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[Zum Zeugen gewandt:]

Ich bitte Sie mir darzulegen, welche Beziehungen zwischen der Polizei beziehungsweise Himmler einerseits und dem Kriegsgefangenenwesen andererseits bestanden?

KEITEL: Ich darf vorausschicken, daß ein ununterbrochener und ständiger Reibungspunkt zwischen Himmler und den entsprechenden Polizeidienststellen und den Wehrmachtsdienststellen auf diesem Gebiete bestanden hat und niemals zur Ruhe gekommen ist. Von Anfang an war erkennbar, daß zumindest Himmler selbst die Führung bei sich haben wollte und keinen Versuch unterlassen hat, Einnuß auf das Kriegsgefangenenwesen in irgendeiner Form zu gewinnen. Die natürlichen Umstände der Fluchten, der Wiederergreifung durch die polizeilichen Nachsuchungen und Fahndungen, die Beanstandungen über die mangelhafte Bewachung, die mangelhaften Sicherungsmaßnahmen in den Lagern, das mangelhafte Bewachungspersonal und seine Unzulänglichkeit, alle diese Dinge waren geeignet und wurden von ihm ausgenutzt bei Hitler, in dieser Frage fortgesetzt der Wehrmacht, ich möchte sagen, in den Rücken zu fallen, sie aller möglichen Unzulänglichkeiten und Mängel in ihrer Tätigkeit zu verdächtigen. Die Folge war, daß eigentlich auch laufend Eingriffe, deren Ursachen mir meistens nicht erkennbar waren, von Seiten Hitlers erfolgten. Er machte sich die Vorwürfe zu eigen und griff in die Dinge unentwegt ein, so daß auf diesem Wege die Dienststellen der Wehrmacht in ständiger, ich möchte sagen, Unruhe gehalten wurden. Ich war dann gezwungen, in dieser Beziehung, da ich es selbst nicht prüfen konnte, Anweisungen an meine Dienststellen im OKW weiterzugeben.

DR. NELTE: Was war denn die tiefere Ursache und der eigentliche Zweck, den Himmler damit erreichen wollte?

KEITEL: Er wollte nicht nur Einfluß gewinnen, sondern er wollte nach Möglichkeit das Kriegsgefangenenwesen, als Polizeichef in Deutschland, an sich ziehen und damit selbst in diesen Dingen regieren können, wenn ich mich so ausdrücken darf.

DR. NELTE: Spielte in dieser Frage nicht auch die Gewinnung von Arbeitskräften eine Rolle?

KEITEL: Das wurde in späterer Zeit schon erkennbar. Ich glaube, daß ich darauf später noch zurückkommen muß. Ich kann das hier vorausschicken, daß jedenfalls eine Beobachtung untrüglich war, daß nach solchen Fahndungen, die in bestimmten Zeitintervallen in Deutschland überhaupt stattfanden, nach flüchtigen Personen offensichtlich die Mehrzahl dieser Kriegsgefangenen in die Lager, aus denen sie entflohen waren, nicht zurückgekehrt sind, also offenbar dann doch von den Polizeistellen zurückgehalten und wohl für den Arbeitseinsatz im eigenen Bereich Himmlers verwendet wurden. Das Flüchtlingswesen steigerte sich natürlich von Jahr zu Jahr und wurde immer umfangreicher. Dafür liegen ja ganz plausible Gründe vor.

DR. NELTE: Das Kriegsgefangenenwesen hängt ja mit der Frage des Arbeitsproblems ziemlich eng zusammen. Welche Stelle war nun für den Arbeitseinsatz der Kriegsgefangenen zuständig?

KEITEL: Die bearbeitenden Stellen waren die Landesarbeitsämter in der sogenannten Reichs-Arbeitseinsatz-Verwaltung, ursprünglich in den Händen des Reichsarbeitsministers, später in den Händen des Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz, und in der Praxis spielte sich das so ab, daß die Landesarbeitsämter bei den Wehrkreiskommandos, denen ja die Lager unterstanden, Arbeitskräfte anforderten und ihnen Arbeitskräfte zugeteilt wurden, sofern das auf Grund der allgemeinen Richtlinien zulässig war.

DR. NELTE: Was hatte das OKW mit dem Problem Arbeitseinsatz zu tun?

