatsache, die vielleicht über den Rahmen dieses Prozesses weit hinausgeht. Ich behaupte aber, daß der Vertrag mindestens in vielen seiner Bestimmungen das nicht gebracht hat, was auch die Siegerstaaten selbst von ihm erwartet haben.

VORSITZENDER: Wollen Sie noch etwas hinzufügen, Dr. Seidl?

DR. SEIDL: Im Augenblick nicht.

DR. RUDOLF DIX, VERTEIDIGER DES ANGEKLAGTEN SCHACHT: Da es sich um eine ganz grundsätzliche Frage handelt, die durch Sir David jetzt zur Diskussion gestellt ist, und da die Verteidigung immer mit der Möglichkeit rechnen muß, daß der Gerichtshof schon jetzt eine Entscheidung über die Frage fällt, ob und inwieweit derartiges Dokumentenmaterial wie das besprochene produziert werden kann, halte ich mich für verpflichtet, zu den Ausführungen meines Kollegen Seidl, denen ich im übrigen in vollem Umfang zustimme, nur etwas ergänzend hinzuzufügen, und zwar auf die sehr präzise Frage Eurer Lordschaft, die mit den Worten anfängt: »Halten Sie es für erheblich...« Ich glaube – ich vermeide alle Wiederholungen – ich glaube aber, daß auf einen sehr wesentlichen Punkt hinsichtlich der Erheblichkeit bisher noch nicht hingewiesen worden ist, und das ist die subjektive Seite; das ist die Beweiserheblichkeit für die Beweiserforschung und die Wahrheitserforschung des subjektiven Tatbestandes bei den einzelnen Angeklagten, also für die innere Tatseite.

Wenn zum Beispiel einer der Angeklagten eine Handlung begangen hat, welche rein objektiv einen Bruch des Versailler Vertrages darstellt, so ist es für die strafrechtliche Beurteilung seiner Handlungsweise vom subjektiven Standpunkt aus von großer Bedeutung, ob er nach der Ansicht verständiger, gerechter und geschulter Männer aller Nationen aus einer Einstellung und aus einer Ansicht heraus gehandelt hat, die nicht etwa nur seine Spezialansicht war, sondern die von den ernstesten Männern der verschiedenen Nationen und auch derjenigen Nationen, die 1914-1918 gegen Deutschland im Felde gestanden hatten, vertreten wurde. Um nicht zu abstrakt zu bleiben, möchte ich ein konkretes Beispiel herausgreifen:

Ein Angeklagter vertritt den Standpunkt, zur Wiederaufrüstung – nicht zum Angriffskrieg, diese Frage lasse auch Ich offen – zur Wiederaufrüstung berechtigt zu sein, weil entweder dieser Vertrag von der anderen Seite nicht erfüllt worden ist, oder weil er durch expressis verbis, durch abgeschlossene Verträge oder durch konkludente Handlungen als obsolet anzusehen ist. Es ist meines Erachtens von entscheidender Beweiserheblichkeit, ob dieser Angeklagte in dieser seiner Ansicht, aus der heraus sich sein Handeln erklärt, allein auf der weiten Flur der Welt steht, oder ob die Ansicht, aus der heraus er handelt, auch von in jeder Beziehung ernst zu nehmenden Männern anderer Nationen als der deutschen vertreten wird, selbst von denen, die 1914-1918 auf der anderen Seite gestanden haben, also zu seinen Gegnern gehören.

Die Wiederaufrüstung ist nach der Konstruktion der Anklage, so wie ich sie verstanden habe, nicht ein »crime« als solches, sondern wird nur benutzt von der Anklage als ein belastendes Indiz für den Nachweis des Verbrechens, einen Angriffskrieg geführt zu haben. Weist nun ein Angeklagter nach, daß er aus sauberer und anständiger Auffassung heraus, einer Auffassung, die, wie gesagt, von Männern anderer Nationen, wie ich sie eben charakterisiert habe, auch vertreten wird, gehandelt hat, gewissenhaft und aus reinem Gewissen sowohl gegenüber dem internationalen Recht und der internationalen Moral wie auch gegenüber den Bedürfnissen seines eigenen Vaterlandes, so wird dieses Material, welches Meinungen, literarische Äußerungen, Reden enthält, die die Ansichten des betreffenden Angeklagten teilen, für die subjektive Seite des Tatbestandes nicht nur von erheblicher, sondern überhaupt von entscheidender Bedeutung. Diesen Gesichtspunkt, bitte ich den Hohen Gerichtshof, sich besonders vor Augen zu halten, wenn er über die Frage jetzt schon entscheiden will, die Sir David zur Diskussion jetzt grundsätzlich gestellt hat und stellen mußte, wie ich durchaus anerkenne. Aber auch ich bin jetzt nunmehr in der angenehmen Lage, in der praktischen Behandlung mit Sir David übereinzustimmen. Auch ich – jetzt spreche ich nur für meine Person – würde es vorziehen, wenn die Entscheidung dieser Frage bis zu dem Zeitpunkt aufgeschoben würde, den Sir David vorgeschlagen hat. Ich nehme für meine Person die Nachteile, die der Kollege Seidl durchaus richtig erkannt hat, in Kauf zugunsten des dann eintretenden günstigen Umstandes, daß, wenn der Gerichtshof sich dann über diese Frage entscheidet, er vorher einen viel weiteren Überblick über all die Fragen und Nuancen bekommen hat, die für die Entscheidung der Fragen von Bedeutung sind, und die ich in diesem kurzen Intermezzo auch jetzt gar nicht in der Lage bin, erschöpfend zu behandeln, denn ich will ja keine zusammenfassende Rede halten, sondern nur einen Punkt zur Beweisfrage behandeln.

DR. MARTIN HORN, VERTEIDIGER DES ANGEKLAGTEN VON RIBBENTROP: Ich darf noch ein paar Bemerkungen zu den Ausführungen meines Kollegen Dix hinzufügen. Ich bitte den Gerichtshof...

VORSITZENDER: Der Gerichtshof möchte gerne wissen, wieviele Verteidiger das Recht zu haben glauben, zum Gerichtshof sprechen zu können. Wenn Dr. Horn ein kurzes Argument hinzufügen will, dann ist der Gerichtshof bereit, es anzuhören. Wenn andere Verteidiger zum Gerichtshof zu sprechen wünschen, so wird der Gerichtshof jetzt entscheiden, ob weitere Verteidiger angehört werden sollen oder nicht.

Wir sind also darüber einig, daß nur Dr. Horn dem Gerichtshof ein kurzes Argument vorträgt? Wenn es nicht so ist, dann wird der Gerichtshof entscheiden, ob er weitere Argumente über diesen Gegenstand anhören will.

DR. HORN: Ich kann natürlich meinen Kollegen, Herr Präsident, in dieser Frage nicht vorgreifen. Ich persönlich möchte nur noch eine ganz kurze Ausführung zu den Rechtspunkten machen.

VORSITZENDER: Gut, dann müssen Sie eben Ihre Kollegen befragen.

DR. HORN: Wenn Herr Präsident jetzt eine Entscheidung zu dieser Frage wünschen, dann muß ich natürlich meine Kollegen vorher befragen.

VORSITZENDER: Sicherlich.