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[Dem Zeugen wird das Dokument ausgehändigt.]

Es ist ein Schreiben von Dr. Gürtner, dem Justizminister, an den Reichs- und Preußischen Minister des Innern, das heißt also von Ihrem Freund Dr. Gürtner an Frick, nicht wahr?

GISEVIUS: Ich glaube, gehört zu haben »Freund«. Gürtner hat sich im Laufe seiner Ministertätigkeit nicht so verhalten, daß ich ihn als meinen Freund betrachten möchte.

JUSTICE JACKSON: Nun lassen Sie uns etwas über Gürtner hören. Teilen Sie uns Gürtners Einstellung bei dieser Gelegenheit mit. Wir haben hier nämlich ein Schreiben, das offenbar von ihm stammt.

GISEVIUS: Gürtner?

JUSTICE JACKSON: Jawohl.

GISEVIUS: Gürtner hat um diese Zeit zweifellos sehr viel versucht, um die Grausamkeit in den Lagern aufzudecken und Strafverfahren einzuleiten. Überhaupt hat Gürtner in Einzelfällen sehr viel versucht. Nur hat er jenes Gesetz nach dem 30. Juni unterschrieben, daß alle diese Furchtbarkeiten rechtens seien, und Gürtner hat auch sonst nie die Konsequenz aus seinen Anschauungen gezogen. Aber gerade das Dokument, das Sie mir vorlegen, war ein solcher Versuch Gürtners und der vielen anständigen Beamten im Reichsjustizministerium, grundsätzlich die Frage des Gestapoterrors zur Sprache zu bringen. Soweit ich mich entsinne, ist das auch eines jener Schreiben, das wir unter der Hand vorher besprochen haben, um gewissermaßen eine Antwort zu provozieren.

JUSTICE JACKSON: Ich möchte nun einen Teil dieses Briefes ins Protokoll verlesen. Es wird US-828 und als solches wird es vorgelegt. Wollen Sie bitte den deutschen Text mitlesen und sehen, ob ich denselben richtig verlese.

»Sehr geehrter Herr Reichsminister! In der Anlage übersende ich erg. Abschrift eines Schreibens des Inspekteurs der Geheimen Staatspolizei vom 28. März 1935.

Das Schreiben gibt mir Veranlassung, grundsätzlich zu der Frage der Züchtigung von Häftlingen Stellung zu nehmen. Die zahlreichen, den Justizbehörden zur Kenntnis gekommenen Mißhandlungsfälle lassen drei verschiedene Anlässe für derartige Gefangenenmiß handlungen unterscheiden:

1. Prügel als Hausstrafe in Konzentrationslagern.

2. Mißhandlungen – meist von politischen Häftlingen – zur Erzwingung von Aussagen.

3. Mißhandlungen von Häftlingen aus reinem Mutwillen oder aus sadistischer Neigung.«

Ich möchte nicht die Zeit des Gerichtshofs damit in Anspruch nehmen, daß ich seine Erläuterungen zu Ziffer 1 oder Ziffer 2 verlese. Zu Ziffer 3 finden Sie im deutschen Text:

»Die Erfahrung der ersten Revolutionsjahre hat gezeigt, daß diejenigen Personen, die mit der Austeilung der Prügel beauftragt werden, meist bereits nach kurzer Zeit das Gefühl für Zweck und Sinn ihrer Handlungen verlieren und sich von persönlichen Rachegefühlen oder sadistischen Neigungen leiten lassen. So haben Angehörige der Wachmannschaft des früheren Konzentrationslagers Bredow bei Stettin eine Prostituierte, die mit einem der Wachmänner Differenzen hatte, völlig entkleidet und mit Peitschen und Ochsenziemern derartig geschlagen, daß die Frau noch 2 Monate später auf der rechten Gesäßhälfte 2 offene eiternde Wunden aufwies.«

Ich will nicht die Größe beschreiben, sie ist nicht so wichtig.

»Im Konzentrationslager Kemna bei Wuppertal wurden Häftlinge in ein enges Mannschaftsspind eingeschlossen und dann durch Einblasen von Zigarettenrauch, Umwerfen des Spinds und so weiter gequält. Zum Teil gab man den Häftlingen vorher Salzheringe zu essen, um so bei Ihnen ein starkes und quälendes Durstgefühl zu erzeugen. In dem Konzentrationslager Hohnstein in Sachsen mußten Häftlinge solange unter einem eigens zu diesem Zweck konstruierten Tropfapparat stehen, bis ihre Kopfhaut von den in gleichmäßigen Abständen herunterfallenden Wassertropfen schwere eitrige Verletzungen aufwies. In einem Konzentrationslager in Hamburg wurden vier Häftlinge tagelang – einmal drei Tage und Nächte, einmal fünf Tage und Nächte – ununterbrochen in Kreuzesform an ein Gitter gefesselt und dabei so dürftig mit trockenem Brot verpflegt, daß sie beinahe verhungerten.