KEITEL: Im großen an sich natürlich die Überwachung, daß der Arbeitseinsatz nach den generellen grundsätzlichen Anweisungen erfolgte, wobei es natürlich nicht möglich war, auch der Inspekteur nicht in der Lage war, jeden einzelnen Arbeitseinsatz zu kontrollieren; dafür waren ja auch die Wehrkreisbefehlshaber und ihre Generale für das Kriegsgefangenenwesen verantwortlich und die geeigneten Persönlichkeiten. Der eigentliche, ich möchte sagen, Kampf um Arbeitskräfte aus dem Kriegsgefangenenbereich setzte etwa im Jahre 1942 ein. Bis dahin war wohl der Hauptträger von Arbeitseinsatz und Arbeitskräften die Landwirtschaft, die Reichsbahn und eine Reihe von allgemeinen Institutionen; aber nicht die Industrie und insbesondere nicht für die sowjetischen Kriegsgefangenen, die ja im großen und ganzen aus der Landbevölkerung stammten.

DR. NELTE: Was war die eigentliche Ursache dieses Bedarfs?

KEITEL: Im Winter 1941/1942 entstand das Problem, die Soldaten, die insbesondere auf dem östlichen Kriegsschauplatz ausgefallen waren, zu ersetzen. Ein großer Bedarf war zu decken an einsatzfähigen Soldaten für die Front und für die Truppe. In Zahlen ausgedrückt sind sie mir gegenwärtig: Das Heer allein hatte einen jährlichen Anspruch auf zwei bis zweieinhalb Millionen Ersatz. Wenn man hiervon etwa eine Million aus der normalen Rekrutierung des Rekrutenjahrgangs und eine halbe Million rund als Ersatz aus den Wiedergenesenden, also ausgeheilten Verwundeten und Kranken entnimmt, so blieben rund anderthalb Millionen, die alljährlich ersetzt werden mußten. Diese konnten aus der Kriegswirtschaft herausgezogen werden und dem Wehrdienst zugeführt werden. Aus dieser Tatsache ergab sich die enge Wechselwirkung zwischen der Aushebung dieser Männer aus der Kriegswirtschaft und dem Ersatz dieser Männer durch neue Arbeitskräfte. Arbeitskräfte, die auf der einen Seite gedeckt werden sollten aus Kriegsgefangenen, auf der anderen Seite aus der Tätigkeit des Generalbevollmächtigten Sauckel, Arbeitskräfte zu beschaffen. Diese Wechselwirkungen brachten auch mich, da ich das Ersatzwesen für die gesamte Wehrmacht, Heer, Luftwaffe, Marine unter mir hatte, also die Rekrutierung, ständig in diese Dinge hinein und war auch der Anlaß, daß ich bei Erörterungen, die der Führer mit Sauckel abhielt, in Bezug auf Soldatenersatz, und Beschaffung der Ersatzkräfte anwesend war.

DR. NELTE: Was können Sie mir über den Einsatz der Kriegsgefangenen in der Industrie und der Rüstungsindustrie sagen?

KEITEL: Wir haben in der Zeit wohl bis 1942 keine Kriegsgefangenen in industriellen Betrieben, die auch nur mittelbar der Rüstung dienten, verwendet, und zwar auf Grund eines ausdrücklichen Verbotes von Hitler, das allerdings von ihm begründet wurde, er befürchte, daß Sabotage an Maschinen, Produktionsmitteln und so weiter vorgenommen werden würden. Derartige Dinge hielt er für naheliegend und gefährlich. Erst als die Not zwang, jede Arbeitskraft in den heimischen Produktionsprozeß in irgendeiner Form einzugliedern, wurde dieser Grundsatz aufgegeben und ist nicht mehr erörtert worden. Es sind dann selbstverständlich auch Kriegsgefangene in die allgemeine Kriegsproduktion hineingekommen, wobei nach meiner Auffassung und nach den grundlegenden Anordnungen, die in dieser Zeit von mir aus ergingen, also OKW, der Einsatz in Rüstungsbetrieben verboten war, das heißt Kriegsgefangene in ausgesprochene Rüstungsbetriebe einzusetzen, nämlich in solche, die Kriegsgerät, Waffen und Munition herstellten.

Ich muß allerdings, vielleicht der Vollständigkeit halber, hinzufügen, daß zu einem späteren Zeitpunkt ein Führerbefehl auch hier weitere Lockerungen der Beschränkungen, die bis dahin bestanden haben, angeordnet hat. Ich glaube, es ist ja auch hier schon von der Anklagebehörde erwähnt worden, daß Minister Speer von soundsoviel Tausenden Kriegsgefangenen gesprochen haben soll, die in der Kriegswirtschaft beschäftigt waren. Ich darf aber auch bemerken, daß in Rüstungsbetrieben viele Arbeiten zu verrichten waren, die nichts mit der eigentlichen Produktion von Waffen und Munition zu tun hatten.

DR. NELTE: Die Anklagebehörde hat mehrfach darauf hingewiesen, daß sich Kriegsgefangene in Gewahrsam, der Polizei, und sogar in Konzentrationslagern befunden haben. Können Sie hierfür eine Erklärung geben?

