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[Das Gericht vertagt sich bis

12. April 1946, 10.00 Uhr]

Einhundertsechster Tag.

Freitag, 12. April 1946.

Vormittagssitzung.

[Der Angeklagte Kaltenbrunner im Zeugenstand.]

DR. KAUFFMANN: Herr Vorsitzender! Gestern wurde der Fall von Sagan von dem Angeklagten behandelt. Er hat darüber, was seine eigene Beteiligung anbelangt, nur mit wenigen Sätzen gesprochen.

Die Anklagebehörde geht davon aus, daß er unmittelbar beteiligt war, und zwar auch schon vor der Erschießung der Flieger. Die beiden Zeugen Westhoff und Wielen haben nach meiner Auffassung das Beweisergebnis zugunsten des Angeklagten geändert.

Ich bitte nun das Gericht, mir zu sagen, ob der Angeklagte noch sich darüber auslassen soll, in welcher Weise er aktiv an dieser Sache beteiligt war oder ob dem Gericht die Behandlung der Sache genügt.

VORSITZENDER: Der Gerichtshof ist der Ansicht, daß der Angeklagte, wenn er Tatsachen, die damit im Zusammenhang stehen, kennt, aussagen soll; er braucht nicht mehr als unbedingt notwendig auf Einzelheiten einzugehen, aber mit Rücksicht auf Wielens Zeugenaussage glaube ich, daß er darüber sprechen sollte.

DR. KAUFFMANN: Sie haben gestern bekundet, erstmals nach dem Fall Sagan davon Kenntnis bekommen zu haben. Bleiben Sie heute dabei?

KALTENBRUNNER: Ja.

DR. KAUFFMANN: In welcher Weise sind Sie dann später mit dem Fall Sagan betraut worden und was haben Sie in dem Fall Sagan getan?

KALTENBRUNNER: Ich bin mit dem Fall Sagan nie betraut worden, sondern ich habe zirka sechs Wochen nach diesem Ereignis davon Kenntnis bekommen. Ich war zur Zeit der Flucht der Fliegeroffiziere, zur Zeit der Befehlsgebung, die meiner Ansicht nach den Weg Hitler-Himmler-Müller-Nebe gegangen ist, vielleicht auch Himmler-Fegelein-Nebe, das weiß ich nicht, nicht in Berlin anwesend, sondern in Ungarn mit verschiedenen Zwischenstationen, wie zuletzt in Dahlem bei Reichsminister Speer.

Ich bin am 2. oder 3. April nach Berlin zurückgekommen. Zu diesem Zeitpunkt hatte mir noch niemand davon Meldung oder Mitteilung gemacht. Ich habe erstmals von der Affäre gehört, als das Auswärtige Amt Vorstellungen erhob, beziehungsweise von Nebe und von Müller Aufklärung verlangt hat, damit es eine Note beantworten könnte, die, glaube ich, durch die Schutzmacht an das Auswärtige Amt gerichtet war. Die Darstellung des Zeugen General Westhoff ist meiner Ansicht nach irreführend. Er sagte etwa, zirka vier Wochen nach der Erschießung sei er bei einem anderen Gespräch mit mir auch auf den Fall Sagan gekommen. Ich glaube, daß es mindestens sechs Wochen nachher gewesen sein müßte. Es müßte sich feststellen lassen, wann das Auswärtige Amt die Anfrage gerichtet hat, dann wäre der Zeitpunkt vollkommen klar feststellbar.

DR. KAUFFMANN: Als Sie dann später mit Müller und Nebe sprachen, was wurde bei dieser Besprechung als Tarnung besprochen und ausgedacht?

KALTENBRUNNER: Es wurde weder eine Tarnung ausgedacht in unserem Amt noch besprochen, sondern als Müller und Nebe erklärten, dem Auswärtigen Amt Rede und Antwort stehen zu müssen und mir aus diesem Grunde zum ersten Male von dem fürchterlichen Befehl Kenntnis gaben, fragte ich sie, wer hat Ihnen das befohlen, worauf sie mir erwiderten: Himmler. Ich sagte ihnen, sie mögen sich sofort auch daher an diesen Auftraggeber richten und mögen ihn fragen, wie nunmehr der Fall weiter zu behandeln sei.

Ich lehnte jeden Konnex mit dieser Sache ab, denn sie war mir bis dahin unbekannt und zu schmutzig.

DR. KAUFFMANN: Ist da nicht gesprochen worden, man wolle angeben, die Flieger seien durch Bomben umgekommen oder sie seien auf der Flucht erschossen worden? Was wissen Sie in dieser Beziehung? Der Zeuge Schellenberg hat diese angeblichen Gespräche als Zeuge bekundet.

KALTENBRUNNER: Solche Worte mögen gefallen sein. Es ist ja die ganze Großfahndung, die gelaufen ist, dargestellt worden. Es sind bei dieser Großfahndung Erschießungen vorgekommen. Es sind bei dieser Großfahndung auch Deutsche erschossen worden. Es ist ein SS-Oberführer im Elsaß erschossen worden als er bei einer Ortssperre, die im Zuge dieser Großfahndung errichtet war, auf das Haltesignal nicht angehalten hat. Es sind auch, wie mir gesagt wurde, von den Fliegern zwei oder drei Männer durch Bomben getötet worden. Ich glaube, es war in einer Ostseestadt, in Kiel oder Stettin. Es sollen bei diesem Unglück auch zwei Kriminalbeamte ums Leben gekommen sein, deren Witwen später Pension bezogen haben. Auch das müßte sich feststellen lassen. In diesem Zusammenhang ist bestimmt auch von Bomben, von Verlusten durch Bomben gesprochen worden, aber von einer Tarnung dieses gesamten Vorfalles wurde bei uns im Amt nicht gesprochen, sondern jedenfalls ist die Antwort bei Himmler im Hauptquartier von Müller und von Nebe mit Himmler fertiggestellt worden. Diese beiden sind sofort nach der Anfrage des Auswärtigen Amtes zu Himmler ins Hauptquartier geflogen, das weiß ich.

