[Das Gericht vertagt sich bis
4. April 1946, 10.00 Uhr.]
Neunundneunzigster Tag.
Donnerstag, 4. April 1946.
Vormittagssitzung.
VORSITZENDER: Fahren Sie fort, Dr. Nelte.
DR. NELTE: Wir hatten gestern zuletzt die Zusammenkunft besprochen, die am 21. April zwischen Ihnen, Hitler und dem Adjutanten Schmundt stattgefunden hat. Ich lasse Ihnen nochmals das Dokument 388-PS überbringen und bitte Sie, mir darauf zu antworten, wenn ich Sie frage. War dies nicht eine Besprechung in dem Sinne, wie Sie sie gestern als grundsätzlich nicht stattfindend in Abrede gestellt haben?
KEITEL: Es ist bis zu einem gewissen Grade richtig, daß ich berufen wurde und mir zu meiner völligen Überraschung Gedanken über eine Kriegsvorbereitung gegen die Tschechoslowakei dargelegt wurden. Es vollzog sich das in recht kurzer Frist vor einer Abreise Hitlers nach Berchtesgaden. Ich erinnere mich überhaupt nicht, ein Wort in dieser kurzen Anweisung gesprochen zu haben, sondern lediglich eine Frage gestellt zu haben, und dann mit diesen für mich äußerst überraschenden Direktiven bin ich nach Hause gegangen.
DR. NELTE: Was geschah darauf Ihrerseits?
KEITEL: Meine Überlegung in erster Stunde war die, daß das militärisch, nach dem Kräftemaß, das mir damals von uns bekannt war, überhaupt nicht durchführbar sei. Ich beruhigte mich dann selbst damit, daß ja die Besprechung vorausschickte, daß ein Plan für absehbare Zeit nicht bestehe. Ich besprach die Angelegenheit am nächsten Tag mit dem Chef des Führungsstabes, General Jodl; eine Niederschrift über die Besprechung oder ein Protokoll habe ich nie bekommen und der Abschluß der Überlegungen war eigentlich der, »auf sich beruhen lassen, das hat ja Zeit, das kommt jetzt gar nicht in Frage aus militärischen Erwägungen«. Ich setzte auch Jodl auseinander, daß die einleitenden Worte waren: »Es ist nicht meine Absicht, in absehbarer Zeit gegen die Tschechoslowakei militärisch vorzugehen.«
Wir haben dann in den nächsten Wochen diejenigen gedanklichen und theoretischen Überlegungen begonnen, allerdings in diesem Falle ohne Beteiligung der Wehrmachtsteile, weil ich mich dazu nicht ermächtigt fühlte. Es war dann bemerkenswert in der nächsten Zeit, daß, wie aus der Schmundt-Akte hervorgeht, laufend durch die Adjutanten, die militärische Adjutantur, unzählige Fragen, Einzelfragen, in Bezug auf Stärke der Divisionen und ähnlichen Dingen, gestellt wurden, die der Wehrmachtführungsstab, so gut er konnte, beantwortete.
DR. NELTE: Ich glaube, Herr Marschall, wir könnten die Sache wesentlich abkürzen, so wesentlich auch die Darstellungen sind. Das Entscheidende ist nun mal – wenn Sie das Aktenstück, das Sie vor sich haben, nehmen wollen. Vergleichen Sie da mal den Entwurf, den Sie schließlich auf Drängen vom Obersalzberg gemacht haben und sagen Sie mir, was daraufhin erfolgt ist.
KEITEL: Ja. Etwa vier Wochen nach diesem Auftrag habe ich dann den Entwurf einer Weisung für die Vorbereitungen an den Obersalzberg geschickt. Als Antwort wurde mir mitgeteilt, Hitler würde selbst nach Berlin kommen und mit dem Oberbefehlshaber sprechen. Er kam dann Ende Mai nach Berlin, und ich war Zeuge und anwesend bei der Besprechung mit Generaloberst von Brauchitsch. In dieser Besprechung änderte sich der grundlegende Gedanke völlig, und zwar dahin, daß Hitler die Absicht äußerte, in absehbarster Zeit gegen die Tschechoslowakei militärisch vorzugehen. Er begründete es damit, also die Änderung seiner Entschlüsse, weil, ich glaube es war am 20. oder 21. Mai, die Tschechoslowakei eine totale Mobilmachung befohlen hatte, und Hitler damals erklärte, daß sich das nur gegen uns gerichtet haben könnte. Militärische Vorbereitungen auf deutscher Seite waren nicht getroffen. Das war der Anlaß der völligen Änderung seiner Absichten, die dann mündlich dem Oberbefehlshaber des Heeres mitgeteilt wurden und ihn mit dem sofortigen Beginn der Vorbereitungen beauftragte. Daraus erklären sich die Änderungen in den grundlegenden Befehlen, das heißt die nunmehr zu erlassende Weisung enthielt den grundlegenden Gedanken: »Es ist mein unabänderlicher Entschluß, in absehbarer Zeit militärische Maßnahmen gegen die Tschechoslowakei zu treffen.«
DR. NELTE: Nun kam es nicht zu dem Krieg mit der Tschechoslowakei infolge des Abkommens in München. Wie beurteilen Sie und die Generale diese Abmachung?
KEITEL: Wir waren außerordentlich glücklich, daß es zu einer militärischen Operation nicht gekommen war, weil wir in der Zeit der Vorbereitung niemals von der grundsätzlichen Auffassung heruntergegangen sind, daß unsere militärischen Angriffsmittel gegen die Grenzbefestigung der Tschechoslowakei unzureichend Seien, also rein militärisch gesehen ein Angriff, der ein Durchstoßen der Grenzbefestigungen notwendig gemacht hätte, dazu fehlten uns die Angriffsmittel. Infolgedessen waren wir außerordentlich befriedigt, daß eine friedliche politische Lösung gefunden war.
