[Das Gericht vertagt sich bis 14.00 Uhr.]
1 In Anbetracht der Angriffe, die Dr. Seidl gegen das Dokument USSR-93 richtete, seien folgende Tatsachen festgestellt:
Das erwähnte Dokument wurde in einer Londoner Veröffentlichung »Nazi Culture in Poland« genau zitiert und wurde später in Warschau vom Englischen ins Deutsche übersetzt. Diese deutsche Rückübersetzung mit all ihren Fehlern wurde dem Gerichtshof in Nürnberg vorgelegt. Als Dr. Seidl der Originaltext gezeigt wurde und ihm die vorerwähnte Erläuterung gegeben wurde, erklärte er, daß er weiterhin keine Zweifel an der Authenzität dieses Dokuments mehr habe. Ein diesbezüglicher Brief wurde an den Generalsekretär des Internationalen Militärgerichtshofes gerichtet. [Errata, Bd. 23, S. 628]
Nachmittagssitzung.
VORSITZENDER: Mit tiefstem Bedauern hat der Gerichtshof vom Ableben des Chief Justice Harlan F. Stone vom Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten von Amerika Kenntnis genommen. Am stärksten wird sein Verlust in Amerika empfunden werden, wo er der Öffentlichkeit große Dienste geleistet hat. Es scheint aber angebracht, daß dieser Gerichtshof, zu dessen Mitgliedern auch Vertreter der Vereinigten Staaten zählen, dem amerikanischen Volke seine Anteilnahme zu diesem großen Verlust ausdrückt.
Nachdem er eine Zeitlang Dekan der Rechtsfakultät der Columbia-Universität war, wurde er im Jahre 1923 zum Attorney General der Vereinigten Staaten ernannt. Zwei Jahre später wurde er Richter und im Jahre 1941 Vorsitzender dieses Gerichtshofs. Die Pflichten dieses hohen Amtes erfüllte er mit größter Geschicklichkeit und getreu den hohen Traditionen.
Der Gerichtshof hat mich ersucht, seine Anteilnahme und sein Beileid zu diesem großen Verlust auszudrücken, den das amerikanische Volk erlitten hat.
Der Hauptanklagevertreter der Vereinigten Staaten, Herr Justice Jackson, ist Mitglied des Obersten Gerichtshofs, dessen Vorsitz Chief Justice Stone führte. Vielleicht möchte er einige Worte hinzufügen.
JUSTICE ROBERT H. JACKSON, HAUPTANKLÄGER FÜR DIE VEREINIGTEN STAATEN: Hoher Gerichtshof! Die Nachricht vom Hinscheiden des Chief Justice Stone erfüllt jeden Amerikaner hier in Nürnberg mit Trauer. Nicht nur, weil er das Oberhaupt des Rechtswesens in den Vereinigten Staaten war, sondern weil er so vielen unter uns ein persönlicher Freund war. Er hatte eine seltene Gabe für persönliche Freundschaften. Es gab keinen, der den jungen Leuten, die von Zeit zu Zeit nach Washington kamen, gütiger und aufgeschlossener gegenüberstand. Sie alle fanden in ihm einen Führer, einen Philosophen und einen Freund.
Ich weiß, daß nicht nur ich den Verlust eines persönlichen Freundes erlitten habe. Auch die amerikanischen Mitglieder des Gerichtshofs, Herr Biddle und Herr Parker teilen meine Gefühle. Viele unserer jüngeren Mitarbeiter standen in enger Verbindung mit dem Chief Justice, Verbindungen, die man kaum erwarten konnte, es sei denn, man hätte Harlan Stone persönlich gekannt. Er übernahm das Justizdepartement of Justice als Attorney General zu einer Zeit größter Schwierigkeiten. Er prägte ihm den Stempel seiner Rechtschaffenheit auf, einen Stempel, den es weiterhin trug, und die, wie wir wissen, zu der Tradition dieses Gerichtshofs gehört.