KEITEL: Für mich erklärt sich dieser Umstand dadurch, daß ja die eingangs heute schon erörterten Aussonderungen von Kriegsgefangenen in den Lagern erfolgt sind, ferner, was auch aus Dokumenten bekannt ist, daß Kriegsgefangene, denen gegenüber die Disziplinarbefugnis der Kommandeure kein ausreichendes Mittel mehr darstellte, ausgesondert und der Geheimen Staatspolizei übergeben wurden; und schließlich habe ich bereits das Gebiet der Geflüchteten und Wiederergriffenen dargestellt, von denen eine erhebliche Zahl, wenn nicht die Mehrzahl, nicht in ihre Lager zurückkehrten. Vom OKW beziehungsweise dem Chef des Kriegsgefangenenwesens sind mir in dieser Richtung, der Übergabe in die KZ, Befehle nicht bekannt und sind auch niemals gegeben worden. Aber der Tatbestand ist ja hier auf verschiedenen Wegen durch Zeugen und Dokumente belegt worden, daß der Weg über die Überweisung an die Polizei in vielen Fällen in den KZ-Lagern geendet hat. Das ist meine Erklärung.

DR. NELTE: Die Französische Anklagebehörde hat ein Dokument vorgelegt, 1650-PS. Es ist dies ein Befehl, ich sage ein angeblicher Befehl des OKW, der die Überstellung entflohener, nicht arbeitender Kriegsgefangener an den SD anordnete. Nach dem, was Sie eben gesagt haben, werden Sie hierfür eine Erklärung geben müssen. Ich gebe Ihnen außerdem das Dokument 1514-PS, ein Befehl des Wehrkreiskommandos VI, aus welchem Sie die Vorgänge ersehen können, welche das OKW im Zusammenhang mit der Überstellung von Kriegsgefangenen an die Geheime Staatspolizei anwendete.

KEITEL: Ich möchte mich zunächst zu dem Dokument 1650-PS äußern. Zunächst muß ich erklären, daß ich diesen Befehl nicht gekannt habe, daß er mir niemals in die Hände gekommen ist, und daß es mir auch bisher nicht möglich war, aufzuklären, wie er zustande gekommen ist.

DR. NELTE: Wollen Sie nicht bitte zuerst sagen, daß das Dokument als solches kein Dokument des Oberkommandos der Wehrmacht ist?

KEITEL: Ich komme darauf.

DR. NELTE: Bitte, damit müssen Sie beginnen, um es klarzustellen.

KEITEL: Das Dokument beginnt als ein Schriftstück, das bei einer Polizeidienststelle beschlagnahmt wurde, mit den Worten: »Das OKW hat folgendes angeordnet:« – es kommen dann 1, 2, 3 Ziffern, es fährt dann fort: »Hierzu befehle ich«, das heißt der Oberste Polizeichef des Reichssicherheitshauptamtes, unterschrieben mit Müller, nicht etwa mit Kaltenbrunner, sondern mit Müller. Ich habe bestimmt diesen Befehl OKW 1 bis 3 nicht unterschrieben, nicht gesehen; darüber besteht kein Zweifel. Schon allein aus der Tatsache, daß dort von technischen Ausdrücken »Stufe 3 b« und ähnlichem die Rede ist – das sind mir unbekannte Polizeibegriffe –, muß ich feststellen, daß ich mir im Zweifel darüber bin, wie dieses Dokument zustande gekommen ist. Ich kann es bisher nicht aufklären. Es gibt Vermutungen, Möglichkeiten, ich möchte sie kurz erwähnen, weil ich mir darüber sehr viel Gedanken gemacht habe:

Erstens: Ich glaube nicht, daß eine Dienststelle des OKW, also der Chef des Kriegsgefangenenwesens oder der Chef des Allgemeinen Wehrmachtsamtes, diesen Befehl selbständig ohne Anweisung herausgegeben hätte, das halte ich für ausgeschlossen, da er der Gesamttendenz auf das schärfste widersprach. Ich kann mich nicht entsinnen, jemals selbst eine entsprechende Anweisung von Hitler erhalten oder weitergegeben zu haben und schließlich, wenn es auch nach einer Ausrede aussieht, so gab es natürlich Nebenwege, deren sich der Führer ohne Rücksicht auf Zuständigkeiten bediente. Wenn ich eine Erklärung finden soll, so gab es den Adjutantenweg, der vielleicht etwas Derartiges weitergegeben hat, ohne daß ich das erfahren habe. Ich betone, daß das nur eine Vermutung von mir ist und keine Entlastung für mich sein kann.