DR. NELTE: Welche Wirkung hatte dieses Abkommen, ich meine hinsichtlich des Ansehens Hitlers, auf die Generale?
KEITEL: Ich glaube sagen zu können, daß das eine wirklich große Steigerung des Ansehens Hitlers bei der Generalität zur Folge hatte. Man erkannte darin, daß zwar militärische Mittel oder militärische Vorbereitungen nicht unterlassen waren, daß andererseits aber eine Lösung gefunden war, die man nicht erwartete und für die man ungeheuer dankbar war.
DR. NELTE: Ist es nicht erstaunlich, daß Hitler drei Wochen nach diesem, von allen Seiten, auch von den Generalen so begrüßten Abkommen von München schon Anordnungen für die Besetzung der Rest- Tschechei traf?
KEITEL: Ich glaube, der Reichsmarschall Göring hat neulich schon bei seiner Vernehmung darüber eingehende Darlegungen gemacht. Mein Eindruck, meine Erinnerung geht dahin, daß Hitler mir damals sagte, er glaube nicht, daß die Tschechei den Verlust der sudetendeutschen Gebiete mit ihren starken Befestigungen überwinden werde, und außerdem sei er besorgt wegen der engen Verbindungen, die damals zwischen der Sowjetunion und der Tschechoslowakei bestanden, daß die Tschechoslowakei militärisch und strategisch eine Bedrohung werden könnte und vielleicht werden würde. Das war die Begründung, die ich militärisch bekommen habe.
DR. NELTE: Wurde Hitler denn von keiner Seite auf die große Gefahr aufmerksam gemacht, die darin bestand, daß er durch eine gewaltsame Lösung der Rest- Tschechei-Frage die anderen Mächte, also England, Frankreich brüskieren müßte?
KEITEL: Ich kannte nicht die letzte Besprechung in München zwischen dem englischen Premierminister Chamberlain und dem Führer. Aber ich habe diese Frage in ihrer weiteren Behandlung als eine politische angesehen und habe infolgedessen auch keine Bedenken geltend gemacht, wenn ich mich so ausdrücken soll, um so mehr, als ein erheblicher Abbau der militärischen Vorbereitungen, die vor München getroffen waren, angeordnet wurde. Die politische Frage zu erörtern war ja nun mal ein Gegenstand, den der Führer, wenn man auf solche Fragen kam, zurückwies.
DR. NELTE: Ich möchte in dem Zusammenhang mit der tschechischen Frage auf den Oberstleutnant Köchling hinweisen, der hier von der Anklagebehörde genannt wurde als Verbindungsmann mit Henlein. War die Wehrmacht beziehungsweise das OKW hieran beteiligt?
KEITEL: Die Aufgabenstellung für Köchling ist mir unbekannt geblieben, die Namhaftmachung Köchlings ist von mir ausgegangen. Hitler fragte mich, ob ein Offizier verfügbar sei, dem man einen Sonderauftrag geben könne, er soll sich bei mir melden. Ich habe den Oberstleutnant Köchling nach der Entsendung von Berlin aus nicht mehr gesehen und nicht mehr gesprochen. Ich weiß aber, und habe nachträglich erfahren, daß er bei Henlein gewesen ist, als Art militärischer Berater.
DR. NELTE: Die Anklagebehörde hat auf die Tatsache hingewiesen, daß Sie sowohl bei dem Besuch des Ministerpräsidenten im März 1939 als auch Tiso beim Besuch des Präsidenten Hacha zugegen waren, und es ist hieraus der Schluß gezogen worden, daß Sie an den dabei stattfindenden politischen Besprechungen beteiligt gewesen seien. Welche Rolle spielten Sie hierbei?
KEITEL: Es ist richtig, daß ich bei solchen Staatsbesuchen und Besuchen fremder Staatsmänner, ich glaube wohl in jedem Fall, in der Reichskanzlei oder bei der Begrüßung anwesend war. An den Besprechungen konkreter Art über politische Fragen habe ich niemals teilgenommen. Ich war zur Begrüßung anwesend und fühlte, als Repräsentant der Wehrmacht im hohen Dienstgrad vorgestellt zu werden, bin aber in jedem Einzelfall, an den ich mich erinnern kann, dann dankend verabschiedet worden oder habe in einem Vorzimmer gewartet, ob ich benötigt werde. Bestimmt kann ich sagen, daß ich weder mit Tiso noch damals in der Nacht mit dem Präsidenten Hacha irgendein Wort gesprochen oder an den unmittelbaren Gesprächen Hitlers mit diesen Männern teilgenommen habe. Gerade aber, darf ich hinzufügen, in der Nacht des Besuches des Präsidenten Hacha mußte ich in der Reichskanzlei anwesend sein, denn es mußte dem Oberkommando des Heeres ja im Laufe der Nacht Anweisung gegeben werden, in welcher Form der Einmarsch, der vorbereitet war, sich vollziehen sollte.
DR. NELTE: Ich will anschließend hierzu nur noch feststellen, da ich annehme, daß durch die Aussagen des Reichsmarschalls Göring diese Frage geklärt ist, Sie haben gegenüber dem Präsidenten Hacha niemals von einem eventuellen Bombardement Prags gesprochen, für den Fall, daß er sich nicht dazu verstehen sollte, zu unterschreiben?
KEITEL: Nein.
DR. NELTE: Wir kommen nun zu dem Fall Polen. Auch hier macht Ihnen die Anklagebehörde zum Vorwurf, daß Sie sich an der Planung und Vorbereitung beteiligten und an seiner Durchführung der kriegerischen Aktionen mitgearbeitet haben. Wollen Sie grundsätzlich mir Ihre Stellungnahme zu diesen Ostproblemen in Kürze darlegen?
KEITEL: Die Fragen, die sich um das Problem Danzig und um das Problem Korridor bewegten, waren mir bekannt. Mir war auch bekannt, daß in diesen Fragen politische Erörterungen und Verhandlungen schwebten. Der Fall des dann im Laufe der Zeit vorzubereitenden und vorbereiteten Angriffs gegen Polen hing natürlich mit diesen Problemen eng zusammen.
