[Pause von 10 Minuten.]
VORSITZENDER: Möchte noch irgendein Verteidiger Fragen an den Zeugen richten?
[Keine Antwort.]
Will die Anklagebehörde den Zeugen im Kreuzverhör vernehmen?
JUSTICE JACKSON: Mit Erlaubnis des Gerichtshofs habe ich einige Fragen an Sie zu richten, Dr. Gisevius. Falls Sie diese, soweit möglich, mit Ja oder Nein beantworten, sofern Ihnen dies eine wahrheitsgetreue Antwort erlaubt, werden wir viel Zeit sparen.
Der Gerichtshof wird vielleicht wissen, welche Beziehungen Sie zur Anklagebehörde haben. Stimmt es, daß wir uns zwei Monate nach der Kapitulation Deutschlands in Wiesbaden trafen, und Sie mir Ihre Erlebnisse bei der Verschwörung schilderten, die Sie hier beschrieben haben?
GISEVIUS: Jawohl.
JUSTICE JACKSON: Und später wurden Sie hierher gebracht und von der Anklagebehörde sowie auch von Fricks und Schachts Verteidiger verhört?
GISEVIUS: Jawohl.
JUSTICE JACKSON: Nun, Ihre Ansicht, Ihre Meinung ist, wenn ich Sie richtig verstehe, die eines Deutschen, der glaubte, daß Treue zum deutschen Volke eine ständige Opposition gegen das Nazi-Regime verlangt. Ist das eine richtige Wiedergabe Ihres Standpunktes?
GISEVIUS: Jawohl.
JUSTICE JACKSON: Und Sie hatten große Erfahrung in Polizeiangelegenheiten in Deutschland?
GISEVIUS: Jawohl.
JUSTICE JACKSON: Wenn Ihre Putsche oder anderen Unternehmungen zur Erringung der Macht in Deutschland erfolgreich gewesen wären, hätte man Sie bei dem Neuaufbau mit der Führung der Polizei beauftragt, nicht wahr?
GISEVIUS: Jawohl, tatsächlich.
JUSTICE JACKSON: Entweder als Innenminister oder als Polizeikommissar oder wie man es auch genannt haben würde?
GISEVIUS: Jawohl, sicherlich.
JUSTICE JACKSON: Sie vertraten den Standpunkt, daß es nicht notwendig sei, Deutschland mit Konzentrationslagern und Gestapomethoden zu regieren, stimmt das?
GISEVIUS: Jawohl.
JUSTICE JACKSON: Und Sie sahen alle Mittel und Wege, durch welche Sie dem deutschen Volk Ihre Ansichten darlegen wollten, durch die Gestapomethoden – die das Nazi-Regime anwandte – zunichte gemacht, ist das tatsächlich so?
GISEVIUS: Jawohl.
JUSTICE JACKSON: Mit anderen Worten, es gab keine Möglichkeit für Sie, irgendeine Änderung in der deutschen Politik herbeizuführen, außer durch Aufstand, Mord oder dergleichen?
GISEVIUS: Nein, ich bin der Überzeugung, daß bis 1937 oder Anfang 1938 durchaus die Möglichkeit bestanden hätte, mit einem Mehrheitsbeschluß des Reichskabinetts oder durch einen Druck der Wehrmacht eine Änderung der Zustände in Deutschland herbeizuführen.
JUSTICE JACKSON: Sie bezeichnen 1937 als den Zeitpunkt, zu dem die Möglichkeit geschwunden ist, eine Änderung in Deutschland auf friedliche Weise herbeizuführen. Ist das richtig?
GISEVIUS: So würde ich es beurteilen.
JUSTICE JACKSON: Und es war erst nach 1937, daß Schacht Ihrer Gruppe beigetreten ist. Stimmt das?
GISEVIUS: Ja, soweit ich gesagt habe, hat die Gruppe sich erst 1937/38 formiert, aber Schacht hat mich beispielsweise 1936 schon mit Goerdeler zusammengebracht, und die Bekanntschaft zwischen Schacht und Oster bestand schon seit 1936. Und ebenso kannte Schacht viele andere Mitglieder der Gruppe natürlich seit langer Zeit.