Nur eines möchte ich bemerken, nämlich, der Tatbestand, daß das Dokument 1514-PS ein erbeuteter Befehl vom Wehrkreiskommando VI, Münster, ist, datiert vom 27. Juli 1944, also vom Hochsommer 1944 ist, und beschäftigt sich mit den entflohenen Kriegsgefangenen, was mit ihnen zu geschehen habe, und es heißt da: »Bezug« und führt sieben verschiedene Befehle aus dem Jahre 1942 bis Anfang Juli 1944 auf; und dieser Befehl, der nach der Tatsache, daß es sich hier um die Frage entflohener Kriegsgefangener handelt, in dieses Dokument hineingehört hätte, wenn die militärische Dienststelle des Wehrkreises VI einen solchen OKW-Befehl in Händen gehabt hätte, ist immerhin bemerkenswert und hat mich zu der Auffassung geführt, daß ein schriftlicher Befehl bestimmt nicht vorlag, und daß die militärische Dienststelle einen solchen Befehl überhaupt nicht erhalten hat. Mehr kann Ich zur Entlastung nicht sagen, da ich es nicht beweisen kann.

DR. NELTE: Es ist Ihnen bekannt, daß die Anklage einen Befehl vorgelegt hat, wonach sowjetrussische Kriegsgefangene ein durch Ritzen der Haut verursachtes Kennzeichen erhalten sollten. Wollen Sie sich zu diesem Sachverhalt bitte äußern?

KEITEL: Der Vorgang war folgender: Im Sommer 1942 hatte der Führer sich den Generalquartiermeister des Heeres zu einem mehrstündigen Vortrag ins Hauptquartier bestellt und sich von ihm die Verhältnisse in den rückwärtigen Heeresgebieten des Ostens eingehend berichten lassen. Ich wurde plötzlich hinzugezogen und es wird mir gesagt, der Generalquartiermeister berichte, daß zu vielen Tausenden allmonatlich die Kriegsgefangenen in Rußland flüchteten, in der Bevölkerung untertauchten, sofort die Uniform ablegten, Zivilkleider sich besorgten und demnach nicht mehr zu identifizieren seien. Ich bekam den Befehl, zu prüfen, eine eventuelle Kenntlichmachung vorzubereiten, die auch nach Anlegung der Zivilkleidung die Tatsache erkennen ließ, daß es sich um Kriegsgefangene handelte. Ich habe dann eine Anweisung nach Berlin gegeben, es solle ein solcher Befehl vorbereitet werden, es sollte aber zunächst geprüft werden von der völkerrechtlichen Abteilung des Auswärtigen Amtes, ob man einen solchen Befehl überhaupt geben könne, und ob es technisch überhaupt durchführbar sei.

Ich möchte sagen, daß man hier an eine Tätowierung dachte, wie das in Deutschland auch von vielen Bauarbeitern und Seeleuten getragen wird. Aber ich habe nichts mehr davon erfahren, ich traf eines Tages im Hauptquartier den Außenminister und sprach ihn auf diese Frage an. Außenminister von Ribbentrop kannte die Anfrage an das Auswärtige Amt und er hielt diese Maßnahme für außerordentlich bedenklich. Das war die erste Mitteilung, die ich auf diesem Gebiet erhielt. Ich habe sofort dann Anweisung gegeben, ob ich selbst oder durch den Adjutanten, der diese Frage behandelte, weiß ich nicht mehr, daß der Befehl nicht hinausgehen solle. Vorgelegt wurde mir weder ein Entwurf, noch habe ich etwas unterschrieben. Ich habe dann jedenfalls eindeutig angeordnet: »Der Befehl geht auf gar keinen Fall hinaus«; nähere Mitteilungen sind mir damals nicht zugegangen, ich habe auch nichts mehr davon gehört; ich war überzeugt, daß der Befehl nicht hinausgegangen sei.

In dieser Form habe ich auch in der Voruntersuchung meine Aussagen gemacht; mir ist aber jetzt bekannt geworden, und zwar durch meinen Verteidiger, daß die Sekretärin des Chefs für Kriegsgefangenenwesen aus eigener Initiative sich erboten hat, Zeugnis abzulegen, daß der Befehl zurückgezogen wurde und nicht hinausgehen sollte. Sie habe es persönlich entgegengenommen, allerdings habe sie mit ihrer Zeugenbekundung gesagt, daß das erst geschehen sei einige Tage, nachdem der Befehl schon ausgegeben gewesen sei, und nur so sei es erklärlich, daß bei der Polizeistelle dieser Befehl als nicht rückgängig gemacht vorgefunden worden ist.

DR. NELTE: Herr Präsident, ich werde diese eidesstattliche Versicherung der Zeugin, die inzwischen eingegangen ist, zu gegebener Zeit vorlegen.