Als mit den politischen Dingen nicht befaßt war ich persönlich der Auffassung, daß wohl ebenso wie im Falle München und vor München eine militärische Vorbereitung, das heißt ein militärisches Druckmittel, wenn ich es so nennen soll, wohl in diesen Fragen eine ähnliche Rolle spielen würde, wie sie es nach meiner Auffassung in München ja auch gespielt hat. Ich glaubte nicht, daß es ohne eine militärische Vorbereitung sich abwickeln würde.
DR. NELTE: Hätte diese Frage nicht auch eine Lösung durch unmittelbar vorhergehende Verhandlungen finden können?
KEITEL: Es ist für mich schwer, zu übersehen, obwohl ich weiß, daß über die Frage Danzig Erörterungen mehrfach stattgefunden haben und ebenso über die Lösung der Korridorfrage. Mir ist erinnerlich eine Äußerung, die mich damals beeindruckte, daß Hitler einmal sagte, er bedaure den Tod des Marschalls Pilsudski. Er glaubte, mit diesem Staatsmann ein Übereinkommen gefunden zu haben oder finden zu können. Diese Äußerung ist mir gegenüber einmal gefallen.
DR. NELTE: Die Anklage hat nun erklärt, daß Hitler sich schon im Herbst 1938 mit einem Krieg gegen Polen beschäftigt hat. Waren Sie daran beteiligt 1938?
KEITEL: Nein, das ist mir nicht gegenwärtig. Ich möchte glauben, daß es meiner Erinnerung nach Anzeichen damals wohl gab, daß das nicht der Fall gewesen ist. Ich habe Hitler damals begleitet zu einer eingehenden Inspektionsreise der Ostbefestigungen. Wir sind die ganze Front von Pommern über den Oder-Warthe-Bruch bis Breslau abgefahren, um die einzelnen Grenzbefestigungen gegen Polen anzusehen. Das war damals eine sehr intensive Erörterung der Befestigung in Ostpreußen. Wenn ich das heute nachträglich auf die Frage kombiniere, so kann ich mir nur vorstellen, daß das Überlegungen waren, die vielleicht mit Danzig oder mit der Korridorfrage bei ihm im Zusammenhang standen, und wo er sich überzeugen wollte, ob die Ostbefestigungen hinreichende Abwehrkräfte hätten, wenn aus dieser weiteren Frage Danzig-Korridor eventuell ein Krieg mit Polen entstehen könnte.
DR. NELTE: Wann wurden die Vorbereitungen zur Besetzung Danzigs getroffen?
KEITEL: Ich glaube, das war noch im Spätherbst 1938, daß Anordnungen dafür gegeben waren, und zwar von Ostpreußen aus in Form eines Handstreichs Danzig zu einer vielleicht gegebenen günstigen Lage zu besetzen. Mehr weiß ich darüber nicht.
DR. NELTE: Wurde dabei nicht die Möglichkeit des Kriegsfalles mit Polen erörtert?
KEITEL: Ja, das hängt offensichtlich mit den Prüfungen der Verteidigungsmöglichkeiten der Grenze im übrigen zusammen. Aber eine Vorbereitung irgendwelcher Art dieses Problems... abgesehen von einem Handstreich von Ostpreußen aus, damals schon militärische Vorbereitungen... ist mir nicht erinnerlich und ist auch nicht gewesen.
DR. NELTE: Ich glaube mich zu erinnern, daß Sie mir einmal bei Erörterung dieser Frage gesagt haben, daß Danzig nur dann besetzt werden sollte, wenn kein Krieg mit Polen daraus entstünde.
KEITEL: Das ist richtig. Diese Äußerung ist mehrfach gefallen, daß diese Besetzung oder der Handstreich auf Danzig nur dann durchgeführt werden sollte, wenn bestimmt ein Krieg daraus nicht entstehen würde.
DR. NELTE: Wann hat sich diese Ansicht gewandelt?
KEITEL: Ich glaube, daß die Ablehnung aller Erörterungen seitens Polens, diese Frage Danzig in irgendeiner Verhandlungsform zu lösen, offenbar der Anlaß war zu weitergehenden Überlegungen und weitergehenden Schritten.
DR. NELTE: Die Anklagebehörde hat die Weisung vom 3. April 1939...
KEITEL: Ich darf vielleicht noch hinzufügen, daß überhaupt wohl eine andere Beurteilung der Lage nach München in Bezug auch auf das weitere Ostproblem eingetreten war, vielleicht, oder, wie ich glaube, in dem Sinne: Die tschechische Frage ist ohne einen Schuß befriedigend gelöst; das wird vielleicht bezüglich der anderen deutschen Probleme im Osten auch möglich sein, und ich glaube mich auch zu erinnern, daß Hitler sagte, er glaube nicht, daß die Westmächte, insbesondere England, an diesem Ostproblem Deutschlands das Interesse hätten und wohl da eher vermitteln als wie dagegen Einspruch erheben würden.
DR. NELTE: Das ist das Dokument C-120, der Fall »Weiß«. Danach ist also am 3. April 1939 die Weisung herausgegangen.
KEITEL: Zunächst zu dem Dokument. In den ersten Sätzen ist ja schon ausgesprochen, daß es der Ersatz war für die alljährlich gegebenen einheitlichen Anweisungen der Wehrmacht für eventuelle Mobilmachungsvorbereitungen, also eine weitere Bearbeitung der Dinge, wie wir sie schon aus den Anweisungen vom Jahre 1937/38 kennen, die alljährlich neu ergingen; im Konkreten aber war es so, daß Hitler in meiner Gegenwart dem Oberbefehlshaber des Heeres wohl in dieser Zeit, zur gleichen Zeit oder kurz vorher, die unmittelbaren Anweisungen gegeben hatte, die Vorbereitungen strategischer und operativer Art für einen Angriff auf Polen, einen Krieg mit Polen, zu treffen, und ich habe dann diese ersten Gedanken herausgegeben, wie aus diesem Dokument zu ersehen, das heißt der Führer hatte folgendes bereits angeordnet: Bearbeitung bis zum 1. September 1939 durchzuführen und nach Bearbeitung des OKH, des Heeres, sollte eine Zeittafel dafür vorbereitet werden. Dieses Dokument habe ich damals unterschrieben.