Diese wenigen Beispiele zeigen ein derartiges Maß von jedem deutschen Empfinden hohnsprechenden Grausamkeiten, daß es unmöglich ist, hier irgendwelche Milderungsgründe in Erwägung zu ziehen.

Zusammenfassend darf ich Ihnen, sehr verehrter Herr Reichsminister, als dem für die Einrichtung der Schutzhaft und der Schutzhaftlager zuständigen Ressortminister, meine Stellungnahme zu den drei Punkten dahin darlegen.«

Anschließend machte er dem Minister bestimmte Empfehlungen. Ich weiß nicht, ob der Gerichtshof mehr davon verlesen haben will.

Sind irgendwelche Verbesserungen dieser Zustände nach Eingang dieses Briefes bei Frick eingetreten?

GISEVIUS: Das Schreiben ist gerade in den Tagen eingetroffen, als ich aus dem Reichsinnenministerium ausschied. Ich möchte zu diesem Schreiben nur das eine sagen: Was hier geschildert wird, ist wirklich nur ein Bruchteil dessen, was wir wußten. Ich habe an der Vorbereitung dieses Schreibens mitgewirkt, indem ich mit den Sachbearbeitern des Justizministeriums gesprochen habe. Der Justizminister konnte nur die Dinge anführen, die irgendwie legal zufällig durch eine Strafakte bekanntgeworden waren; aber es kann kein Zweifel sein, daß dieses Schreiben nur ein Anlaß war, und zwar war der Anlaß ein sehr dreistes Schreiben von Heydrich an Göring am 28. März 1935, in dem er dem Justizminister das Recht zur Strafverfolgung von Mißhandlungen absprach. Das Schreiber bringt also insofern in dem Rahmen meiner Schilderungen nicht Neues, und sie haben sich ja alle überzeugt, daß diese Zustände, die damals anfingen, niemals abrissen, sondern von Mal zu Mal schlimmer wurden.

JUSTICE JACKSON: Es kam schließlich so weit, daß Heydrich in Prag ermordet wurde, nicht wahr?

GISEVIUS: Ja, sehr tapfere Tschechen haben das erreicht, was wir leider nicht erreicht haben. Das wird ihnen immer zum Ruhme gereichen.

JUSTICE JACKSON: Ich vermute, die Tschechen erwarteten und Sie erwarteten, daß die Ermordung von Heydrich eine Besserung der Lage herbeiführen würde?

GISEVIUS: Wir haben uns gefragt, wir, Canaris, Oster, Nebe und die anderen der übrigen Gruppe, ob es überhaupt möglich sei, nach einem solchen Ungeheuer wie Heydrich noch einen schlimmeren Mann in der Nachfolge zu bekommen, und insofern haben wir tatsächlich gedacht, nun würde eine Erleichterung des Gestapo-Terrors einsetzen, und wir würden vielleicht wieder zu einer gewissen Rechtlichkeit oder wenigstens zu einer Verminderung der Grausamkeiten kommen.

JUSTICE JACKSON: Und dann kam Kaltenbrunner. Bemerkten Sie irgendeine Besserung nach der Ernennung Kaltenbrunners? Erzählen Sie uns hierüber.

GISEVIUS: Kaltenbrunner kam, und es wurde von Tag zu Tag schlimmer. Immer mehr machten wir die Erfahrung, daß vielleicht die Impulsivitäten eines solchen Mörders wie Heydrich nicht so schlimm waren wie die kalte, juristische Logik eines Rechtsanwalts, der die Regie eines solchen gemeingefährlichen Instrumentes wie die Gestapo übernahm.

JUSTICE JACKSON: Können Sie uns sagen, ob Kaltenbrunner nicht noch eine sadistischere Einstellung als Himmler und Schellenberg hatte? Wissen Sie hierüber etwas?

