[Das Gericht vertagt sich bis 14.00 Uhr.]
Nachmittagssitzung.
DR. NELTE: Herr Präsident! Die bereits heute morgen erwähnten Dokumente, erstens Nummer 3 des Dokumentenbuches Nummer 2, welches lautet: »Die Befehlsverhältnisse im Osten«, erhält die Nummer 10 der Dokumente Keitels.
VORSITZENDER: Ist es datiert vom 14. März 1946?
DR. NELTE: Ja, 14. März 1946.
VORSITZENDER: Das Dokument, das ich habe, ist überschrieben 23. Februar 1946 und trägt am Ende das Datum vom 14. März 1946. Ist das das Dokument?
DR. NELTE: Das Dokument ist zuerst niedergeschrieben und später beschworen worden. Es ist daher in den beiden Daten ein Unterschied.
VORSITZENDER: Ich möchte nur feststellen, welches Dokument es ist.
DR. NELTE: Es ist das Dokument vom 14. März 1946.
VORSITZENDER: Ja.
DR. NELTE: Die eidesstattliche Versicherung stammt vom 14. März.
VORSITZENDER: Und welche Nummer geben Sie diesem Dokument?
DR. NELTE: Ich gebe diesem Dokument die Nummer K-10. Das zweite Dokument, welches im Dokumentenbuch an fünfter Stelle angeführt ist, trägt am oberen Kopf das Datum vom 18. März 1946 und hat am Ende die eidesstattliche Versicherung des Angeklagten vom 29. März 1946. Dieses Dokument erhält die Nummer K-12.
Gestatten Sie, Herr Präsident, daß ich aus diesem letzten Dokument zusammenfassend einige Punkte auf Seite 11 und 12 der deutschen Ausgabe verlese. Es ist eine, wie mir scheint, sehr wichtige Feststellung für diesen Prozeß.
VORSITZENDER: Auf welches Dokument beziehen Sie sich?
DR. NELTE: Auf das Dokument Nummer 12.
VORSITZENDER: Ja.
DR. NELTE: Die Fragestellung in diesem Dokument...
VORSITZENDER: Einen Moment, bitte, ich glaube die Dolmetscher haben das Dokument noch nicht gefunden, nicht wahr? Es kommt gleich nach der Bestätigung von Catherine Bedford, und ich glaube, es ist ungefähr in der Mitte des Buches, obgleich die Seiten nicht fortlaufend numeriert sind, trägt es augenscheinlich die Nummer 51.
DR. NELTE: Ich beginne da, wo es heißt: »Zusammenfassend ist festzustellen.« Das sind die letzten drei Seiten dieses Dokuments.
»1.) Neben der Wehrmacht als dem rechtmäßigen Schutz des Reiches nach innen und außen (wie in jedem Staate) ist« – ich füge ein: in den SS-Organisationen- »ein eigener völlig unabhängiger Machtfaktor entstanden und legalisiert worden, der politisch, biologisch, polizeilich und verwaltungsrechtlich die Staatsgewalt tatsächlich an sich gezogen hatte.
2.) Schon mit dem Beginn kriegerischer Verwicklungen und Auseinandersetzungen wurde die SS zum eigentlichen Vorkämpfer und Bannerträger einer Eroberungs- und Machtpolitik.
3.) Nach Eintritt der militärischen Aktionen trat der Reichsführer-SS in jeweils geeignet erscheinender, zunächst versteckter, wenigstens äußerlich wenig sichtbarer Form, auf den Plan, um die angeschlossenen oder besetzten Gebiete vor politischen Gegnern zu schützen, in Wirklichkeit, seine Macht aufzurichten.
4.) Von der Besetzung der Sudetengebiete an, beginnend mit der Organisierung von politischen Unruhen, das heißt, sogenannten Befreiungsaktionen und ›Zwi schenfällen‹, führt der gerade Weg über Polen und die Westgebiete in steiler Kurve in den russischen Raum.
5.) Mit den Richtlinien zu ›Barbarossa‹ für Verwaltung und Ausnützung der eroberten Ostgebiete ist die Wehrmacht, wenn auch gegen ihre Absichten, ohne Kenntnis der Voraussetzungen in die Folgeerscheinungen und Handlungen in steigendem Maße mit hineingezogen worden.
6.) Ich, (Keitel) und meine Mitarbeiter hatten keine tiefere Einsicht in die Auswirkungen der Vollmachten Himmlers und keine Vorstellung von den möglichen Auswirkungen dieser Vollmachten.
Das gleiche nehme ich auch ohne weiteres für das OKH an, das gemäß Führerbefehl die Vereinbarungen mit Himmlers Organen getroffen und die Befehle an die nachgeordneten Befehlshaber des Heeres gegeben hat.
7.) Nicht der Oberbefehlshaber des Heeres hatte aber in Wirklichkeit die ihm übertragene vollziehende Gewalt und die Macht der Rechtsetzung und Rechtswahrung in den besetzten Gebieten, sondern Himmler oder Heydrich entschieden eigenmächtig über Leben und Tod der Bevölkerung und der Gefangenen, einschließlich der Kriegsgefangenen, in deren Lagern sie die Exekutive wahrnahmen.
8.) Die traditionelle Erziehung und Pflichtauffassung des deutschen Offiziers zum bedingungslosen Gehorsam und die Verantwortlichkeit der Vorgesetzten hat zu einer (rückschauend bedauerlichen) Haltung ge führt, die trotz Erkenntnis der Gesetzlosigkeit und inneren Ablehnens doch vor Auflehnung gegen diese Befehle und Methode zurückschreckte.
9.) Der Führer, Hitler, hat seine Autorität und seinen grundsätzlichen Befehl Nummer 1 in unverantwortlicher Weise uns gegenüber mißbraucht. Dieser Befehl Nummer 1 lautete etwa:
›1) Niemand soll Kenntnis haben von geheimen Dingen, die nicht in seinen eigenen Aufgabenbereich gehören.
2) Niemand soll mehr erfahren, als er zur Erfüllung der ihm gestellten Aufgaben wissen muß.
3) Niemand soll früher Kenntnis erhalten, als es für die ihm zufallenden Obliegenheiten notwendig ist.
4) Niemand darf mehr oder früher geheimzuhaltende Aufträge an nachgeordnete Stellen weitergeben, als dies zur Erreichung des Zweckes unvermeidlich ist.‹
10.) Wäre der gesamte Komplex, der aus der Ermächtigung Himmlers im Osten sich entwickelte, vorher bekanntgewesen, so hätte in diesem Falle erstmalig die führende Generalität dagegen eindeutig Protest erhoben, das ist meine Überzeugung.
Indem sich diese Ungeheuerlichkeiten, die eine aus der anderen schrittweise und ohne vorherige Erkenntnis der Folgen entwickelten, nahm das Verhängnis seinen tragischen Verlauf mit seinen verhängnisvollen Folgen.«
Angeklagter Keitel, haben Sie diese Erklärung, so wie ich sie zusammenfassend, abschließend verlesen habe, selbst geschrieben, das heißt diktiert? Kennen Sie genau den Inhalt und haben Sie ihn eidesstattlich versichert?
KEITEL: Ja.
DR. NELTE: Ich werde das Dokument im Original überreichen.