DR. NELTE: Wie standen Sie und die übrigen Generale zu diesem Krieg?
KEITEL: Ich muß sagen, daß wir auch seinerzeit, vor den Vorarbeiten gegen die Tschechoslowakei, sowohl der Oberbefehlshaber des Heeres wie der Generale, soweit ich sie gesprochen habe, und auch ich selbst dem Gedanken, nun einen Krieg gegen Polen zu führen, ablehnend gegenüberstanden. Wir wollten keinen Krieg in dem Sinne, aber wir haben selbstverständlich die gegebenen Befehle, zum mindesten in der Form der generalstabsmäßigen Durcharbeitung, sofort in Angriff genommen. Wir begründeten das damit, daß nach unseren Erkenntnissen unsere militärischen Mittel, die wir damals besaßen, das heißt die Divisionen, ihre Ausrüstung, ihre Bewaffnung und nicht zu vergessen ihre außerordentlich dürftige Munitionsausstattung, uns immer wieder als Soldaten daran erinnerten, daß wir an sich nicht bereit waren, einen Krieg zu führen.
DR. NELTE: Sie wollen damit sagen, daß bei Ihren Überlegungen also lediglich die militärischen Gesichtspunkte eine Rolle spielten?
KEITEL: Ja, das muß ich zugeben. Ich habe mich mit den politischen Problemen nicht befaßt, sondern mit der Frage: Können wir oder können wir nicht?
DR. NELTE: Ich stelle das lediglich fest. Nun war am 23. Mai 1939 eine Zusammenkunft, bei der Hitler an die Generale eine Ansprache hielt. Sie kennen diese Ansprache? Was war die Ursache des Inhaltes dieser Ansprache?
KEITEL: Die Niederschrift habe ich hier ja erstmalig bei der Voruntersuchung gesehen. Sie hat mich an die Tatbestände, die damals herrschten, erinnert. Es war so, daß die Tendenz dieser Ansprache eigentlich nur geschah, um den Generalen zu sagen, daß das unbegründet sei, ihre Besorgnisse, diese zu zerstreuen; und schließlich auch wohl darauf hinzuweisen, daß ja die Voraussetzungen noch nicht gegeben seien und daß politische Verhandlungen in diesen Dingen ja die Situation noch ändern könnten und vielleicht auch würden. Es sollte also eine reine Aufmunterung sein.
DR. NELTE: Waren Sie in dieser Zeit der Meinung, daß es zum Kriege wirklich kommen würde?
KEITEL: Nein, ich glaubte damals, vielleicht in etwas harmloser Form der Überlegungen, daß es nicht zu einem Kriege kommen würde, sondern sich voraussichtlich unter den militärischen Mitteln, die dafür aufgeboten werden würden, sich der Fall der Verhandlungen wiederholen und damit eine Lösung finden würde. Unsere militärische Betrachtung stellte immer einen Gesichtspunkt rein militärisch in den Vordergrund: Wir Generale glaubten, daß Frankreich – weniger England – unbedingt im Hinblick auf seinen Beistandspakt mit Polen eingreifen würde, und daß dafür überhaupt militärische Abwehrmittel nicht vorhanden waren.
Und gerade dieser Grund hat mich immer persönlich überzeugt, es wird nicht zu einem Krieg kommen, denn einen Krieg gegen Polen können wir nicht führen, wenn die Franzosen uns im Westen angreifen.
DR. NELTE: Wie beurteilten Sie dann die Dinge nach der Ansprache vom 22. August 1939?
KEITEL: Diese Ansprache hat Ende August auf dem Obersalzberg vor versammelten Generalen der im Osten in Vorbereitung befindlichen Truppen, Oberbefehlshabern, stattgefunden, und nachdem Hitler gegen Ende dieser Ansprache erklärte, daß mit der Sowjetunion ein Pakt abgeschlossen sei, war ich überzeugt, daß es nun bestimmt nicht zum Krieg kommen werde, denn ich glaubte, daß unter diesen Voraussetzungen eine Verhandlungsbasis gefunden sei, daß Polen sich nicht dem aussetzen würde. Und ich glaubte auch, daß nunmehr die Basis für Verhandlungen gefunden sei, obwohl in der Ansprache, die ich ja auch hier in Form einer Niederschrift erstmalig gelesen habe, ja gesagt worden war, daß die Vorbereitungen bis zum äußersten gediehen und die Durchführung beabsichtigt sei.
DR. NELTE: Wußten Sie, daß England tatsächlich versucht hat, zu vermitteln?
KEITEL: Nein, ich habe von diesen Dingen nichts erfahren, beziehungsweise das erste, was außerordentlich überraschend für mich war, war, daß ich in diesen Tagen, die hier mehrfach erörtert sind, 24. oder 25., also wenige Tage nach der Besprechung auf dem Obersalzberg, ich plötzlich zu Hitler gerufen wurde in die Reichskanzlei und er mir nur sagte: »Sofort alles anhalten, holen Sie Brauchitsch sofort her, ich brauche Zeit zu Verhandlungen.« Ich glaube, ich bin mit den wenigen Worten entlassen worden.
DR. NELTE: Was erfolgte darauf?
KEITEL: Ich telephonierte sofort den Oberbefehlshaber des Heeres an, gab denselben Befehl weiter und Brauchitsch wurde zum Führer gerufen. Es wurde alles angehalten und jede Entscheidung über ein eventuelles militärisches Vorgehen ausgesetzt, zunächst nur so, am nächsten Tag wohl um eine bestimmte Frist, ich glaube, es waren fünf Tage nach den Rechnungen, die man heute anstellen muß.
