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[Verhandlungspause. Die Verteidiger beraten sich.]

DR. HORN: Ich darf zunächst vorausschicken, Herr Präsident, was mir eben aus Kollegenkreisen gesagt wurde. Zunächst haben an dieser Entscheidung die Vertreter der Organisationen ein ganz besonderes Interesse.

Für mich persönlich darf ich zu folgenden Ausführungen übergehen:

Die Anklage...

VORSITZENDER: Dr. Horn, ich habe Sie gebeten, die anderen Verteidiger zu befragen und festzustellen, ob sie damit einverstanden sind, daß Sie allein angehört werden. Nur unter dieser Bedingung bin ich bereit, Sie anzuhören.

[Weitere Verhandlungspause. Die Verteidiger beraten sich erneut.]

DR. HORN: Jawohl, Herr Präsident, meine Kollegen sind damit einverstanden, daß ich die letzten Ausführungen zu diesem Punkt mache.

VORSITZENDER: Einen Augenblick. – Sehr wohl, fahren Sie fort.

DR. HORN: Es besteht kein Zweifel, daß die Anklage sich in wesentlichen Punkten auf Brüchen des Versailler Vertrages aufbaut. Zur Beurteilung dieser Vertragsbrüche ist es meines Erachtens unbedingt notwendig, die Tatsachen vorzubringen, die eine Beurteilung der Rechtsnatur dieses Vertrages zulassen. Es ist kein Zweifel, daß dieser Vertrag unter Zwang geschlossen worden ist. Es ist daher anerkanntes Völkerrecht, daß derartige Verträge – rechtlich gesehen – mit schweren Mängeln behaftet und anrüchig sind. Die Tatsachen, die zum Beweise dieser Behauptung und Rechtsanschauung dienen, müssen meines Erachtens vorgebracht werden können. Eine weitere Frage ist die – und die hat, glaube ich, wenn ich richtig verstanden habe, Sir David im Auge – das ist die Frage der Polemisierung über die rechtlichen, politischen und wirtschaftlichen Folgen dieses Vertrages. Darüber möchte ich keine weiteren Ausführungen machen, möchte aber darum bitten, daß meinem ersten Antrage stattgegeben wird, die rechtlichen dokumentarischen Tatsachen vorbringen zu dürfen, die eine Beurteilung des rechtlichen Wertes des Vertrages von Versailles zulassen.

SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Mit Genehmigung des Hohen Gerichtshofs darf ich mich vielleicht zuerst mit dem Argument beschäftigen, das Dr. Dix vorgebracht hat. Soweit ich ihn verstand, war sein erster hauptsächlicher Vorschlag folgender:

Wenn ein Angeklagter eine Handlung begangen hat, die eine Verletzung des Vertrages darstellt, er aber nachweisen kann, daß nach der Meinung vernünftiger, gerechter und gebildeter Menschen in denjenigen Staaten, die die anderen Partner des Vertrages waren, der Vertrag so schlecht war, daß eine Verletzung gerechtfertigt war, so ist das ein Argument, das zugelassen werden muß.

Ich behaupte, bei aller Hochachtung für Dr. Dix, daß dies ein unhaltbares Argument ist und sowohl nach rechtlichem als auch nach materiellen Grundsätzen unbegründet ist. Sobald man zugibt, daß ein Vertrag besteht, und daß eine Verletzung stattgefunden hat – und es ergibt sich aus dem Beispiel, das Dr. Dix vorgebracht hat, daß dies zugestandene Tatsachen sind –, dann ist es keine Antwort, wenn man sagt, daß eine Anzahl achtenswerter Männer in denjenigen Ländern, die Partner dieses Vertrages waren, seine Bestimmungen für falsch hielt. Der Vertrag besteht, und derjenige, der ihn bewußt verletzt, bricht den Vertrag, wie stark auch immer seine Unterstützung dabei sein mag.

In seinem zweiten Punkt hat Dr. Dix sich auf ein ganz anderes Gebiet begeben. Er sagte, daß dieses Beweismaterial im besonderen Hinblick auf die Frage der Wiederaufrüstung erheblich sein könne, da es zeigen könnte, daß der Vertrag als veraltet betrachtet wurde. Nun, es ist eine seltene, aber nichtsdestoweniger bestehende Doktrin des Völkerrechtes, daß Verträge, gewöhnlich geringfügigere Verträge, durch das Verhalten der Vertragschließenden aufgehoben werden können. Ich will nicht behaupten, daß es keine Beispiele dafür gäbe, obwohl sie sehr selten sind und gewöhnlich geringfügigere Dinge behandeln. Dieses Beweismaterial, das im Augenblick dem Gerichtshof vorliegt, hat jedoch gar nichts mit diesem Punkt zu tun. Es ist in der Hauptsache zeitgenössisches, polemisches Beweismaterial, in dem zum Ausdruck gebracht wird, daß gewisse Gesichtspunkte des Vertrages entweder vom politischen oder vom wirtschaftlichen Standpunkt aus schlecht waren. Das ist ein völlig verschiedenes Argument gegenüber dem, das Dr. Dix so bewundernswert skizzierte. Und wenn dieser Fall auftreten würde, würden wir uns damit zu befassen haben, der Fall nämlich, daß ein Vertrag veraltet gewesen ist oder die Verletzungen vergeben wurden, und daß darum die Bestimmungen tatsächlich zu bestehen aufgehört haben.