DR. KAUFFMANN: Wollen Sie also damit sagen, daß die Erklärung, die Flieger seien durch Bomben umgekommen oder auf der Flucht erschossen worden, nicht von Ihnen stammt?

KALTENBRUNNER: Nein, das stimmt nicht, das stammt nicht von mir.

DR. KAUFFMANN: Die Anklage macht Ihnen im Rahmen der Kirchenpolitik des Amtes IV folgendes zum Vorwurf:

Es seien die sogenannten Bibelforscher häufig zum Tode verurteilt worden, und zwar lediglich deshalb, weil sie aus ihrer inneren Überzeugung heraus es ablehnten, irgendwelchen Kriegsdienst zu tun.

Ich frage Sie, ist Ihnen dieser Sachverhalt bekannt, und in welcher Weise haben Sie an dieser Frage mitgewirkt?

KALTENBRUNNER: Die deutsche Rechtsprechung hatte als Grundlage zum Vorgehen gegen die Sekte der Bibelforscher meines Wissens das Gesetz zum Schutz der Wehrkraft des deutschen Volkes genommen. In diesem Gesetz wird jeder mit Freiheits- oder Todesstrafe bedroht, der die Wehrkraft des deutschen Volkes schädigt dadurch, daß er den Kriegsdienst verweigert. Auf Grund dieser gesetzlichen Bestimmungen haben die Gerichte, sowohl Militärgerichte als auch Zivilgerichte, auch Todesurteile gegen Bibelforscher ausgesprochen. Todesurteile durch die Geheime Staatspolizei sind natürlich nicht erfolgt. In diesem Zusammenhang ist wiederholt von einer unbilligen Härte gegenüber glaubensbedingter Einstellung dieser Sektenangehörigen gesprochen worden. Ich habe sowohl an die Parteikanzlei, als an das Justizministerium, als an Himmler, als in meiner Nachrichtenerstattung an Hitler, auf diesen Umstand hingewiesen, und habe in mehreren Besprechungen bei Thierack verlangt, daß diese Art Rechtsprechung eingestellt werde.

Der Erfolg ist in zwei Stufen eingetreten. Sofort bei der ersten Besprechung, nach Rücksprache Thieracks bei Bormann und bei Hitler, bei dem er allerdings nicht vorgekommen war, wurde eine Weisung an die Oberstaatsanwaltschaften herausgegeben, daß bereits gesprochene Urteile zu inhibieren seien. Bei einer zweiten Besprechung konnte ein weiterer Schritt erfolgen, nämlich der, daß überhaupt die Staatsanwaltschaften Weisung bekamen, keine Todesurteile mehr zu fordern. Die dritte Stufe ist die gewesen, daß Bibelforscher nicht mehr vor Gericht gestellt wurden. Ich halte es für einen ausgesprochenen Erfolg meiner persönlichen Intervention bei Thierack, und, wie später dann auch bei Hitler selbst davon gesprochen worden ist, daß diese Rechtsprechungsart gegen diese Sekten restlos beseitigt worden ist.

DR. KAUFFMANN: Ich lege nunmehr ein Dokument vor, 1063...

KALTENBRUNNER: Ich bitte, dazu ergänzend noch folgendes sagen zu dürfen: Dieser Vorgang und diese Änderung in der deutschen Rechtsprechung ist auch damals schon im Ausland bekanntgeworden. Ich weiß genau noch, daß sich bei mir ein Schwede, ein sehr berühmter Mediziner, persönlich bedankt hat und erklärt hat, diese Tat sei in Schweden wohl bemerkt worden.

VORSITZENDER: Es ist wirklich unnötig, so in Einzelheiten zu gehen, daß der Angeklagte erzählt, was ein Schwede außerhalb Deutschlands von seinen Handlungen dachte.

DR. KAUFFMANN: Ich lege nunmehr Dokument 1063 (d)-PS, US-219 vor. Es ist eine Anordnung des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD vom 17. Dezember 1942, ein geheimes Schreiben. Es richtet sich an alle Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD und nachrichtlich an Pohl, an die Höheren SS- und Polizeiführer und die Inspekteure der Konzentrationslager. Es betrifft eine Anordnung, wonach mindestens 35000 arbeitsfähige Personen bis spätestens Ende Januar 1943 in Konzentrationslager einzuliefern seien. Das Schreiben trägt die Unterschrift: »Müller«. Ich frage Sie nun, ist Ihnen dieses Schreiben oder überhaupt ein solcher Vorgang bekannt?

KALTENBRUNNER: Mir ist weder das Schreiben noch der Vorgang bekannt. Aus dem Datum ist ja selbst ersichtlich...

VORSITZENDER: Wollen Sie uns bitte noch einmal die Nummer sagen?

DR. KAUFFMANN: Dokument 1063 (d)-PS, US- 219.