DR. NELTE: Waren Ihnen die sogenannten Mindestforderungen an Polen bekannt?
KEITEL: Ich glaube mich zu erinnern, daß ich sie damals in der Reichskanzlei gesehen habe, daß sie mir von Hitler, glaube ich, selbst gezeigt wurden und daß ich also Kenntnis bekommen habe.
DR. NELTE: Da Sie solche also gesehen haben, wollte ich Sie fragen, hielten Sie diese Forderungen für ernst?
KEITEL: Ich bin immer nur auf Minuten in dieser Zeit in der Reichskanzlei gewesen, und habe als Soldat geglaubt, das sei selbstverständlich ehrlich.
DR. NELTE: War damals von Zwischenfallen an der Grenze die Rede?
KEITEL: Nein, diese Frage der Zwischenfälle ist hier auch in der Voruntersuchung mit mir eingehend erörtert worden. In dieser Situation und in den Besprechungen in der Reichskanzlei, die wenigen, die wir in den Tagen überhaupt hatten, ist davon überhaupt nicht die Rede gewesen.
DR. NELTE: Ich lasse Ihnen das Dokument 795-PS bringen. Es ist dies eine Niederschrift, die sich mit den polnischen Uniformen für Heydrich befaßte.
KEITEL: Darf ich noch hinzufügen...
DR. NELTE: Bitte.
KEITEL:... nämlich daß, am 30. August war es wohl, nochmals der Angriffstag, der ja dann der 1. September war, um 24 Stunden verschoben wurde. Zu diesem Zweck waren Brauchitsch und ich erneut in die Reichskanzlei gerufen worden und die Begründung, nach meiner Erinnerung, war die, es würde ein Bevollmächtigter der Polnischen Regierung erwartet. Es soll 24 Stunden hinausgeschoben werden. Dann sind keine Veränderungen der militärischen Anordnungen mehr eingetreten.
Dieses Dokument betrifft polnische Uniformen für Zwischenfälle, beziehungsweise für irgendwelche illegalen Unternehmungen. Es ist mir ja auch vorgelegt, ich kenne es, eine nachträgliche Niederschrift des Admiral Canaris über eine Besprechung mit mir. Er sagte mir damals, er solle einige polnische Uniformen zur Verfügung stellen, das sei vom Führer aus durch die Adjutantur mitgeteilt. Ich fragte: »Wofür?« Wir waren uns einig, daß es für irgendein illegales Unternehmen beabsichtigt war. Wenn ich mich richtig erinnere, habe ich ihm damals gesagt, von solchen Dingen verspreche ich mir gar nichts, und er solle die Finger davon lassen. Es kam dann noch zu einer kurzen Erörterung über die Angelegenheit Dirschau, das auch in Form eines Handstreiches genommen werden sollte, dar der Wehrmacht übertragen war. Mehr ist mir damals nicht bekanntgeworden. Ich glaube, Canaris gesagt zu haben, dem kann man ausweichen. Sie sagen, Sie haben ja gar keine polnischen Uniformen. Sie können ja einfach sagen, Sie haben keine, dann ist der Fall erledigt.
DR. NELTE: Sie wissen ja, daß diese Sache mit dem späteren Angriff auf den Sender Gleiwitz in Zusammenhang gebracht worden ist. Wissen Sie von diesem Vorfall überhaupt?
KEITEL: Dieser Vorfall beziehungsweise dieses Unternehmen ist hier mir erst durch Zeugenaussagen bekanntgeworden. Ich habe niemals erfahren, wer beauftragt war, irgendsolche Dinge zu machen, und ich habe, bis hier im Gerichtssaal Aussagen gemacht worden sind, über diesen Überfall auf den Sender Gleiwitz von diesen Dingen nichts gewußt. Ich erinnere mich auch nicht, es damals erfahren zu haben, daß etwas Derartiges sich zugetragen hatte.
DR. NELTE: Kannten Sie die Bemühungen Amerikas und Italiens nach dem 1. September 1939, den Krieg in irgendeiner Form zu beenden?
KEITEL: Ich habe überhaupt von den politischen Erörterungen, die in diesen Tagen vom 24. bis 30./31. August, Anfang September stattgefunden haben, gar nichts gewußt. Ich habe niemals etwas gewußt von den Besuchen eines Herrn Dahlerus. Ich habe nichts gewußt von den Interventionen aus London; ich habe nur eines in Erinnerung, daß ich Hitler traf bei einer kurzen Anwesenheit in der Reichskanzlei, wo er mir sagte: »Stören Sie mich nicht, ich schreibe einen Brief an Daladier.« Das muß in den ersten Septembertagen gewesen sein. Von den Dingen, die ich hier erfahren habe, auch den Schritten, die noch nach dem 1. September unternommen wurden, habe ich und meines Wissens keiner der Generale jemals etwas erfahren. Gar nichts.
DR. NELTE: Was haben Sie zu Canaris und Lahousen am 14. September, also kurz vor dem Angriff auf Warschau, im Führerzug über die politische, wie es heißt in der Diktion, »Flurbereinigung« gesagt?
KEITEL: Ich bin auch da in der Voruntersuchung befragt, ich erinnerte mich an den Besuch überhaupt nicht mehr. Aber aus den Aussagen vom Lahousen ging ja hervor, – er sagte, glaube ich, ich hätte wiederholt, was Hitler schon darüber gesagt habe, und das wohl weitergegeben, wie er sich ausdrückte. Ich weiß, daß bei dem täglichen Zusammentreffen mit dem Oberbefehlshaber des Heeres, der damals ja in Polen die militärische Führung hatte, von diesem schon Beschwerden gekommen waren über polizeiliche Eingriffe im besetzten polnischen Gebiet. Und ich kann nur sagen, daß ich offenbar das wiederholt habe, was in meiner Gegenwart zwischen Hitler und Brauchitsch über diese Dinge gesprochen worden ist. Über Einzelheiten kann ich keine Angaben mehr machen.