GISEVIUS: Ja, ich weiß, daß Heydrich eigentlich in gewissem Sinne bei seinen Schandtaten noch so etwas wie ein schlechtes Gewissen hatte. Jedenfalls schätzte er es nicht, wenn in Gestapokreisen offen über so etwas gesprochen wurde. Nebe, der ja als Leiter der Kriminalpolizei im gleichen Rang stand wie der Chef der Gestapo, Müller, hat mir immer erzählt, daß Heydrich sich bemühte, seine Verbrechen zu verheimlichen.

Mit Kaltenbrunners Eintritt in diese Behörde endete diese Gewohnheit. Es wurde nunmehr offen im Kreise der Abteilungsleiter der Gestapo über alle diese Dinge gesprochen. Es war ja nun auch schon Krieg. Die Herren aßen gemeinsam zu Mittag, und ich habe wiederholt erlebt, daß Nebe völlig erschöpft von solchen Mittagessen zu mir kam, daß er einen Nervenzusammenbruch erlebte. Zweimal mußte Nebe auf einen längeren Erholungsurlaub geschickt werden, weil er einfach diese zynische Offenheit, mit der nunmehr über Massenmorde und die Technik der Massenmorde gesprochen wurde, nicht mehr aushielt.

Ich erinnere nur an das grausige Kapitel der Errichtung der ersten Gaskammern, das eingehend in diesem Kreise besprochen wurde, und an die Experimente, wie man wohl am schnellsten und gründlichsten die Juden beseitigen könnte. Es ist die fürchterlichste Schilderung, die ich je in diesem Leben erhalten habe, weil es natürlich unendlich schlimmer ist, wenn man von einem, der unter dem Eindruck solcher Gespräche steht und selber darüber beinahe psychisch und physisch zerbricht, etwas hört, als man es jetzt in Dokumenten hört. Nebe wurde so krank, daß er eigentlich schon am 20. Juli einen Verfolgungswahn hatte und nur noch ein menschliches Wrack war, nach allem, was er erlebte.

JUSTICE JACKSON: War es üblich, daß diejenigen Chefs des Sicherheitshauptamtes, die zufällig in der Stadt weilten, während des täglichen Mittagessens Besprechungen hatten?

GISEVIUS: Tägliche Konferenzen; beim Mittagessen wurde alles besprochen. Dies war für uns deswegen besonders wichtig, weil wir auch Einzelheiten der Gestapo im Kampf gegen unsere Gruppe hörten.

Nur, um zu belegen, was ich sage, kann ich hier berichten, daß beispielsweise der Erlaß des Haftbefehls gegen Goerdeler am 17. Juli bei einem solchen Mittagsgespräch beschlossen wurde, und Nebe warnte uns unverzüglich. Und das ist der Grund, weswegen Goerdeler wenigstens für längere Zeit fliehen konnte, und wir wissen konnten, inwieweit die Gestapo über unser Komplott im Bilde war oder nicht.

JUSTICE JACKSON: Wer nahm regelmäßig an den Besprechungen teil?

GISEVIUS: Kaltenbrunner präsidierte. Es war dann der Gestapo-Müller, Schellenberg, Ohlendorf und Nebe.

JUSTICE JACKSON: Wissen Sie, ob bei diesen Besprechungen die neuen Folterarten sowie die Methoden für die Tötung durch Gas und andere Maßnahmen in den Konzentrationslagern erörtert wurden?

GISEVIUS: Jawohl. Es wurde sehr eingehend besprochen, und ich bekam manchmal wenige Minuten danach die Schilderung.

JUSTICE JACKSON: Wie steht es mit der Benachrichtigung des Auswärtigen Amtes über die Führung der Gestapo? Wollen Sie uns sagen, was geschah, um das Auswärtige Amt von Zeit zu Zeit über die Verbrechen, die die Gestapo verübte, zu benachrichtigen?

GISEVIUS: Das Außenamt war besonders in den ersten Jahren darüber fortlaufend unterrichtet, weil ja fast jeden Tag irgendein Ausländer halb totgeschlagen oder beraubt wurde, und dann kamen die diplomatischen Missionen mit ihren Beschwerden. Und diese Beschwerden wurden vom Außenministerium zum Innenministerium gesandt; das fiel in mein Referat, und ich habe manchmal am Tage vier oder fünf solche Noten des Auswärtigen Amtes über Gestapoübergriffe gehabt und kann bezeugen, daß im Laufe der Jahre wohl keine Schandtat der Gestapo in diesen Noten nicht aufgeführt worden war.

JUSTICE JACKSON: Haben Sie Berichte an das Auswärtige Amt gemacht, die so adressiert waren, daß Sie ziemlich sicher sein konnten, daß Neurath sie erhalten würde?