KALTENBRUNNER: Aus dem Datum des Schreibens ist ersichtlich, daß es vor meiner Dienstübernahme erlassen worden ist. Es ist mir auch nachher nicht zur Kenntnis gebracht worden, und die Unterschrift lautet »Müller«, der im Auftrage, wie aus Zeile 2 hervorgeht, Himmlers gehandelt hat. Es ist aber ein typischer Fall des Beweises, wie unumschränkt Müller Vollmachten und Vertrauen gehabt hat, wenn er solche Erlasse herausgeben konnte.

Aus dem ganzen Sachverhalt entnehme ich auch, es ist hier ein Termin Ende Januar 1943 gestellt, daß mir dieser Fall nicht vorgetragen worden ist und sein konnte.

DR. KAUFFMANN: Die Anklage macht Sie in folgendem Zusammenhang verantwortlich: Es bestand eine Vereinbarung zwischen dem früheren Justizminister Thierack und Himmler vom 18. September 1942, wonach Juden, Polen und so weiter einem polizeilichen Strafverfahren unterworfen werden sollten an Stelle der ordentlichen Gerichtsbarkeit. Ich frage Sie:

Ist Ihnen eine solche Vereinbarung bekanntgeworden; wenn ja, welche Versuche haben Sie unternommen, um die ordentliche Gerichtsbarkeit, soweit irgend möglich, wieder einzuführen?

KALTENBRUNNER: Eine solche Vereinbarung zwischen Thierack und Himmler ist mir nicht bekannt. Sie ist, wie Sie sagten, im Herbst 1942, glaube ich, geschlossen worden. Ich habe aber wiederholt und immer wieder in der Richtung gearbeitet und Vorschläge gemacht, jede Polizeigerichtsbarkeit zugunsten eines ordentlichen Verfahrens aufzuheben. Ich bin Jurist und habe aus diesem Grunde vor den Gerichten mehr Achtung besessen als Himmler. Dies war einer der Hauptgründe dafür, daß wir uns nie verstanden haben, und einer der wichtigsten Auseinandersetzungspunkte in unserer ersten Besprechung schon 1942 in Berchtesgaden. Ich verstehe auch Thierack nicht, daß er eine solche Vereinbarung mit Himmler geschlossen hat, weil er später, wie ich selbst weiß, wiederholt gegen die Polizeigerichtsbarkeit aufgetreten ist.

DR. KAUFFMANN: Ich komme nunmehr zu der Frage, ob Sie von der Vernichtung des Warschauer Ghettos Kenntnis gehabt haben, die im Jahre 1943 stattfand. Es liegt darüber ein Bericht vor des SS- und Polizeiführers in Warschau, namens Stroop, an den Polizeigeneral Krüger über die sogenannte Lösung der Judenfrage in Galizien.

Ich frage Sie nun: Wann haben Sie von dieser Lösung der Judenfrage in Galizien Kenntnis erhalten und haben Sie alle Möglichkeiten ausgeschöpft, um diese Lösung nach Möglichkeit zu verhindern?

KALTENBRUNNER: Ich muß hier zuerst erklären, daß es der mir vielleicht zu wenig bekannte, aber ungeheure Machtapparat Himmlers gewesen ist, den er sich durch die direkte Unterstellung der Höheren SS- und Polizeiführer in den besetzten Gebieten geschaffen hatte; den Höheren SS- und Polizeiführern, zum Beispiel in diesem Fall im Generalgouvernement Krüger, sind SS- und Polizeiführer unterstanden, also dieser Stroop, und von einer Aktion, die von Himmler über Krüger zu Stroop befohlen gewesen ist, ist keine Reichsstelle weder vorher noch nachher beteiligt oder verständigt worden. Von einem solchen Befehl hat Berlin auch bestimmt vorher nichts gewußt. Es ist nachher, wie lange nachher kann ich nicht sagen, über das Warschauer Ghetto im In- und Ausland gesprochen und geschrieben worden, und es sind die größten Vorwürfe vom Ausland erhoben worden. Ich habe schon gestern hier begonnen, darzustellen, daß ich dem Reichsführer Himmler in diesem Zusammenhang die ersten dokumentarischen Unterlagen übergab, die ich für seine Maßnahmen und Politik in der Hand hatte, nach meinem Führervortrag, den ich im November 1943 gehalten habe. Ich habe mit ihm in diesem Zusammenhang auch bestimmt von Warschau gesprochen, als einem der Vorwürfe, die gegen ihn und seine Judenendlösung erhoben werden im Auslande.

DR. KAUFFMANN: Wann lag dieser Vortrag zeitlich im Verhältnis zu dieser Judenaktion in Galizien?

KALTENBRUNNER: Ich weiß nicht mehr, wann diese Aktion gewesen ist; mein Vortrag zuerst bei Hitler und dann einen Tag später bei Himmler war im November 1943.

DR. KAUFFMANN: Ich komme dann zu einem von der Anklage bereits erwähnten Dokument L-53, US- 291. Die Anklage macht den Angeklagten als Chef der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes verantwortlich für die Räumung, wie es heißt, von Sipo- und SD-Gefangenenlagern und Konzentrationslagern. Es handelt sich bei diesem Dokument um einen Brief des Kommandeurs der Sicherheitspolizei und des SD in Radom vom 21. Juli 1944. Danach hat der Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD des Generalgouvernements angeordnet, daß alle die genannten Gefängnisse geräumt und die Insassen »liquidiert« werden sollen. Sehen Sie sich dieses Dokument an, Absender und Unterschrift, und geben Sie dann eine Erklärung hierzu ab, besonders zu der Frage Ihrer Kenntnis von diesen Vorgängen.