Ich darf noch hinzufügen, daß der Oberbefehlshaber des Heeres damals, nach meiner Erinnerung, sich mehrmals beschwert hat, daß solange er in den besetzten Gebieten die vollziehende Gewalt hatte, er unter keinen Umständen andere Organe in diesem Raume duldete, und daß ihm dann auch im Oktober die Verantwortung für Polen auf sein Drängen abgenommen wurde. Ich möchte also glauben, daß die Darstellungen nicht ganz zutreffend sind, die in der Erinnerung oder den Notizen des Herrn lagen.
DR. NELTE: Wir kommen jetzt zu der Frage Norwegen. Wußten Sie, daß das Deutsche Reich gegenüber Dänemark und Norwegen eine Neutralitätserklärung im Oktober 1939 abgegeben hat?
KEITEL: Ja, das habe ich gewußt.
DR. NELTE: Wurden Sie und das OKW an solchen Beratungen über Neutralitätserklärungen in diesen oder anderen Fällen beteiligt?
KEITEL: Nein.
DR. NELTE: Wurde Ihnen davon Kenntnis gegeben?
KEITEL: Auch das nicht. Es waren außenpolitische Erörterungen, über die wir Soldaten nicht informiert wurden.
DR. NELTE: Amtlich meinen Sie. Selbstverständlich haben Sie als Persönlichkeit, die auch sonst Zeitungen liest, Kenntnis bekommen?
KEITEL: Ja.
DR. NELTE: Schön. Ich habe Ihnen schon vor der Erörterung des Problems der Angriffskriege die Frage gestellt, und möchte sie, um Zeit zu sparen, nicht wiederholen. Aber es scheint mir, daß die Frage, die ich stellte, um Ihre Meinung über Angriffskriege auszulösen, in diesem Falle doch noch einmal gestellt werden müßte, weil ein Angriff auf ein neutrales Land, einem Land, dem man eine Garantie gegeben hat, doch besondere Bedenken auslösen mußte bei den Menschen, die nun einmal mit diesen Dingen, mit der Kriegführung zu tun haben.
Also frage ich Sie auch in diesem Falle noch einmal und bitte um Ihre Erklärung, wie Ihre Einstellung und die Einstellung der Soldaten dazu war?
KEITEL: Ja, ich muß dazu sagen, wir standen bereits im Kriege. Zwischen England und Frankreich und Deutschland bestand der Kriegszustand. Es wäre unehrlich, zu sagen, daß ich mich in diese Dinge etwa eingeschaltet hätte, sondern ich habe sie als eine politische Frage angesehen, und ebenso habe ich als Soldat ja die Auffassung gehabt, daß die Vorbereitung einer militärischen Aktion gegen Norwegen und gegen Dänemark ja noch keineswegs die Auslösung sind, und daß diese Vorbereitungen Monate hätten dauern müssen, wenn man überhaupt ein solches Unternehmen machen wollte, wo sich in dieser Zeit ja auch die Voraussetzungen würden ändern können. Und gerade wohl diese Gedankengänge sind maßgebend gewesen, daß ich irgendwelche Schritte von mir aus in Bezug auf die Unmöglichkeit, jetzt diese Intervention in Norwegen und Dänemark strategisch zu überlegen und vorzubereiten, nicht angestellt habe, und daß ich es, ich muß sagen, den politischen Überlegungen überlassen habe. Anders kann ich es nicht ausdrücken.
DR. NELTE: Wann wurden die Vorbereitungen zu dieser Aktion begonnen?
KEITEL: Die ersten Überlegungen wohl schon im Oktober des Jahres 1939; dagegen die ersten Anordnungen erst im Januar, also mehrere Monate später. Ich erinnere mich auch im Zusammenhang mit den Erörterungen hier, den Aufklärungen, die der Reichsmarschall Göring dazu gegeben hat, daran, daß ich eines Tages beauftragt wurde, den Großadmiral Raeder zum Führer zu bestellen, er wollte mit ihm über Fragen der Seekriegführung in der Deutschen Bucht beziehungsweise im Atlantik sprechen, über Gefährdungen unserer Kriegführung in diesem Raume.
Dann ist von Hitler ein Sonderstab – auch daran bin ich erinnert worden, durch die mir hier vorgelegten Dokumente – durch mich bestellt worden, der sich mit dem Studium dieser ganzen Probleme vom Standpunkt der See-, Luft- und Erdkriegführung aus befassen sollte. Dieser Sonderstab hat sich meiner persönlichen Mitwirkung entzogen. Hitler erklärte damals, daß er diesen Sonderstab selbst mit Aufträgen versehen würde. So waren wohl damals in den Monaten 1939 bis Anfang 1940 die militärischen Erwägungen.
DR. NELTE: Ich möchte zu diesem Komplex nur noch wissen, ob Sie mit Quisling irgendeine Besprechung in diesem Stadium des Vorverfahrens gehabt haben?
KEITEL: Nein. Ich habe Quisling vor dem Norwegen-Feldzug und auch nach dem Norwegen-Krieg, glaube ich, erst ein oder zwei Jahre später das erstemal überhaupt gesehen. Irgendwelche Verbindungen, auch in der Art von Nachrichtenübermittlungen, haben nicht stattgefunden. Ich habe allerdings hier in einer Voruntersuchung schon berichtet, daß ich einen Offizier, das war, glaube ich, der Oberst Pieckenbrock, nach Kopenhagen auf Befehl Hitlers entsandt habe, der dort Besprechungen mit Norwegern haben würde. Quisling habe ich nicht gekannt.
DR. NELTE: Bei der Kriegführung im Westen steht im Vordergrund auch wieder zunächst die Frage der Neutralitätsverletzung bezüglich Luxemburg, Belgien und Holland. Wußten Sie, daß diesen drei Ländern Zusicherungen gemacht wurden, die sich auf die Unverletzlichkeit der Neutralität bezogen?