JUSTICE JACKSON: Aber Schacht war erst nach 1937, erst nach der Putschgeschichte davon überzeugt, so wie ich Ihre Aussage uns gegenüber verstehe, daß er nicht imstande sein würde, Hitler auf friedliche Weise zu beseitigen. Stimmt das?
GISEVIUS: Auf welche Weise, auf friedliche Weise oder...
JUSTICE JACKSON: Auf friedliche Weise.
GISEVIUS: Doch, Schacht glaubte ja bis Ende 1937, es müsse eine solche legale Beseitigung Hitlers möglich sein.
JUSTICE JACKSON: Aber Ende 1937, wie Sie eben selber sagen, war die Möglichkeit einer friedlichen Beseitigung Hitlers unmöglich geworden. Stimmt das?
GISEVIUS: Nach unserem Dafürhalten, ja.
JUSTICE JACKSON: Wenn ich Sie nun recht verstanden habe, wandten Sie sich an die Generale, weil es außer der Armee keine andere Macht in Deutschland gab, die mit der Gestapo fertig werden konnte. Stimmt das?
GISEVIUS: Ja, ich würde diese Frage bejahen.
JUSTICE JACKSON: Das heißt, außer der Gestapo hatte dieses Nazi-Regime auch eine Privatarmee in Form der SS und zeitweise auch in Form der SA, nicht wahr?
GISEVIUS: Ja.
JUSTICE JACKSON: Und wenn Sie nun die Nazi- Regierung mit Erfolg zu bekämpfen hatten, dann brauchten Sie Leute, die nur in der Wehrmacht zu finden waren. Ist das richtig?
GISEVIUS: Ja, nur Leute, die in der Armee zu finden waren, aber wir bemühten uns ja gleichzeitig auch um gewisse Leute in der Polizei, und wir brauchten all die vielen anständigen Ministerialbeamten und überhaupt die breite Masse des Volkes.
JUSTICE JACKSON: Aber die Wehrmacht war die Machtquelle die imstande gewesen wäre, mit der SS und der Gestapo fertig zu werden, wenn die Generale damit einverstanden gewesen wären?
GISEVIUS: Das war unsere Überzeugung.
JUSTICE JACKSON: Und aus diesem Grunde versuchten Sie, sich der Unterstützung der Generale zu versichern und fühlten sich im Stich gelassen, als diese Ihnen schließlich ihren Beistand versagten?
GISEVIUS: Jawohl.
JUSTICE JACKSON: Und dann kam ein Zeitpunkt, da jeder, der Ihrer Gruppe angehörte, wußte, daß der Krieg verloren war. Stimmt das?
GISEVIUS: Jawohl.
JUSTICE JACKSON: Und das war vor den Anschlägen auf Hitlers Leben und anscheinend vor dem Schlabrendorff-Attentat und vor dem 20. Juli, daß der Krieg verloren war. Stimmt das?
GISEVIUS: Ich möchte klar herausstellen, daß in unserer Gruppe niemand war, der nicht bereits bei Kriegsausbruch wußte, daß dieser Krieg niemals von Hitler gewonnen werden würde.
JUSTICE JACKSON: Aber es wurde im Laufe der Zeit noch viel deutlicher, daß Deutschland nicht nur den Krieg nicht gewinnen konnte, sondern daß es materiell, als Folge des Krieges, zerstört werden würde. Nicht wahr?
GISEVIUS: Jawohl.
JUSTICE JACKSON: Sie hatten jedoch unter dem von der Nazi-Regierung geschaffenen System keine Möglichkeit, den Ablauf der Ereignisse in Deutschland durch etwas anderes als durch Mord oder Aufstand zu ändern. Ist das richtig?
GISEVIUS: Ja.
JUSTICE JACKSON: Und so mußten Sie zu diesen äußersten Maßnahmen greifen, da Sie wußten, daß Hitler nie mit den Alliierten Frieden schließen konnte. Stimmt das?
GISEVIUS: Jawohl.