GISEVIUS: Ribbentrop war damals noch nicht Außenminister, damals war...

JUSTICE JACKSON: Nein, Neurath.

GISEVIUS: Ich habe diese Dinge sehr oft mit den Referenten des Auswärtigen Amtes persönlich besprochen, weil sie ja besonders heikel waren. Und weil die Referenten des Auswärtigen Amtes sehr entrüstet waren, habe ich sie wiederholt gebeten, diese Dinge auf dem Dienstwege dem Minister vorzulegen. Darüber hinaus habe ich einem der engsten Mitarbeiter des damaligen Außenministers, dem Chef des Protokolls, Gesandten von Bülow-Schwante, an Material gegeben, soviel ich konnte, und nach den Auskünften, die Bülow-Schwante mir gegeben hat, hat er wiederholt dieses Material Neurath vorgelegt.

JUSTICE JACKSON: Nun, wie war es mit den engeren Mitarbeitern von Papens? Wurde von Papen seitens der Gestapo überwacht?

GISEVIUS: Zunächst wurde der gesamte Papenkreis von der Gestapo fortlaufend überwacht, weil ja erstens Jahre hindurch in weiten Kreisen des Volkes die Vorstellung verbreitet war, in Papen einen besonderen Fürsprecher für Recht und Anstand zu besitzen. Es scharte sich um Papen eine große Gruppe, und selbstverständlich wurde diese von der Gestapo genauestens überwacht. Da im Büro Papen über all diese Beschwerden, die Papen stoßweise übermittelt wurden, eine genaue Sammlung aufgestellt wurde, und da ja auch Papen zweifellos oft mit diesen Papieren entweder zu Göring oder in das Palais Hindenburg ging, waren besonders die engsten Mitarbeiter von Papens der Gestapo suspekt. Und so wurde am 30. Juni 1934 der Oberregierungsrat von Bose, der engste Mitarbeiter Papens, in dem Türrahmen von Papens Ministerzimmer über den Haufen geschossen. Es wurden die beiden anderen Mitarbeiter Papens gefangengesetzt, und jener Mann, der Papen seine Rundfunkreden ausarbeitete, Edgar Jung, wurde bereits Wochen vor dem 30. Juni verhaftet und am Morgen des 1. Juli ermordet in einem Chausseegraben bei Oranienburg aufgefunden.

JUSTICE JACKSON: Verblieb Papen danach im Amte?

GISEVIUS: Ich habe niemals etwas erfahren, daß er zurückgetreten ist, und weiß, daß er sehr bald nach der Ermordung des österreichischen Bundeskanzlers Dollfuß nach Wien als Gesandter Hitlers ging.

JUSTICE JACKSON: Wissen Sie von irgendeinem Protest, den er je gemacht hat?

GISEVIUS: Mir ist persönlich damals nichts darüber bekannt geworden, obwohl wir uns natürlich außerordentlich umhörten, welcher Minister wohl protestieren würde. Irgendein Schreiben Papens an das Reichsinnenministerium ist nicht gekommen.

JUSTICE JACKSON: Wurden einige seiner Mitarbeiter nach dem Anschluß Österreichs ermordet?

GISEVIUS: Am Tage des Anschlusses wurde bei dem Eindringen der SS in Österreich als erster der engste Mitarbeiter Papens, der Legationsrat Freiherr von Ketteler, von der Gestapo entführt. Wir haben dann wochenlang nach ihm gesucht, bis nach drei oder vier Wochen seine Leiche aus der Donau an das Ufer geschwemmt wurde.

JUSTICE JACKSON: Blieb Papen danach weiter in der Hitler-Regierung, und nahm er weitere Ämter aus Hitlers Hand entgegen?

GISEVIUS: Damals war er nicht mehr Mitglied in der Regierung, und Papen wurde als Gesandter sofort nach dem Einmarsch in Österreich kaltgestellt; aber es dauerte dann nicht lange und er setzte sein Wirken in Ankara als Botschafter fort.

JUSTICE JACKSON: Wünscht der Gerichtshof jetzt eine Pause einzuschalten?

VORSITZENDER: Sie hätten gern noch etwas mehr Zeit für diesen Zeugen, nicht wahr?

JUSTICE JACKSON: Es wird noch etwas mehr Zeit beanspruchen, Herr Vorsitzender.

VORSITZENDER: Gut. Wir vertagen uns nunmehr.