KEITEL: Ja, das habe ich damals gewußt und auch erfahren.
DR. NELTE: Ich will nicht wieder dieselben Fragen stellen, wie bei Norwegen und Dänemark, aber ich möchte in diesem Zusammenhang doch fragen: Hielten Sie diese Zusicherungen Hitlers für ehrlich?
KEITEL: Wenn ich mich in die damalige Lage zurückversetze, dann habe ich, als diese Dinge mir bekannt wurden, geglaubt, daß die Absicht bestand, keinen anderen Staat in den Krieg hineinzuziehen. Ich hatte jedenfalls zumindest keinen Anlaß, keine Berechtigung, das Gegenteil anzunehmen, daß das eine Täuschung sein sollte.
DR. NELTE: Glaubten Sie noch nach dem Polenkrieg an eine Beendigung des Krieges überhaupt, oder eine Lokalisierung?
KEITEL: Ja, das habe ich geglaubt. Und zwar bestärkte mich in dieser Auffassung die Reichstagsrede nach dem Polenkrieg, in der Andeutungen gemacht wurden, die mir die Überzeugung gaben, es werde über diese Frage mit England in erster Linie politisch gesprochen, und weil mir gegenüber Hitler immer wieder sagte, wenn man diese Fragen anschnitt: »An diesem östlichen deutschen Problem ist ja der Westen eigentlich nicht interessiert.« Diese Wendung war immer diejenige, mit der man beruhigt wurde; das heißt keine Probleme, die die Westmächte interessierten.
Außerdem kam ja hinzu, rein militärisch gesehen, daß wir Soldaten mit dem Angriff der Westmächte, also Frankreich, während des Polenkrieges selbstverständlich immer gerechnet hatten, und daß wir äußerst überrascht waren, daß eigentlich im Westen, außer gewissen Vorfeldkämpfen, wie wir es nennen, zwischen Maginot-Linie und Westwall tatsächlich sich nichts ereignete, während wir, ich weiß das genau, an der ganzen Westfront, von der holländischen Grenze bis Basel, nur fünf Divisionen hatten, neben schwachen Besatzungen in den Befestigungen des Westwalls; also rein militärisch-operativ gesehen, ein französischer Angriff während des Polenkrieges auf einen deutschen militärischen Schleier gestoßen wäre, aber nicht auf Abwehr. Und da das nicht erfolgte, kam uns Soldaten natürlich der Gedanke, es ist auch wohl nichts ernstlich beabsichtigt seitens der Westmächte, wenn man diese strategisch und operativ günstige Lage einfach verstreichen ließ und während dieser drei, vier Wochen des Einsatzes aller deutschen aktiven Verbände im Osten nichts gegen uns unternahm, wenigstens nichts, was uns bedrohte. Das bestärkte uns auch in der Auffassung bezüglich der voraussichtlichen weiteren Haltung der Westmächte.
DR. NELTE: Welche Pläne hatte Hitler für den Westen?
KEITEL: Er hatte schon in der letzten Phase des Polenkrieges alle entbehrlichen Kräfte nach dem Westen transportieren fassen und natürlich auch in der Überlegung, daß jederzeit dort noch etwas passieren könnte. Er hatte aber schon in den letzten Tagen des Polenkrieges mir gegenüber geäußert, daß er im schnellsten Tempo die Kräfte von dem Osten nach dem Westen herüberwerfen und, wenn möglich, im Winter 1939/40 im Westen noch angreifen wollte.
DR. NELTE: Waren in diesen Plänen nun die Angriffe und Durchmärsche durch Luxemburg, Belgien und Holland vorgesehen?
KEITEL: Zunächst nicht, sondern zunächst war der Aufmarsch im Westen, wenn man es militärisch ausdrücken soll, ein Sicherungsaufmarsch, das heißt, eine Grenzverstärkung der Front in weitester Form, selbstverständlich in bevorzugtem Maße, wo gar nichts war außer Grenzposten. Insofern ist also schon Ende September, Anfang Oktober ein Herüberwerfen des Heeres von Ost nach West in Form eines Sicherungsaufmarsches ohne Schwerpunkt erfolgt.
DR. NELTE: Was wußte denn die militärische Führung über die Haltung Belgiens und Hollands?
KEITEL: Das hat sich im Laufe des Winters natürlich mehrfach gewandelt. Damals wurde im Herbst 1939 – ich kann nur von mir sprechen, es mögen auch andere Auffassungen darüber bestehen – war ich der Überzeugung, daß Belgien auf jeden Fall aus dem Kriege bleiben wollte und alles wohl auch getan haben würde, um seine Neutralität zu wahren. Auf der anderen Seite bekamen wir durch die engen Beziehungen des belgischen und italienischen Königshauses doch eine Reihe von Nachrichten, die sehr bedrohlich klangen; eine Kontrolle darüber, ob sie wahr waren, besaß ich nicht, aber wir erfuhren sie, und zwar in der Richtung, daß auf Belgien ein starker Druck ausgeübt wurde zugunsten der Aufgabe seiner Neutralität.
Über Holland wußten wir damals nur, daß Beziehungen generalstabsmäßiger Art zwischen England und Holland bestanden.
Die Dinge haben sich dann aber natürlich in den Monaten Oktober 1939 bis Mai 1940 in den verschiedensten Formen verstärkt oder gemildert. Rein militärisch wußten wir eines, nämlich, daß die französischen sämtlichen schnellen Verbände, also motorisierte Verbände, aufmarschiert waren an der belgisch- französischen Grenze, und vom militärischen Standpunkt aus beurteilten wir diese Maßnahme dahin, daß zum mindesten die Vorbereitung getroffen war, jederzeit mit den schnellen Verbänden durch Belgien durchzurutschen und dort an der Grenze des Ruhrgebietes zu stehen.
