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[Zum Zeugen gewandt:]

Jeder Angeklagte, der irgendeinen Ministerposten innehatte, kontrollierte die Berichte, die von seinem Ministerium an Hitler gehen sollten, nicht wahr?

GISEVIUS: In dieser Verallgemeinerung muß ich vorsichtig antworten; denn es war erst einmal ein enger Kreis, der um Hitler herum den Kordon des Schweigens legte. Ich kann natürlich einen Mann wie Papen oder von Neurath nicht dazu rechnen; denn es war ja klar, daß von Papen oder von Neurath oder vielleicht dar eine oder andere Angeklagte nicht, oder lange Zeit später nicht mehr, die Möglichkeit hatten, die Zugangswege zu Hitler zu regeln; denn Hitler hatte ja neben von Neurath schon lange vorher seinen Ribbentrop. Ich kann also nur sagen, daß eine gewisse Gruppe, die ja wohl bekannt sein wird, der engste Kreis war, von denen ich zu sprechen hätte.

JUSTICE JACKSON: Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie diejenigen Angeklagten bezeichnen wollten, die Zutritt zu Hitler hatten, und diejenigen, die imstande waren, den Zutritt ihrer Untergebenen zu Hitler zu verhindern. Das sind wahrscheinlich Göring, Ribbentrop, Keitel, Kaltenbrunner, Frick und Schacht – während der Zeit bis zu seinem in Ihrer Aussage geschilderten Bruch mit diesem – und Dönitz, Raeder, Sauckel und Speer; nicht wahr?

GISEVIUS: Sie haben manche zu viel genannt und manche vermisse ich. Um nur den Angeklagten Jodl zu nennen, so möchte ich auf den unheimlichen Einfluß hinweisen, den dieser Angeklagte gehabt hat, und die Riegelstellung, die er bei Hitler einnahm.

Andererseits glaube ich, ist aus meinem Zeugnis hervorgegangen, daß Schacht bei Hitler nicht abriegelte, sondern sich nur freuen konnte über jeden Bericht, offenen, anständigen Bericht, der aus seinem und anderen Ministerien zu Hitler drang. Was den Angeklagten Frick betrifft, so glaube ich nicht, daß er unbedingt eine Riegelstellung gehabt hat. Ich glaube, das Problem Frick liegt in dem Punkte der Verantwortlichkeit.

JUSTICE JACKSON: Hätte ich Funk zu der Gruppe rechnen sollen, die Zutritt zu Hitler hatte?

GISEVIUS: Funk hat zweifellos lange Zeit Zutritt zu Hitler gehabt und Funk hat, für seinen Teil natürlich, die Verantwortung dafür, daß die Geschäfte im Wirtschaftsministerium und in der Reichsbank so liefen, wie es Hitler wünschte. Funk hat seinen überragenden Sachverstand zweifellos in den Dienst Hitlers gestellt.

JUSTICE JACKSON: Haben Sie Berichte über die verbrecherische Tätigkeit der Gestapo ausgearbeitet oder an ihrer Ausarbeitung mitgearbeitet, die an Keitel geschickt wurden?

GISEVIUS: Ja.

JUSTICE JACKSON: Haben andere mit Ihnen zusammen an der Ausarbeitung dieser Berichte mitgearbeitet?

GISEVIUS: Jawohl, es war eine Gruppenarbeit. Wir sammelten Nachrichten über Pläne der Gestapo und Vorbereitungen, und wir sammelten Material über die ersten Schandtaten, so daß wackere Männer an der Front, Offiziere des Generalstabs und des Heeres hingingen, Protokolle anfertigten, Photographien anfertigten, und dieses Material kam nun zu der Gruppe Canaris und Oster. Darin erhob sich das Problem: wie können wir dieses Material an Keitel heranbringen. Bekanntlich war es den Offizieren verboten, auch so hohen Offizieren wie Canaris und Thomas, über politische Dinge Bericht zu erstatten. Die Schwierigkeiten waren also, nicht Canaris und die anderen dem Verdacht auszusetzen, daß sie Politik machten. Wir wählten den Umweg, daß wir sogenannte Agentenberichte der Abwehr aus dem Auslande oder aus den besetzten Gebieten anfertigten und unter dem Vorwand, daß hier diese oder jene Agenten aus allen Ländern über diese Schandtaten berichteten oder, daß bei durchreisenden Agenten oder im Ausland solche schandbaren Photographien gefunden worden waren, unter diesem Vorwand legten wir dann diese Berichte dem Feldmarschall Keitel vor.