Meine Antwort ist, daß dieses Beweismaterial überhaupt nicht auf diesen Punkt gerichtet ist.

Nun, wenn Dr. Dix mir vergeben will, und ich bin sicher, daß es mein Fehler war, so habe ich nicht ganz verstanden, was er als sein »subjektives Argument« bezeichnete. Soweit ich es aber verstanden habe, scheint es eine sehr gute Antwort darauf zu geben: Wenn er nämlich anzudeuten versucht, daß die Schuld eines Angeklagten geringer wäre, weil er, dieser Angeklagte, den Vertrag für schlecht gehalten habe, so ist dies im wesentlichen eine Sache, die durch den Gerichtshof beurteilt werden kann, der diesen Angeklagten anhören und seinen Standpunkt würdigen und bewerten wird. Aber für die Entscheidung, ob der Angeklagte Heß glaubte, so handeln zu dürfen, weil er den Vertrag von Versailles für einen schlechten Vertrag hielt, ist es wirklich nicht von Bedeutung zu wissen, was der Herausgeber des »Observer«, einer englischen Sonntagszeitung, vor ungefähr zwanzig Jahren als seine Meinung äußerte, oder was der »Manchester Guardian« oder gar angesehene Staatsmänner, bei allem Respekt vor diesen Herren, bei der Niederschrift ihrer Memoiren, Jahre nachdem die Ereignisse stattgefunden haben, zu sagen haben. Der subjektive Tatbestand ist, so behaupte ich, ein wichtiger Punkt bei der Entscheidung über das Beweismaterial. Der subjektive Tatbestand kann von dem Angeklagten selbst dargelegt werden, wenn er durch den Gerichtshof nach seinen Ansichten gefragt wird.

Dr. Horn nun hat eine viel weitgehendere Frage angeschnitten, die, wie ich behaupte, vollkommen unerheblich ist und den Rahmen dieses Verfahrens überschreitet.

Er wünscht, daß der Gerichtshof prüft, ob der Vertrag von Versailles unter Zwang unterschrieben wurde. Nun, das würde natürlich eine eingehende Betrachtung der Regierung der Deutschen Republik, der Stellung der Bevollmächtigten und der rechtlichen Stellung der Personen, die die Vertragsverhandlungen geführt haben, erfordern.

Die Antwort darauf lautet, daß dieser Gerichtshof sich nur mit bestimmten, ganz klar festgelegten und einzeln angegebenen Vergehen befaßt, die sich innerhalb der in der Anklageschrift angeführten Zeitspanne ereignet haben. Aus dem gesamten Beweismaterial über die Handlungen der deutschen Regierung vor der Nazi-Zeit und sogar der Nazi-Regierung selbst geht hervor, daß Versailles Jahre hindurch als die gesetzmäßige und tatsächliche Arbeitsgrundlage anerkannt wurde. Mannigfaltige verschiedene Methoden wurden angewandt, um über Änderungen des Vertrages zu verhandeln und solche sicherzustellen. Ich brauche vor dem Gerichtshof nicht weiter auf den ganzen Aufbau der im Jahre 1925 unterzeichneten Locarno-Verträge einzugehen, die den Versailler Vertrag anerkennen und von der Nazi-Regierung selbst als bestehend und in Kraft befindlich behandelt wurden.

Im Hinblick auf diese Tatsachen wäre es nach meiner Ansicht vollkommen abwegig, unerheblich und im Widerspruch zu den Bestimmungen des Statuts für diesen Gerichtshof, sich in eine Untersuchung darüber einzulassen, ob der Vertrag von Versailles unter Zwang unterzeichnet wurde.

Wie ich Dr. Horn verstanden habe, war er an der Frage der Richtigkeit oder Unrichtigkeit der wirtschaftlichen Klauseln nicht so interessiert; ich möchte jedoch den Gerichtshof ergebenst daran erinnern, daß diese Frage im Augenblick zur Diskussion steht. Hier haben wir, wie ich bereits erwähnt habe, und ich möchte mich nicht wiederholen, eine Reihe von Meinungsäußerungen von Leuten, die zur Zeit ihrer Äußerungen Stellungen von verschiedenem Rang, verschiedener Bedeutung und verschiedener Verantwortlichkeit innehatten. Während ich meine Einstellung über diesen Vertrag entschieden aufrecht erhalte, möchte ich in gleicher Weise meinen zweiten Gesichtspunkt ausdrücken: Äußerungen als Beweismaterial anzuerkennen, die hauptsächlich polemischer Natur sind und entweder in Beantwortung eines Angriffs oder in Durchführung eines Angriffs im Hinblick auf die Politik des Staates, in dem sie sich abspielten, gemacht wurden, ist einfach ein Mißbrauch des Begriffs »Beweismaterial«. Das ist überhaupt kein Beweismaterial, und ich möchte mit gleichem Nachdruck sagen, – nicht mit gleichem Nachdruck deshalb, weil der erste Punkt von hervorragender Bedeutung ist, worauf ich den Gerichtshof ergebenst aufmerksam machen möchte, sondern ich möchte den Gerichtshof auch darauf hinweisen, daß es einen Mißbrauch des Begriffes »Beweismaterial« darstellt, Dinge dieser Art als Beweismaterial vorzulegen. Sie sind eine Angelegenheit der Argumentation, von der ein Anwalt Gebrauch machen kann, wenn sie erheblich ist, aber sie sollten aus diesem Grunde vom Gerichtshof nicht als Beweismaterial angenommen werden.