JUSTICE JACKSON: Und Ihr Ziel war, Deutschland die letzten zerstörenden Schläge zu ersparen, die es vom deutschen Standpunkt aus erlitt. Stimmt das nicht?
GISEVIUS: Ich möchte doch sagen, daß wir eigentlich seit Kriegsausbruch nicht mehr allein an Deutschland gedacht haben. Ich glaube doch sagen zu dürfen, daß wir schwer trugen an der Verantwortung gegenüber Deutschland und gegenüber der Welt.
JUSTICE JACKSON: Gut. Was Sie versuchten, war, den Krieg zu Ende zu bringen, da Sie seinen Beginn nicht hatten verhindern können, nicht wahr?
GISEVIUS: Jawohl.
JUSTICE JACKSON: Und das war unmöglich, solange Hitler an der Spitze der Regierung war und diese Gruppe von Männern hinter ihm stand. Stimmt das?
GISEVIUS: Jawohl.
JUSTICE JACKSON: Es wurde noch ein weiterer Anschlag auf Hitlers Leben verübt, den Sie nicht erwähnt haben; gab es nicht eine Bombe, die, wie sich später herausstellte, eine kommunistische Bombe war?
GISEVIUS: Das war am 9. November 1939 im Bürgerbräukeller in München. Es war ein tapferer kommunistischer Einzelgänger.
JUSTICE JACKSON: Nun, und durch ein seltsames Zusammentreffen war zu keinem dieser Zeitpunkte, da Hitlers Leben in Gefahr stand, Göring oder Himmler anwesend, stimmt das?
GISEVIUS: Ja.
JUSTICE JACKSON: Haben Sie dieser Tatsache keine Bedeutung beigemessen?
GISEVIUS: Wir haben es manchmal bedauert. Beispielsweise wäre vielleicht das Attentat gelungen, wenn Göring und Himmler Hitler am 17. Juli assistiert hätten. Aber mit den Jahren war es ja so, daß diese Clique sich so separierte und so schützte, daß sie kaum noch gemeinsam irgendwo anzutreffen war. Und Göring war ja allmählich auch so in seinen Karinhaller Geschäften und Kunstsammlungen beschäftigt, daß er überhaupt kaum noch bei ernsthaften Beratungen aufzufinden war.
JUSTICE JACKSON: Nun, die Ermordung Hitlers hätte von Ihrem Standpunkt aus nichts ausgerichtet, wenn der Mann Nummer 2 an seine Stelle getreten wäre, nicht wahr?
GISEVIUS: Das war lange Zeit eine umstrittene Frage, weil Brauchitsch sich beispielsweise einbildete, mit Göring könne man zusammen ein Übergangsregime schaffen. Unsere Gruppe hat es immer abgelehnt, mit diesem Mann auch nur eine Stunde lang zusammenzukommen.
JUSTICE JACKSON: Was wollten Sie – falls es Ihnen gelungen wäre – mit den anderen Angeklagten machen – mit Ausnahme von Schacht –, die Sie alle, wie ich Ihren Ausführungen entnehme, als einen Teil der Nazi-Regierung betrachten?
GISEVIUS: Diese Herren wären außerordentlich schnell hinter Schloß und Riegel gewesen, und ich glaube, bis zu ihrer Aburteilung hätten sie nicht sehr lange zu warten brauchen.
JUSTICE JACKSON: Bezieht sich das auf jeden Mann auf dieser Anklagebank, ausschließlich Schacht?
GISEVIUS: Ja, auf jeden.
JUSTICE JACKSON: Das heißt, Sie und Ihre Gruppe betrachteten sie alle als einen Teil und einen wichtigen Teil der Nazi Regierung – als eine Nazi-Verschwörung. Ist das richtig?
GISEVIUS: Ich möchte mich auf das Wort »Nazi- Verschwörung« nicht festlegen. Wir betrachteten sie als die verantwortlichen Männer für all das unsagbare Elend, das durch diese Regierung über Deutschland und die Welt gekommen ist.
JUSTICE JACKSON: Ich möchte Ihnen jetzt einige Fragen über die Gestapo vorlegen. Sie haben im allgemeinen über die Verbrechen ausgesagt, die von dieser Organisation begangen wurden, und ich frage Sie jetzt, ob darin die Folterungen und Verbrennungen einer großen Anzahl von Menschen eingeschlossen sind?