Als Richter dieses Gerichtshofs war er ein fortschrittlicher und vorurteilsloser Mann, der geduldig die Argumente beider Seiten anhörte, um dann mit der völligen Unparteilichkeit und Leidenschaftslosigkeit, die das Kennzeichen des gerechten Richters sind, zu seiner Entscheidung zu gelangen. Er führte den Vorsitz gerecht und freundlich gegenüber seinen Kollegen und denen, die vor ihm erschienen.
Ein Mann ist dahingegangen, der im öffentlichen Leben jene standhaften Eigenschaften verkörperte, die wir mit dem Begriff »New Englander« verbinden.
Seine Freunde finden ihren Trost darin: Er schied dahin genau so, wie er es sich gewünscht hatte; in vollem Besitz seiner Fähigkeiten und in Ausübung seiner Pflicht.
Ich sage dem Gerichtshof meinen tiefgefühlten Dank dafür, daß er von seinem Hinscheiden Kenntnis genommen und uns Gelegenheit gegeben hat, im Namen der amerikanischen Juristen unsere Würdigung seiner Fähigkeiten und seiner Charaktereigenschaften auszusprechen.
VORSITZENDER: Oberst Smirnow, bitte.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Herr Vorsitzender! Bevor ich weitere Fragen an den Zeugen richte, möchte ich die folgende Erklärung abgeben: Der Verteidiger des Angeklagten, Dr. Seidl, hat beim Zeugenverhör erklärt, daß ein Dokument, ein amtlicher Anhang zum Bericht der Regierung der Polnischen Republik, eine Fälschung sei. Dies Dokument zählt die von der Polnischen Republik erlittenen Verluste von kulturellen Wertgegenständen auf.
Die Anklagevertretung der Sowjetunion wünscht keine Polemik über dieses Thema, ersucht aber den Hohen Gerichtshof zur Kenntnis zu nehmen, daß dies ein amtlicher Anhang zum Bericht der Regierung der Polnischen Republik ist, und daß sie die Erklärung des Zeugen als eine Verleumdung betrachtet.
VORSITZENDER: [zum Zeugen gewandt] Sagten Sie darauf etwas?
BÜHLER: Ich wollte sagen, es war von einem Dokument die Rede, in welchem von der Aufzählung der Kunstschätze die Rede war.
VORSITZENDER: Oberst Smirnow! Handelt es sich um das Dokument, welches eine Liste von Kunstschätzen enthält?
BÜHLER: Nein, das meine ich nicht.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Nein, Herr Vorsitzender; es ist eine Aufstellung über die verlorengegangenen Kulturschätze. Es ist eine Liste von Bibliotheken und der Verluste, die diese Bibliotheken während der deutschen Herrschaft in Polen erlitten haben.
VORSITZENDER: Handelt es sich bei dem von Ihnen erwähnten Dokument um USSR-93?
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Es ist ein Anhang zum Dokument USSR-93, dem amtlichen Bericht der Polnischen Regierung.
VORSITZENDER: Es handelt von gewissen Weisungen. Das war das Beweisstück, das heute früh eingereicht wurde.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Nein, Herr Vorsitzender; es ist eine Liste der eingetretenen Verluste. Ein offizieller Anhang zum Bericht der Polnischen Regierung. Es enthält keine Weisungen, sondern die Angaben der Gesamtverluste, die die öffentlichen Bibliotheken in Polen erlitten haben.
VORSITZENDER: [zum Zeugen gewandt] Wollen Sie hierzu etwas sagen?
BÜHLER: Also, die Bezeichnung des Dokuments paßt nicht auf das von mir gemeinte Dokument. Das Dokument, das ich anzweifle, enthält Richtlinien über die deutsche Kulturpolitik im Generalgouvernement, befaßt sich nicht mit Kunstschätzen und nicht mit einer Aufzählung von Bibliotheksgütern.
VORSITZENDER: Ja. Ich habe dem, was Sie hier in der Vormittagssitzung vorbrachten, entnommen, daß die Ihrer Ansicht nach im Zusammenhang mit diesen Dokumenten erwähnten Weisungen anscheinend nicht ergangen sind oder daß Sie jedenfalls nichts davon gehört hatten und sie demnach für Fälschungen hielten.