MR. FRANCIS BIDDLE, MITGLIED DES GERICHTSHOFS FÜR DIE VEREINIGTEN STAATEN: Sir David, steht irgend etwas im Versailler Vertrag, wonach entweder die Abrüstung der Signatarmächte, abgesehen von Deutschland, verlangt oder eine derartige Abrüstung erwartet wird? Wenn ja, können Sie uns die Stelle angeben?

SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Ja, in der Präambel zu den militärischen Bestimmungen. Das ist der Punkt, auf den man sich gewöhnlich bezieht. Es sind ungefähr vier Zeilen zu Beginn der militärischen Bestimmungen, und es wird in ziemlich allgemein gehaltener Form eine generelle Abrüstung nach derjenigen Deutschlands vorgesehen. Und natürlich, ich glaube, ich habe die Daten richtig im Kopf, war die Sachlage die, daß die Abrüstung angenommen wurde. Ob sie hätte angenommen werden sollen, ist hinsichtlich des Beweismaterials für diesen Fall nicht von Bedeutung; sie wurde im Jahre 1927 angenommen. Später fand, wie Sie sich vielleicht erinnern werden, eine Reihe von Abrüstungskonferenzen statt, die diese Frage prüften, und im Jahre 1933 hat Deutschland schließlich die damals tagende Abrüstungskonferenz verlassen.

Ich versuche ganz objektiv zu sein. Ich möchte nicht den Standpunkt der Anklage oder der Verteidigung hier vorbringen; aber so ist die Lage.

MR. BIDDLE: Ich bin nur nicht ganz klar, was Sie mit »angenommen« meinten. Meinen Sie damit, daß das Ausmaß der verlangten Abrüstung von Deutschland angenommen worden war?

SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Ja, umgekehrt: Deutschlands Antwort auf die Forderung von Versailles wurde von den Alliierten im Jahre 1927 angenommen, und die Abrüstungskommission, die in Deutschland, ich glaube, unter einem französischen General Denoue gewesen war, verließ Deutschland damals.

MR. BIDDLE: Soweit ich Sie verstehe, behaupten Sie dann, daß nichts, was in dieser Mappe ist, irgend etwas mit dieser möglichen Streitfrage zu tun hat?

SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Nein, nein.

MR. BIDDLE: Darauf kommt es an.

SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Es geht nicht um diese Streitfrage. Ich meine, wir werden uns mit dieser Streitfrage beschäftigen, wenn wir soweit sind. Ich hatte vielmehr aus den Worten von Dr. Stahmer den Eindruck gewonnen, daß dies einer der Punkte sein würde, auf die wir bei der allgemeinen noch vorzunehmenden Erörterung der Rechtsfrage stoßen würden, die die Verteidiger...

DR. SEIDL: Ich glaube, Sir David ist einem kleinen Irrtum unterlegen. Es befindet sich in dem Band 3 des Dokumentenbuches für den Angeklagten Heß auch eine Reihe von Zitaten ausländischer Staatsmänner, die sich auch auf diese Militärklausel des Versailler Vertrages beziehen und in denen ausgesprochen wird, daß zwar Deutschland insoweit seine Verpflichtungen aus dem Versailler Vertrag erfüllt hat, daß aber die für die Gegenseite sich daraus ergebenden Verpflichtungen nicht erfüllt wurden.

SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Es tut mir leid, aber ich erinnere mich an keine. Ich habe ihn durchgelesen, und es mag sich einiges nebensächliche Material damit befassen. Aber ich glaube nicht, daß ich Dr. Seidls großem Fleiß bei der Sammlung dieses Materials Unrecht tue, wenn ich sage, daß es, wenn es tatsächlich existiert, nebensächlich ist, und der Hauptpunkt in einem Angriff auf die politischen und wirtschaftlichen Klauseln des Vertrags besteht. Ich hoffe, daß ich Dr. Seidl Gerechtigkeit habe widerfahren lassen. Es war bestimmt meine Absicht. Dies ist der Eindruck, den ich gewonnen habe.

VORSITZENDER: Der Gerichtshof wird sich vertagen.