KALTENBRUNNER: Ich verweise wieder auf das eben Gesagte. Dieser Befehlsweg liegt im Bereich eines Höheren SS- und Polizeiführers eines besetzten Gebietes. Der Befehlsweg – Himmler, Höherer SS- und Polizeiführer, sein Sachbearbeiter, sein Befehlshaber und Kommandeur der Sipo und SD – hat mit einer zentralen Befehlsgebung aus Berlin auch nicht das geringste zu tun.

DR. KAUFFMANN: Sie wollen also sagen, daß diese Höheren SS- und Polizeiführer unmittelbar Himmler unterstanden?

KALTENBRUNNER: Jawohl.

DR. KAUFFMANN: Wollen Sie auch weiter sagen, daß Sie als Chef des Reichssicherheitshauptamtes keine Möglichkeit hatten, in Befehle und Anordnungen solcher Höherer SS- und Polizeiführer einzugreifen?

KALTENBRUNNER: Das war ausgeschlossen, denn sie sind Himmler unmittelbar unterstanden. Ich konnte ja auf keinem anderen Wege gegen solche Männer vorgehen, dies wird bei der Vernehmung des Angeklagten Frank unbedingt in Erscheinung treten. Ich habe selbstverständlich wiederholt nachrichtendienstlich von Entgleisungen oder Verbrechen solcher Befehlswege gehört und habe zum Beispiel gegen die Person Krüger im Generalgouvernement auf das heftigste Stellung genommen. Es ist auch auf mich zurückzuführen gewesen, daß Krüger von seinem Posten aus Krakau entfernt werden mußte; das muß sich auch aus dem Tagebuch Franks ergeben.

DR. KAUFFMANN: Ich komme zu einem weiteren Dokument 1573-PS, US-498. Die Anklagebehörde macht den Angeklagten als Chef des Reichssicherheitshauptamts dafür verantwortlich, daß in Abänderung der bisherigen Methoden Zwangsarbeiter in die Rüstungen verbracht worden seien. Das vorliegende Dokument ist ein Geheimbefehl, der wiederum von Müller unterzeichnet ist. Er richtet sich an alle Polizeistellen; das Datum ist 18. Juni 1941. Der Befehl betrifft Maßnahmen gegen die aus dem großrussischen Raum stammenden Emigranten und Zivilarbeiter. Danach sollen zur Verhinderung der eigenwilligen Rückkehr und zur Verhinderung von Störungsversuchen die betreffenden Personen gegebenenfalls in Haft genommen werden. Diese Leute durften bis auf weiteres ihren Aufenthaltsort nicht mehr verlassen, es sei denn mit Genehmigung der Sicherheitspolizei, und unerlaubtes Verlassen des Arbeitsplatzes wurde mit Festnahme bedroht. Sind Ihnen derartige Vorgänge bekannt?

KALTENBRUNNER: Nein, ich kann auch hier nur darauf verweisen, daß dies ein Befehl Müllers, erlassen eineinhalb Jahre vor meiner Beauftragung, ist. Er hat in seiner unmittelbaren Unterstellung zu Himmler und in seinem ungeheuren Macht- und Vollmachtsraum keinen Anlaß gefunden, mich hiervon auch später zu unterrichten.

DR. KAUFFMANN: Wie ist es zu erklären, daß Müller überhaupt in der Lage war, eine derartige Machtbefugnis zu entwickeln und auch während Ihrer Zeit 1943 bis 1945 weiter aufrechtzuerhalten, ohne daß Sie die Möglichkeit hatten, diesen Mann abzustoppen? Ich frage Sie deshalb: War Ihnen grundsätzlich bekannt, daß Müller diese Machtbefugnis innehatte? In diesem Zusammenhang wollen Sie dem Gericht sagen, wie groß das Amt IV der Geheimen Staatspolizei war, und wie es möglicherweise zu erklären ist, daß Sie über diese Hunderte und Tausende Befehle und Anordnungen nicht orientiert wurden?

KALTENBRUNNER: Müller war Chef des Geheimen Staatspolizeiamtes. Wann er es geworden ist, weiß ich nicht, ich muß annehmen, es war schon im Jahre 1933/34 oder spätestens 1935. Aber schon viel früher hat er, wie ich heute weiß, engste Beziehungen zu Himmler, später zu Heydrich gehabt. Er ging aus der Bayerischen Landespolizei hervor, wo ihn Himmler kennenlernte. Er hat sein persönliches Vertrauen mindestens zwölf oder fünfzehn Jahre lang besessen, er hat mit ihm jede Aktion, die Himmler in seinem Machtdrang Oder in seiner Zielsetzung als Chef der Deutschen Polizei auf staatspolizeilichem Gebiete befohlen hat, mitgemacht und durchgeführt. An diesem Vertrauensverhältnis ist, möchte ich sagen, zwölf oder fünfzehn Jahre gebaut worden, und es ist unerschütterlich geblieben bis zum letzten Tage des Krieges. Müller ist ja auch in Berlin geblieben, nachdem er Befehl hatte, bei Himmler zu bleiben. Himmler hat sich auf ihn als sein blindes Werkzeug und Vertrauensinstrument allein abgestützt.

VORSITZENDER: Dr. Kauffmann! Er scheint nicht die Frage zu beantworten, die Sie gestellt haben, oder besser gesagt die Fragen, denn Sie haben mehrere Fragen gestellt. Die wesentliche Frage lautet, ob er von den Handlungen Müllers Kenntnis hatte. Er hält uns jetzt eine lange Rede darüber, welches Vertrauen Himmler in Müller setzte. Er hat bis jetzt noch nichts anderes gesagt.