GISEVIUS: Die Frage scheint nicht richtig durchgekommen zu sein.
JUSTICE JACKSON: Ich befrage Sie über die Verbrechen, die die Gestapo begangen hat, und frage, ob diese Verbrechen die Folterung und Verbrennung von Tausenden von Menschen umfaßte?
GISEVIUS: Jawohl.
JUSTICE JACKSON: Gehörte auch die rechtswidrige Verhaftung von Tausenden von unschuldigen Menschen dazu?
GISEVIUS: Jawohl.
JUSTICE JACKSON: Ihre Verschleppung in Konzentrationslager, wo sie gequält und geschlagen und getötet wurden?
GISEVIUS: Jawohl.
JUSTICE JACKSON: Hat die Gestapo Massenbeschlagnahmungen von Privateigentum vorgenommen?
GISEVIUS: Ja, in sehr großem Ausmaße. Man nannte dies »staatsfeindliches Vermögen«.
JUSTICE JACKSON: Hat die Gestapo Erpressungen an Juden und anderen Personen vorgenommen?
GISEVIUS: Haufenweise, millionenweise.
JUSTICE JACKSON: Wurden öffentliche Beamte, die zu bekannt waren, um ermordet zu werden, von der Gestapo derart belästigt und behindert, daß sie schließlich zurücktraten oder entlassen wurden?
GISEVIUS: Es wurde von der Gestapo jedes Mittel benutzt, vom Mord bis zu den eben geschilderten Erpressungen.
JUSTICE JACKSON: Es erhebt sich nun die Frage, ob die Mitglieder der Gestapo wußten, was die Gestapo tat. Wollen Sie bitte dem Gerichtshof sagen, wie es sich mit der Mitgliedschaft in dieser Organisation und der Kenntnis ihres Programms verhielt?
GISEVIUS: Ich habe bereits meine Aussage damit begonnen, daß jedes Mitglied der Gestapo eigentlich vom ersten oder zweiten Tage an sehen und wissen mußte, was in diesem Institut vor sich ging.
JUSTICE JACKSON: Nun, es gab einige Leute, die zu Beginn in die Gestapo aufgenommen wurden, die aus anderen staatlichen Behörden übernommen wurden und in gewissem Sinne unfreiwillige Gestapomitglieder geworden waren?
GISEVIUS: Ja, diese Gestapomitglieder wurden im Laufe des ersten Jahres als politisch unzuverlässig eliminiert.
JUSTICE JACKSON: Und der Übertritt fand statt, als Göring die Gestapo organisierte, nicht wahr?
VORSITZENDER: Was meinte der Zeuge mit dem Wort »eliminiert«?
JUSTICE JACKSON: Ich denke, eliminiert aus der Gestapo.
GISEVIUS: Sie wurden nach und nach aus dem Gestapodienst entlassen.
JUSTICE JACKSON: War man nach der Säuberungsaktion vom 30. Juni 1934 besonders bemüht, niemand in der Organisation zu haben, der mit ihrem Programm nicht einverstanden war?
GISEVIUS: Diese Versuche begannen seit dem 1. April 1934, als Himmler und Heydrich die Geschäfte übernahmen. Eigentlich wurde von da an schon kein Beamter mehr in die Gestapo hineingelassen, von dem sich nicht Himmler und Heydrich die Gesinnung versprachen, die sie für die richtige hielten. Es mag sein, daß in den ersten Monaten doch noch einige Beamte hineinkamen, die noch nicht von der SS durchgesiebt worden waren. Es war ja die Gestapo eine ziemlich große Behörde und selbstverständlich dauerte es eine Zeit, bis die SS ihre eigenen Kriminalbeamten erzogen und herangebildet hatte.
JUSTICE JACKSON: Auf jeden Fall kam doch einmal die Zeit, und ich bitte Sie, diese Zeit so genau wie möglich festzulegen, wo jedes Mitglied der Gestapo das verbrecherische Programm dieser Organisation kennen mußte?