BÜHLER: Ich habe das Dokument angezweifelt.
VORSITZENDER: Der Gerichtshof wird über das Dokument beraten.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Darf ich nun die nächste Frage stellen?
VORSITZENDER: Jawohl.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Sie behaupten, daß Sie persönlich, wie auch die Verwaltung des Generalgouvernements, keine engen Beziehungen zu der Tätigkeit der Polizei hatten. Habe ich Sie richtig verstanden?
BÜHLER: Darf ich die Frage nochmal hören?
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Sie behaupten, daß Sie persönlich, wie auch die Verwaltung des Generalgouvernements, keine engen Beziehungen zu der Tätigkeit der Polizei hatten. Habe ich Sie richtig verstanden?
BÜHLER: Wir hatten tägliche Verbindungen mit der Polizei, aber wir hatten gewaltige Meinungsverschiedenheiten; außerdem gehörte die Polizei nicht zu meinem Zuständigkeitsbereich. Der Polizeichef war mir in keiner Weise unterstellt.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Die Polizei gehörte also nicht zu Ihren Obliegenheiten? Stimmt das?
BÜHLER: Nein, sie gehörte nicht zu meinen Obliegenheiten.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Wie ist es dann zu erklären, daß niemand anders als gerade Sie erfolgreiche Verhandlungen mit der Polizei über die Ausnutzung der beweglichen Habe von Juden, die in den Konzentrationslagern umgebracht wurden, führten? Erinnern Sie sich an diese Verhandlungen?
BÜHLER: Ich habe nicht ganz verstanden.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Ich frage Sie, wenn Sie keine unmittelbaren Beziehungen zur Polizei hatten, wie können Sie dann erklären, daß gerade Sie erfolgreiche Verhandlungen mit der Polizei über die Ausnutzung der beweglichen Habe von Juden, die in den Konzentrationslagern getötet wurden, führten. Erinnern Sie sich an diese Verhandlungen mit der Polizei?
BÜHLER: Ich erinnere mich an keine solchen Verhandlungen. Solche Verhandlungen kann ich nicht geführt haben. Die Verwaltung war allerdings diejenige Behörde, die durch Verordnung des Vierjahresplans den Auftrag auszuführen hatte, das jüdische Vermögen zu beschlagnahmen.
OBERJUSTIZRAT SMIRNOW: Herr Vorsitzender! Ich bitte um die Erlaubnis, ein Dokument vorzulegen, das uns von der Amerikanischen Anklagevertretung übergeben wurde. Es ist das Dokument 2819-PS. Es ist eine von der Wirtschaftsabteilung der Verwaltung des Generalgouvernements herausgegebene Weisung an die Gouverneure von Warschau, Radom, Lublin und Galizien. Ich bitte, dieses Dokument vorlegen zu dürfen.
Ich zitiere aus dem Text des Dokuments folgenden Inhalt:
»Betrifft: Übergabe des beweglichen jüdischen Vermögens durch die SS an die Regierung.
Zu Ihrer Unterrichtung teile ich mit, daß am 21. 2. 1944 von Staatssekretär Dr. Bühler mit dem Höheren SS- und Polizeiführer, Obergruppenführer Koppe, in Gegenwart verschiedener Abteilungspräsidenten die Vereinbarung getroffen wurde, daß das bewegliche jüdische Vermögen, soweit es sich in Lägern befindet oder in Zukunft anfällt, von der SS der Regierung zur Verfügung gestellt wird. In Durchführung der getroffenen Vereinbarung habe ich veranlaßt, daß die Übernahme der in verschiedenen Lägern der SS befindlichen Waren in kürzester Zeit durchgeführt wird. Die aus Beschlagnahmen und Sicherstellungen herrührenden Bestände sind gleichfalls vom Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD an mich abgeführt worden. Ich bitte, sich mit dem örtlichen SS- und Polizeiführer in Verbindung zu setzen und eine Klarstellung vorzunehmen...«
Hier unterbreche ich das Zitat.