DR. KAUFFMANN: Herr Präsident! Ich glaube, daß gerade diese Frage doch etwas ausführlicher behandelt werden sollte, denn was der Gestapo und Müller zur Last gelegt wird, wird auch dem Angeklagten als Chef der Organisation zur Last gelegt.

VORSITZENDER: Ich wollte Sie darauf aufmerksam machen, daß Sie dem Angeklagten verschiedene Fragen in einer Frage gestellt haben. Die Hauptfrage war, ob der Angeklagte etwas darüber wußte, daß Müller diese Vollmachten hatte und auf Grund dieser Vollmachten handelte.

DR. KAUFFMANN: Beantworten Sie diese Frage jetzt sogleich kurz und klar.

KALTENBRUNNER: Das Verhältnis zwischen Himmler und Müller war ein so unmittelbares, daß er keinen Anlaß gehabt hat, mir irgendwelche Berichte zu machen. Ich habe keine Kenntnis gehabt, und Himmler hat ausdrücklich schon im Dezember 1942 erklärt, daß Amtschef IV und V ihm unmittelbar unterstellt bleiben, wie es seit dem Tode Heydrichs gewesen sei.

DR. KAUFFMANN: Nun wird man Ihnen vorhalten, daß auf Grund gewisser Zeugenaussagen und sonstiger Beweismittel davon ausgegangen werden muß, daß Amtschefs-Besprechungen zwischen Ihnen und Müller stattgefunden haben, und daß es unwahrscheinlich erscheint, daß Sie in großen Zügen nicht über das orientiert gewesen sind, was Müller dekretiert hat. Ist dieser Vorwurf zunächst nicht berechtigt?

KALTENBRUNNER: Er scheint berechtigt zu sein, er ist es aber nicht. Was hier Amtschefs-Besprechungen genannt wird, war ein nicht jeden Tag, sagen wir drei bis vier Male wöchentlich, gemeinsames Mittagessen mit Amtschefs und Adjutanten und zufällig in Berlin anwesenden Gästen. Schon dieser persönliche Rahmen hat es ausgeschlossen, daß interne oder gar geheime Vorgänge in dieser großen Personenzahl besprochen worden wären.

DR. KAUFFMANN: Waren Sie immer in Berlin in den Jahren 1943 und folgende, ich will besser sagen, hielten Sie sich in der Hauptsache in Berlin auf, oder hat Ihre Aufgabe als Chef des Nachrichtendienstes Sie häufig von Berlin weggeführt?

KALTENBRUNNER: Ich war sehr viel von Berlin abwesend. Ich glaube sagen zu können, die Hälfte der gesamten Arbeitszeit war ich nicht in Berlin. Konstant in Berlin war ich erst von dem Augenblick an, als das Hauptquartier nach Berlin verlegt worden ist.

DR. KAUFFMANN: Wann war das?

KALTENBRUNNER: In den Monaten Februar bis März 1945. Auch im April 1945 war ich in zwei großen Etappen vom 28. März bis 15. April, dann vom 19. April bis zum letzten Tag des Krieges nicht in Berlin. In den Jahren 1943/44 kam ich praktisch erst im Mai 1943 nach Berlin, denn solange hatte ich ja meinen eigenen Apparat in Wien umzuorganisieren, neu auszurichten und nach Berlin zu übernehmen. Ich bin nur, glaube ich, in der ersten oder zweiten Februarwoche 1943 in Berlin geblieben, um die Antrittsbesuche zu machen, und in der Zeit von Mitte Februar 1943 bis Februar 1945 war ich mindestens die Hälfte der Zeit auf Reisen; ich habe über 400000 Flug- und Auto-Kilometer in meiner Tätigkeit zurücklegen müssen.

DR. KAUFFMANN: Und welches war Ihre Tätigkeit, wenn Sie nicht in Berlin waren? Hatten Sie in dieser Zeit keine unmittelbare Fühlung mit Müller?

KALTENBRUNNER: Mit Müller bestimmt nicht. Ich habe auf allen diesen Reisen im gesamten Reichsgebiet nicht eine einzige Dienststelle der Geheimen Staatspolizei betreten; eine Ausnahme bildet die Geheime Staatspolizei in Linz, wo ich meine Familie vorübergehend hatte, und wo ich Fernschreiben nach Berlin erledigen konnte, also aus rein technischen Gründen; ich hatte keine andere Fernschreibemöglichkeit von dort.

DR. KAUFFMANN: Ich bespreche nun einen Vorgang, der Ihnen von der Anklage zur Last gelegt wird. Es handelt sich mit wenigen Worten um folgenden Sachverhalt: Während der Unterdrückung der Warschauer Erhebung im Jahre 1944 sind Einwohner von Warschau in Konzentrationslager eingeliefert worden. Die Zahl wird von der Anklage mit etwa 50-60000 begrenzt. Weitere Deportationen sollen eingestellt worden sein, und zwar durch eine Intervention des Angeklagten Frank bei Himmler; Ihre Person sei insofern nun eingeschaltet worden, als der Angeklagte Frank und dessen Staatssekretär Bühler Sie gebeten hatten. Sie möchten die Leute aus dem Konzentrationslager herausnehmen und in ihre Heimat zurückschicken. Ich frage Sie zunächst, hat eine solche Besprechung mit diesem Gegenstand bei Ihnen stattgefunden?