GISEVIUS: Ich habe diese Frage sehr lange Jahre selber überlegt und mit Nebe durchgesprochen und mit meinen Freunden. In der Beantwortung liegt eine sehr große Verantwortlichkeit, und im Wissen um diese Verantwortlichkeit würde ich sagen, daß von Anfang 1935 spätestens an jeder wissen mußte, in was für eine Behörde er eintrat und was für Befehle er gegebenenfalls zu gewärtigen hätte.
JUSTICE JACKSON: Sie haben über die Untersuchungen ausgesagt, die Sie angestellt haben, als Sie mit der Polizeiverwaltung zu tun hatten; und Sie erwähnten den Reichstagsbrand. Sie haben uns aber nicht die Ergebnisse Ihrer Untersuchungen mitgeteilt. Wollen Sie uns das bitte sagen?
GISEVIUS: Um es kurz zu sagen, und um zunächst den Tatbestand zu geben, haben wir festgestellt, daß Hitler ganz allgemein den Wunsch nach einem großen Propagandacoup ausgedrückt hatte. Goebbels übernahm es, die nötigen Vorschläge hierfür vorzubereiten, und Goebbels war es, der den ersten Gedanken hatte, den Reichstag anzuzünden. Goebbels sprach hierüber mit dem Führer der Berliner SA-Brigade, Karl Ernst, und regte auch im einzelnen an, wie die Brandstiftung vorgenommen werden könnte.
Man wählte eine gewisse Tinktur, die jeder Feuerwerker kennt. Man verspritzt sie und sie entzündet sich nach einer gewissen Zeit, nach Stunden oder Minuten. Um in den Reichstag hineinzugelangen, benötigte man den Gang, der von dem Reichstagspräsidentenpalais in den Reichstag führte. Es wurde eine Kolonne von zehn zuverlässigen SA-Leuten bereitgestellt, und nunmehr wurde Göring aber alle Einzelheiten des Planes ins Bild gesetzt, so daß auch Göring zufällig am betreffenden Abend nicht eine Wahlrede hielt, sondern zu so später Stunde noch an seinem Schreibtisch im Innenministerium in Berlin saß.
Es wurde von Göring erwartet – und er sicherte dieses zu –, die Polizei im ersten Schock so zu instruieren, daß sie auf falsche Spuren gelenkt wurde. Man wollte von Anfang an dieses Verbrechen den Kommunisten in die Schuhe schieben, und in diesem Sinne waren auch jene zehn SA-Leute instruiert worden, die das Verbrechen durchzuführen hatten.
Dies ist in kurzen Worten der Hergang. Um zu sagen, wie wir die Einzelheiten erfuhren, habe ich nur noch hinzuzufügen, daß einer dieser zehn Mann, die die Tinktur zu verspritzen hatten, ein notorischer Krimineller war. Er wurde ein halbes Jahr später aus der SA ausgeschlossen, und als er die in Aussicht gestellte Belohnung nicht erhalten hatte, glaubte er, dem damals in Leipzig tagenden Reichsgericht seine Wissenschaft melden zu sollen. Er wurde einem Untersuchungsrichter vorgeführt; dieser setzte ein Protokoll auf. Die Gestapo erfuhr aber hiervon, der Brief an das Reichsgericht wurde abgefangen und vernichtet. Und jener SA-Mann mit Namen Rall, der es verraten hatte, wurde mit Wissen des Angeklagten Göring auf Anordnung des Gestapochefs Diels auf niederträchtige Weise ermordet. Anläßlich der Auffindung der Leiche kamen wir auf die Spur der ganzen Angelegenheit.
JUSTICE JACKSON: Was ist aus den zehn SA-Leuten geworden, die den Reichstag in Brand gesteckt haben? Ist noch irgendeiner von ihnen am Leben?
GISEVIUS: Soweit wir sie uns vorgemerkt hatten, ist keiner mehr am Leben. Die meisten wurden am 30. Juni unter dem Vorwand des Röhm-Putsches ermordet. Nur einer, ein gewisser Heini Gewähr, wurde in die Polizei als Polizeioffizier übernommen. Wir haben auch seine Spur verfolgt. Er ist im Kriege an der Ostfront als Polizeioffizier gefallen.