Die Einzelheiten glaube ich hier weglassen zu sollen, da sie für das weitere Geschehen nicht wesentlich sind. Es sind auch rein operative und strategische Momente.
DR. NELTE: Bestanden überhaupt Meinungsverschiedenheiten zwischen der Generalität und Hitler bezüglich dieses Angriffs im Westen, der ja durch das neutrale Gebiet gehen mußte?
KEITEL: Ich glaube, sagen zu müssen, daß das damals wohl eine der ernstesten Krisen in dem Kriege mit gewesen ist, nämlich die Auffassungen einer Reihe von Generalen, auch des Oberbefehlshabers des Heeres, Brauchitsch, und seines Generalstabschefs, und ich persönlich gehöre auch dazu, die einen Angriff im Westen, den Hitler ja noch im Winter beabsichtigte, unter allen Umständen versuchen wollten zu verhindern. Es waren das verschiedene Motive: die Schwierigkeit des Herüberwerfens des Ostheeres nach dem Westen, dann ein Gesichtspunkt, nämlich der, das muß ich aussprechen, daß wir damals glaubten, vielleicht etwas mehr politisch gesehen, daß, wenn wir nicht angriffen, die Möglichkeiten einer friedlichen Lösung noch nicht überholt oder noch nicht unmöglich geworden seien. Wir hielten es also für möglich, daß bis zum Frühling sich da noch sehr viel politisch ändern könnte. Zweitens, wir waren entschieden gegen einen Winterkrieg als Soldaten, im Hinblick auf die kurzen Tage und die langen Nächte, die militärisch immer ein großer Hinderungsmoment für alle Operationen sind. Und auf den Einwand von Hitler, daß da jederzeit der Durchmarsch der französischen schnellen Kräfte durch Belgien erfolgen könnte, die dann vor dem Ruhrgebiet ständen, hielten wir entgegen, daß wir glaubten, wir seien im Bewegungskrieg einer solchen Situation überlegen; der waren wir gewachsen, das war unsere Auffassung. Ich darf gleich hinzufügen, das war eine Situation, die zu einer sehr ernsten Krise geführt hat zwischen Hitler und dem Oberbefehlshaber des Heeres und auch meiner Person, weil ich diese Gedankengänge vertrat und sie von Hitler schärfstens abgelehnt wurden; weil sie strategisch falsch seien, wie er sich ausdrückte, warf er mir in diesen Auseinandersetzungen in schärfster Form vor, daß ich mit den Generalen des Heeres gegen ihn konspiriere und sie in dem Widerstand ihrer Auffassungen noch bestärke. Ich muß das hier berichten, daß ich damals um meine sofortige Ausscheidung aus meiner Dienststellung und um eine andere Verwendung bat, weil ich das Vertrauensverhältnis für total zerbrochen hielt unter diesen Umständen und schwer gekränkt war. Ich füge hinzu, daß auch das Verhältnis zum Oberbefehlshaber des Heeres unter diesen Umständen stark gelitten hat. Meine Entlassung beziehungsweise anderweitige Verwendung wurde scharf abgelehnt, ich sei nicht berechtigt; ich habe das hier schon erörtert, ich brauche das nicht mehr zu sagen. Aber überbrückt ist dieser Vertrauensbruch auch in der Zukunft nicht mehr worden. Es war schon im norwegischen Krieg ein ähnlicher Konflikt entstanden, der im Tagebuch des Generals Jodl bezeichnet wird »ernste Krise«, weil ich das Haus verlassen hatte. Ich möchte darauf nicht eingehen.
DR. NELTE: Welches war nun der Anlaß für die Ansprache Hitlers am 23. November 1939 in der Reichskanzlei an die Oberbefehlshaber?
KEITEL: Ich kann sagen, daß das mit dieser Krise zwischen Generalität und Hitler in engstem Zusammenhang stand. Er versammelte damals die Generalität, um seine Auffassungen darzulegen und zu begründen, und wenn man das weiß, daß es unter der Tendenz stand, hier muß ein Wandel in der Auffassung der Generalität herbeigeführt werden, dann wird man finden in der Niederschrift, daß mehrfach direkt Personen scharf angegriffen wurden, indem die Begründungen wiederholt wurden, die gegen diesen Angriff im Westen gesprochen hatten und die vorgebracht worden waren. Außerdem wollte er damit nunmehr unwiderruflich seinen Willen bekunden, noch im Winter diesen Angriff im Westen zu führen, da das strategisch nach seiner Auffassung die einzige Lösung sei, da jeder Zeitverlust dem Gegner zugunsten komme. Er rechnete also wohl damals nicht mehr mit einer anderen Lösung, als der der Waffen.
DR. NELTE: Wann wurde der Entschluß nun gefaßt, durch Belgien und Holland vorzugehen?
KEITEL: Die Vorbereitungen, einen solchen Durchmarsch und Angriff durch Belgien und Holland zu führen, waren vollkommen getroffen Aber die Entscheidung darüber, ob ein solcher Großangriff oder Neutralitätsverletzung dieser Länder praktisch durchgeführt werden sollte, diese Entscheidung hielt Hitler zurück und hielt sie offen bis in den Frühling 1940 hinein, offenbar aus allerhand politischen Erwägungen und vielleicht auch in der Überlegung, daß das Problem sich eventuell automatisch lösen würde, wenn von seiten der Gegner nach Belgien einmarschiert würde, oder die schnellen französischen Truppen einrückten oder ähnliches. Ich kann nur feststellen, daß die Entscheidung der Durchführung bis zur letzten Minute immer offengehalten wurde und erst der Befehl, daß es durchzuführen sei, unmittelbar vorher gegeben wurde. Ich glaube, daß auch ein Moment dabei mitgespielt hat, die schon von mir erwähnten Beziehungen zwischen dem belgischen und italienischen Königshaus; da Hitler seine Entscheidungen immer mit dem Geheimnis umgab, so fürchtete er wohl, daß dies auf diesem Wege bekannt würde.