KALTENBRUNNER: Es hat eine Besprechung zwischen mir und Bühler stattgefunden. Der Gegenstand ist ein bedeutend anderer, ich bitte ihn aufklären zu dürfen. Der sogenannte Warschauer Aufstand ist in rein militärischer Aktion niedergekämpft worden. Ich glaube, daß dieser Kampf unter der Führung des Chefs der Bandenkampfverbände, von dem Bach-Zelewski, gestanden hat. Welche Kampfverbände er bei sich gehabt hat, weiß ich nicht, ich muß annehmen, daß es gemischte Truppenverbände, Wehrmacht und Polizei gewesen sind. Eine Beteiligung meiner Dienststelle mit dieser rein militärischen Handlung ist von vornherein ausgeschlossen. Was Himmler und diese Truppenverbände mit den Gefangenen gemacht haben, ist mir selbstverständlich nicht berichtet worden.

Bühler kam nun aus einem ganz anderen Grunde zu mir. Frank hatte, ich glaube vor eineinhalb Jahren oder noch längerer Zeit, versucht, bei Hitler eine andere Politik im Generalgouvernement durchzukämpfen. Frank trat für eine Erteilung größerer Autonomie an das polnische Volk ein. Im Oktober 1944, ich glaube anläßlich eines polnischen Nationalfeiertages, plante nun Frank diese erweiterte Autonomie zu erteilen. Die Ablehnung Hitlers, geschürt durch Himmler, aber auch andere Faktoren, ist evident gewesen. Nun sandte er Bühler zu mir mit dem Ziele, daß ich nachrichtendienstlich Vorschläge in derselben Richtung mache, das heißt, Beteiligung der Polen an der Bezirksverwaltung und an der Regierungsspitze. Ich sagte beides Bühler zu. Er sagte weiter: Bei dieser Gelegenheit will Frank eine großzügige Amnestie in Polen erreichen, dazu gehört die Entlassung der Gefangenen aus dem Warschauer Aufstand. Können Sie uns dabei nicht helfen? Ich fragte ihn: Wo sind diese Gefangenen? Die hat Himmler jedenfalls ins Gefangenen- oder Konzentrationslager gegeben. Meine Antwort konnte nur gewesen sein: Dann hat er sie jedenfalls in der Rüstungsindustrie eingesetzt, da werden sie schwer herauszubekommen sein, aber auch ich werde für eine Amnestie eintreten. Das war meines Wissens der Sachverhalt.

DR. KAUFFMANN: Hätten Sie die Möglichkeit gehabt, unter Geltendmachung Ihres gesamten Einflusses eine Entlassung herbeizuführen?

KALTENBRUNNER: Nein, ich habe während meiner Amtstätigkeit, ich habe das auch wiederholt in der Voruntersuchung bekanntgegeben, mindestens tausend Einzelanträge auf Entlassungen bekommen und jeden einzelnen Fall Himmler vorgelegt oder Himmler zugehen lassen, meist vorgelegt, indem ich sie in meine Vortragsmappe gelegt habe und bei den periodischen Vorträgen bei Himmler sie zur mündlichen Kenntnis brachte.

Ich habe in vielleicht zwei Drittel aller Fälle einen Erfolg in der Richtung gehabt, daß er die Entlassung verfügte. In dem Ausmaß, wie Frank es über Bühler von Himmler erreichen wollte, hätte ich niemals die Entscheidungsmöglichkeit oder auch nur die Möglichkeit, eine Entscheidung herbeizuführen gehabt; sie ist allein bei Himmler gelegen gewesen und war bestimmt von der Politik, die er hinsichtlich Polen mit Hitler besprach.

DR. KAUFFMANN: Ich komme nun dazu, Ihnen eine Bekundung des Zeugen Schellenberg vorzuhalten. Dieser Zeuge hat am 3. Januar hier vor Gericht erklärt, daß die Räumung des Konzentrationslagers Buchenwald von Kaltenbrunner angeordnet worden sei. Kaltenbrunner habe erklärt, ja, das sei richtig, es handle sich bei dieser Räumung um einen Führerbefehl, der auch ihm, Kaltenbrunner, vom Führer bestätigt worden sei. Geben Sie hierzu eine Erklärung ab?

KALTENBRUNNER: Die Aussage ist unbedingt unrichtig. Sie ist schon deshalb unrichtig, weil Hitler ganz bestimmt eine Räumung oder eine Nichträumung von Konzentrationslagern nie befohlen hat, sondern eine solche Verfügung nur von Himmler stammen konnte.

VORSITZENDER: Hat Schellenberg ein Affidavit abgegeben oder war es eine Zeugenaussage?

DR. KAUFFMANN: Es war eine Zeugenaussage.

VORSITZENDER: Sie ist als Beweis vorgebracht worden, nicht wahr?

DR. KAUFFMANN: Ja, es ist eine Aussage eines Zeugen vom 3. Januar.

VORSITZENDER: Ja.

DR. KAUFFMANN: Wer hat denn einen solchen Befehl überhaupt erteilt?

KALTENBRUNNER: Es konnte sich doch nur um eine Befehlserteilung Himmlers selbst handeln, und diese Befehlsgebung ist ganz klar, Himmler-Pohl-Glücks- Lagerkommandant. Es ist nicht ausgeschlossen, daß Himmler diesen Befehl auch unmittelbar an den Lagerkommandanten gegeben hat. Das weiß ich nicht.

DR. KAUFFMANN: Eine Zwischenfrage: Haben Sie Kenntnis von diesem Befehl bekommen?