JUSTICE JACKSON: Ich glaube, Sie haben ausgesagt, daß Sie im Zusammenhang mit der Röhm-Affäre auch über die Morde Untersuchungen durchgeführt haben, die im Verfolg der Röhm-Affäre stattgefunden haben. Haben Sie nicht so ausgesagt?
GISEVIUS: Ich kann nicht direkt sagen: die Untersuchung durchgeführt, weil wir vom Innenministerium ja eigentlich ausgeschlossen waren von dieser ganzen Affäre. Die Dinge waren aber so, daß nach dem 30. Juni alle Hilferufe und alle Beschwerden der Betroffenen zu uns ins Innenministerium kamen, und daß wir während des 30. Juni durch die laufenden Funksprüche und durch gelegentliche Anwesenheit im Palais Göring, sowie durch die Unterrichtung durch Nebe, alle Einzelheiten erfuhren.
JUSTICE JACKSON: Wieviele Leute wurden ungefähr in dieser Säuberungsaktion umgebracht?
GISEVIUS: Genau haben wir diese Ziffer niemals in Erfahrung bringen können, aber ich schätze, daß nicht mehr als 150 bis 200 Menschen ums Leben gekommen sind. Das war für damalige Begriffe eine ungeheuerliche Anzahl.
Ich selber habe mit dem Justizminister Gürtner zusammen die Liste verglichen, die ihm von Hitler und Göring über die Anzahl der Toten gegeben worden war; und wir haben festgestellt, daß die Liste, die 77 Namen von Leuten enthielt, deren Ermordung angeblich rechtens war, fast um das Doppelte allein durch die Namen derer übertroffen wurde, die wir durch Anzeigen der Staatsanwaltschaft oder durch Hilferufe der Angehörigen an das Innenministerium unsererseits in Erfahrung gebracht hatten.
JUSTICE JACKSON: Haben Sie festgestellt, wer die Männer aussuchte, die bei dieser Säuberungsaktion ermordet wurden?
GISEVIUS: Zunächst haben wir festgestellt, daß von Himmler, Heydrich und Göring genaue Mordlisten aufgestellt worden waren; denn ich habe selber angehört im Palais Göring – und habe es von Daluege, der dort anwesend war, bestätigt erhalten, auch von Nebe, der von der ersten Sekunde an dabei war –, daß keiner der Ermordeten beim Namen genannt wurde, sondern man sagte nur, »Nummer soundso ist jetzt weg«, dann »Nummer soundso fehlt noch« und »Nummer soundso kommt gleich dran«.
Es ist aber zweifellos, daß bei dieser Gelegenheit Heydrich und Himmler auch noch eine Sonderliste hatten. Auf dieser Sonderliste standen mehrere Katholiken, Klausner und andere, und ich kann beispielsweise hier nicht unter Eid aussagen, ob die Ermordung Schleichers auf Geheiß von Göring erfolgte, oder ob das ein Mann von der Sonderliste Heydrich- Himmler war.
JUSTICE JACKSON: War der Angeklagte Frick über diese Tatsachen hinsichtlich des illegalen Verhaltens der Gestapo, von dem Sie wußten, genau unterrichtet?
GISEVIUS: Ja, ich mußte ihm ja jedes Material, das anfiel und das wichtig war, unterbreiten, und ich habe ja schon geschildert, daß wir alle diese Dinge an die Geheime Staatspolizei oder an die Innenministerien der Länder zur Berichterstattung wegsandten. Es war natürlich so, daß ich bei diesem Material nur das Wichtigste Frick persönlich vorlegen konnte. Ich schätze, daß ich täglich mehrere hundert solcher Beschwerden hatte; aber die wichtigsten Dinge mußte ich deswegen Frick vorlegen, weil er sie ja selber zu unterschreiben hatte; denn Göring beschwerte sich immer, sobald er sah, daß ein so junger Beamter Berichte und Ersuchen an das Staatsministerium und an ihn unterschrieb.