KALTENBRUNNER: Nein, ich habe weder Kenntnis bekommen noch wären diese Befehle in irgendeinen Zusammenhang zu mir persönlich zu bringen, weil ich ja genau das Gegenteil hinsichtlich Mauthausen befohlen habe, und warum ich über Mauthausen erstmals und einzig allein einen Befehl erteilen konnte, werde ich später erklären; das hängt mit meiner Vollmacht vom 19. April 1945 zusammen, bis dahin hatte ich überhaupt niemals die Möglichkeit gehabt, im Namen Himmlers einen solchen Befehl zu erteilen.

DR.KAUFFMANN: In dem gleichen Zusammenhang erwähne ich die Aussage des Zeugen Berger, die er hier am 3. Januar gemacht hat. Ich verlese einen oder zwei Sätze:

»Der Kommandant von Dachau«, sagt Berger, »oder sein Stellvertreter telephonierte um etwa 12.00 Uhr und er erklärte mir, er habe diese Order, nämlich die Räumungsorder von Kaltenbrunner erhalten, nachdem er vom Gauleiter von München, dem Reichskommissar, aufgefordert worden sei.«

Ich frage Sie, wissen Sie etwas von der Räumung Dachaus?

KALTENBRUNNER: Nein, diese Aussage Bergers ist deshalb unbedingt zu bezweifeln, weil er es gewesen ist, der von Himmler eine Vollmacht für Bayern und alle westlich davon liegenden Gebiete bekommen hat, und zwar am gleichen Tage, wie ich sie hinsichtlich Österreichs bekommen habe. Es wäre daher für mich...

DR. KAUFFMANN: Fiel das Konzentrationslager Dachau in diesen eben von Ihnen genannten Vollmachtsbereich Bergers oder fiel diese Stadt in Ihren Befehlsbereich?

KALTENBRUNNER: Dachau liegt ja bei München in Bayern, selbstverständlich gehörte der Befehlsbereich nur zu Berger.

DR. KAUFFMANN: Wurde Dachau überhaupt geräumt?

KALTENBRUNNER: Das weiß ich nicht, ich habe Bayern nie betreten seit dem 19. April.

DR. KAUFFMANN: Der Zeuge beruft sich auf das Datum vom 23. April 1945 oder etwas später, sagte er.

KALTENBRUNNER: Ja, das habe ich vergessen.

DR. KAUFFMANN: Wo waren Sie um diese Zeit?

KALTENBRUNNER: Ich bin am 19. April um 3.00 Uhr morgens von Berlin weggefahren über Prag nach Linz mit dem Ziele Innsbruck, um mich neuerlich mit dem Vertreter Burckhardts zu treffen. Ich habe von diesem Augenblick an weder von Berlin Verbindung weiterbekommen, noch jemals meinen Fuß nach Bayern gesetzt oder Befehle dorthin gegeben. Mein Aufgabengebiet hat an der Grenze Österreichs aufgehört.

DR. KAUFFMANN: Wie erklären Sie sich eine solche Aussage?

KALTENBRUNNER: Ich kann mir sie nicht anders erklären, als daß es sich um einen Irrtum handelt; wenn Berger mir gegenübergestellt wird, bin ich restlos überzeugt, daß es aufgeklärt werden kann.

DR. KAUFFMANN: Könnte es ein Räumungsbefehl mit der Unterschrift Himmlers gewesen sein?

KALTENBRUNNER: Ohne weiteres.

DR. KAUFFMANN: Sie stehen unter der Anklage, unter anderem sich des Verbrechens gegen den Frieden schuldig gemacht zu haben. Sagen Sie dem Gericht, ob und was Sie getan haben, um während Ihrer Amtszeit alles zu tun, um dem Krieg ein Ende zu bereiten.

KALTENBRUNNER: Meinen Auftrag übernahm ich am 1. Februar 1943. Die Situation, die ich im Reich angetroffen habe, war die, daß mit diesem Tage – oder genauer mit dem 2. Februar 1943, mit dem Fall von Stalingrad – der Krieg nach meiner Überzeugung für Deutschland als unbedingt verloren entschieden war. Die Zustände, die ich aus einer vollkommen anderen Atmosphäre aus Österreich kommend angetroffen habe, haben all dies nur bestätigt.

Ich erinnere daran, daß ich, ich glaube am 2. oder 3. Februar, im Auswärtigen Amt dem Staatssekretär Luther meinen Antrittsbesuch gemacht habe. Nichtsahnend unterhalte ich mich mit ihm von vormittags 11.30 Uhr ab bis 2.00 Uhr nachmittags über gemeinsame außenpolitische Nachrichtengewinnung. Nachmittags um 4.00 Uhr ist derselbe Staatssekretär Luther von der Staatspolizei verhaftet und in ein Konzentrationslager verbracht worden. Ich glaube, drastischer kann ich nicht erklären, in welche Situation ich versetzt worden bin, und wie solche Vorgänge...

VORSITZENDER: Worauf ist dies die Antwort? Auf welche Frage soll dies eine Antwort sein?

DR. KAUFFMANN: Sie müssen schneller auf den eigentlichen Punkt zu sprechen kommen. Die Frage war, was Sie getan haben, um dem Krieg ein möglichst rasches Ende zu geben.

KALTENBRUNNER: Ich könnte in dieser Richtung noch viele Faktoren anführen. Meine erste Handlung war die, daß ich sofort im Frühjahr 1943 – ich glaube, es war schon Februar 1943 – anregte, auf eine recht große Änderung der Kirchenpolitik zuzusteuern, um den Vatikan zu einer ersten Friedensmittlertätigkeit zu gewinnen. Das war meine erste Tätigkeit in dieser Richtung.

DR. KAUFFMANN: Ich nenne den Namen Dulles. Haben Sie mit diesem mittelbar oder unmittelbar in Verbindung gestanden und welchen Zweck hatte die Aufnahme dieser Verbindung?

KALTENBRUNNER: Ja, ich bin in Verbindung mit Mr. Dulles gestanden, und zwar über Höttl. Seit Mai 1943 habe ich mit Höttl und anderen die österreichischen politisch oppositionellen Kreise schrittweise gewonnen und ihre Friedensfühler nach dem Ausland kennengelernt. Auf diesem Wege ist der Beauftragte des Präsidenten Roosevelt für Mitteleuropa – ich glaube es war sein Wirtschaftsbeauftragter, ein Mr. Dulles – in der Schweiz mir berichtsmäßig in Erscheinung getreten.

DR. KAUFFMANN: Dazu eine Zwischenfrage: Was wäre geschehen, wenn Hitler oder Himmler von dieser Ihrer Haltung Kenntnis bekommen hätten?

KALTENBRUNNER: Mein Befehl an Höttl und mein Wissen um dessen Tätigkeit ist nach strenger Auslegung ein hochverräterisches gewesen, weil mir damals die Einstellung des Führers bekannt gewesen ist, die dahin ging, keinerlei Friedensfühler und keinerlei Friedensgespräche aufzunehmen. Diese Meinung hat Hitler mir gegenüber in Gegenwart eines gewissen Wolf erst am 15. April 1945 geändert gehabt.

DR. KAUFFMANN: Sind im Verlaufe dieser von Ihnen geschilderten sogenannten Friedenspolitik Reisen unternommen worden von einem Beauftragten in die Schweiz, um Verbindung mit dem genannten Mr. Dulles aufzunehmen?

KALTENBRUNNER: Ja, sehr viele Reisen, und zwar nicht nur durch Höttl, sondern durch mehrere andere Persönlichkeiten. Ich verweise zum Beispiel auf eine Besprechung, die ich mit einem Grafen Potocky hatte, und ich bat diesen, in solche Kreise vorzustoßen und die gleiche Information an anglo-amerikanische Kreise in der Schweiz weiterzuleiten.

DR. KAUFFMANN: Ich glaube, wir können dieses Thema verlassen. Das Wesentliche haben Sie nach meiner Auffassung berichtet.

KALTENBRUNNER: Es waren nicht nur diese Versuche gewesen, es sind noch viele andere gewesen.

DR. KAUFFMANN: Ich komme jetzt zu Ihren Beziehungen zum Präsidenten des Roten Kreuzes, Professor Burckhardt, und frage Sie, ist es richtig, daß Sie im Jahre 1945 eine Besprechung hatten mit Professor Burckhardt mit dem Ziel, diese Lager, Gefangenenlager, Konzentrationslager, dem Roten Kreuz zu öffnen, damit Medikamente und so weiter in diese Lager verbracht werden?

KALTENBRUNNER: Ja, ich habe diesen Weg mit Präsident Burckhardt lange gesucht, und es kam mir der Umstand zugute, daß er selbst um eine Begegnung mit Himmler gebeten hatte. Himmler hatte aber von Hitler nicht die Erlaubnis zu einer solchen Begegnung bekommen, und zwar deshalb nicht, weil er zur damaligen Zeit Befehlshaber an der nördlichen Weichselfront gewesen ist, und eine Begegnung mit Burckhardt nur in diesem Frontgebiet hätte stattfinden können. Ich habe daher versucht, eine Begegnung Burckhardts mit einer verantwortlichen Reichspersönlichkeit auf mich zu nehmen. Das ist mir nach langem Hin und Her trotz vieler Schwierigkeiten gelungen. Zur persönlichen Aussprache mit Burckhardt ist es am 12. März gekommen.

DR. KAUFFMANN: Kam eine Einigung zustande, und ist im Rahmen dieser Vereinbarung tatsächlich eine Hilfe geleistet worden und in welcher Weise?

KALTENBRUNNER: Es ist weitgehende Hilfe geleistet worden, und zwar ist ein Übereinkommen zustandegekommen, demzufolge alle ausländischen Zivilinternierten mittels des Roten Kreuzes aus allen Lagern des Reiches in die Heimat zu entlassen seien. Ich habe aber in erster Linie bei dieser Besprechung erreicht, daß durch Zusage an Burckhardt die maßgeblichen Stellen des Reiches so weitgehend präjudiziert wurden, daß sie nicht mehr von dieser Abmachung zurückstehen konnten, und darin habe ich den größten Erfolg mit Burckhardt gesehen.

DR. KAUFFMANN: Ist es richtig, daß Sie, um etwa 3000 französische und belgische Zivilinternierte durchzuschleusen durch die Front, damals mit dem Hauptquartier des Generals Kesselring in Verbindung getreten sind?

KALTENBRUNNER: Ich habe in einem Funkspruch das Hauptquartier gebeten, sowie englisch-amerikanischerseits die Bereitwilligkeit dazu vorlag, auch deutscherseits die Durchschleusung solcher Internierten durch die kämpfende Frontlinie zu gestatten.

DR. KAUFFMANN: Das genügt schon.

VORSITZENDER: Dr. Kauffmann, der Angeklagte hat den 12. März genannt, aber nicht angegeben von welchem Jahr.

DR. KAUFFMANN: Ich verstehe nicht... ja, 12. März.

VORSITZENDER: Welches Jahr?

DR. KAUFFMANN: 1945.