JUSTICE JACKSON: Wurde Frick über Ihre Schlußfolgerungen hinsichtlich der Röhm-Säuberungsaktion unterrichtet?
GISEVIUS: Ja, denn noch am Sonntag, während die Morde weitergingen, sprach ich ja mit Frick über die Ermordung von Strasser, Schleicher und Klausner und die vielen anderen Ermordeten, und Frick war besonders über die Ermordung von Strasser entrüstet, weil er sie als einen ganz persönlichen Racheakt von Göring und Himmler empfand. Ebenso war Frick über alle diese Ermordungen von Klausner, Bose, Edgar Jung und den vielen anderen, die unschuldig ermordet wurden, aufs höchste entrüstet.
JUSTICE JACKSON: Aber als Frick zusammen mit Hitler den Erlaß unterzeichnete, in dem diese Morde als rechtens erklärt wurden, und verfügte, daß keine strafrechtliche Verfolgung wegen solcher Morde stattfinden solle, wußte Frick von Ihnen doch genau, was passiert war, stimmt das?
GISEVIUS: Das wußte er von mir, er hat es selber gesehen. Zweifellos war die Geschichte des 30. Juni Frick bekannt.
JUSTICE JACKSON: Hat Frick jemals mit Ihnen über Himmler und Heydrich gesprochen und sie als schlecht, gefährlich und grausam bezeichnet?
GISEVIUS: Noch an jenem Sonntag, den 1. Juli, sagte mir Frick: Wenn Hitler nicht sehr bald mit der SS und Himmler genau dasselbe macht, was er heute mit der SA gemacht hat, dann wird er noch viel Böseres mit der SS erleben, als was er jetzt mit der SA erlebt hat. Ich war damals von dieser Voraussicht aufs tiefste betroffen, sowie, daß Frick das so offen mir gegenüber ausdrückte.
JUSTICE JACKSON: Aber, obgleich er diese Männer als gefährlich betrachtete, hat er sie später doch beide in sein Innenministerium berufen; nicht wahr?
GISEVIUS: Ernannt sind sie ja letztlich von Hitler worden; aber ich kann nur sagen, als ich mich von Frick nach meinem Ausscheiden aus dem Innenministerium verabschiedete im Mai 1935, da sagte mir Frick wörtlich folgendes: Er habe aus den ewigen Skandalen um meine Person gelernt, daß er von jetzt ab nur noch Parteigenossen ins Ministerium holen werde, und zwar möglichst solche mit dem Goldenen Parteiabzeichen. Es könne sein, daß im Zuge der Dinge er sogar gezwungen werden würde, Himmler in sein Ministerium hineinzulassen. Den Mörder Heydrich werde er auf keinen Fall in sein Ministerium hineinlassen. Das waren die letzten Worte, die ich mit Frick gewechselt habe.
JUSTICE JACKSON: Aber beide wurden dann in Ämter eingesetzt, die dem Gesetz nach ihm unterstanden; nicht wahr?
GISEVIUS: Ja, sie wurden Mitglieder des Reichsinnenministeriums und Frick blieb ihr Vorgesetzter.
VORSITZENDER: Sagten Sie, daß das die letzten Worte waren, die Sie mit dem Angeklagten Frick gewechselt hatten?
GISEVIUS: Jawohl, und das war 1935. Seitdem habe ich ihr nicht mehr gesehen und gesprochen.
JUSTICE JACKSON: Nach dem Jahr 1934 war Frick als Minister die Verwaltung und die Aufsicht über die Konzentrationslager übertragen; nicht wahr, Dr. Gisevius?
GISEVIUS: Meines Erachtens hatte der Reichsinnenminister von Anfang an die Verantwortung für alle polizeilichen Dinge im Reich also auch für die Konzentrationslager, und ich glaube nicht, daß man sagen kann, er habe sie erst seit 1934 gehabt.
JUSTICE JACKSON: Ich bin bereit, Ihre Richtigstellung anzunehmen. Ich lasse Ihnen nunmehr das Dokument 3751-PS der Vereinigten Staaten vorlegen, das noch nicht als Beweismittel eingereicht worden ist.