JUSTICE JACKSON: Haben Canaris und Oster bei der Übermittlung dieser Berichte an Keitel mitgewirkt?

GISEVIUS: Ja, ohne Canaris und Oster wäre die Ausarbeitung und die Sammlung des Materials überhaupt nicht denkbar gewesen.

JUSTICE JACKSON: Und welche Stellungen hatten Canaris und Oster im Verhältnis zu Keitel zur Zeit als diese Berichte vorgelegt wurden?

GISEVIUS: Canaris war der dienstälteste Amtschef des OKW. Formell hatte er sogar Feldmarschall Keitel zu vertreten, wenn Keitel abwesend war; Keitel sorgte nur dafür, daß ein anderer dann in die Bresche sprang, meistens sein Parteigeneral Reinecke. Und Oster war als Vertreter, als Stabschef von Canaris, wiederum zu Canaris im engsten Verhältnis. Keitel konnte sich also keinen engeren Kontakt zur Wirklichkeit und zur Wahrheit wünschen, als durch diese Verbindung zum Chef seines Wehrmachtnachrichtendienstes.

JUSTICE JACKSON: Diese Berichte, die Keitel zugingen, kamen also von den höchsten Männern seiner eigenen, ihm direkt unterstellten Organisation?

GISEVIUS: Jawohl.

JUSTICE JACKSON: Nun, was berichteten Sie an Keitel? Ich möchte Sie fragen, ob Sie ihm berichteten, daß es ein Programm der systematischen Ermordung von Geisteskranken gab?

GISEVIUS: Jawohl. Auch darüber wurden eingehende Protokolle angefertigt, mit verzweifelten Berichten der Leiter der Irrenanstalten. Ich entsinne mich gerade dieses Falles sehr genau, weil wir wiederum große Schwierigkeiten hatten, diese Berichte zu motivieren, und wir modellierten sie besonders als Berichte aus dem Auslande von Ärzten, die darüber mit Entrüstung Kenntnis genommen hatten.

JUSTICE JACKSON: Stand in diesen Berichten von der Verfolgung und Ermordung der Juden und davon, daß ein Programm der Judenausrottung durchgeführt wurde?

GISEVIUS: Keitel wurde von den ersten Judenpogromen 1938 an fortlaufend über jede neue Aktion gegen die Juden auf das ausführlichste unterrichtet, insbesondere von der Errichtung der ersten Gaskammern oder vielmehr von der Errichtung der ersten Massengräber im Osten bis zur Errichtung der Mordfabriken später.

JUSTICE JACKSON: Stand in diesen Berichten von den Greueltaten, die in Polen gegen die Polen verübt wurden?

GISEVIUS: Jawohl, und zwar möchte ich hier wiederum sagen, auch diese Greueltaten in Polen fingen mit einzelnen Morden an, die so gräßlich waren, daß wir uns damals noch den Luxus leisten konnten, Einzelfälle zu berichten und die Namen der verantwortlichen SS-Führer beizufügen. Auch hier ist dem Angeklagten Keitel nichts geschenkt worden an fürchterlichen Wahrheiten.

JUSTICE JACKSON: Wurden Keitel auch Berichte über die Greueltaten gegen Einwohner anderer besetzter Länder erstattet?

GISEVIUS: Ja. Als erstes muß ich natürlich die Furchtbarkeiten in Rußland nennen, weil ich ja hervorheben muß, daß nun ja Keitel auf Grund der polnischen Greueltaten hinreichend gewarnt war, was in Rußland bevorstand, und ich weiß noch, wie die Vorbereitung solcher Befehle, wie der Befehl zur Erschießung der Kommissare und des Nacht-und-Nebel-Erlasses, wochenlang im OKW dauerten, so daß wir bereits in dem allerersten Beginn solcher Ausarbeitungen Canaris und Oster baten, bei Keitel vorstellig zu werden. Aber ich möchte hier hinzufügen, ich zweifle nicht, daß auch noch andere wackere Männer bei Keitel in diesem Sinne vorstellig geworden sind. Dadurch, daß ich zu einer bestimmten Gruppe gehört habe, könnte der Eindruck entstehen, als ob bloß hier Menschen gewesen wären, die sich für solche Dinge eingesetzt hätten, und ich würde Wesentliches verschweigen, wenn ich nicht hinzufügen würde, daß gerade auch im OKW und im Generalstab vortreffliche Männer waren, die alles taten, um nun auf ihren gesonderten Wegen an Keitel heranzukommen, und daß ebenso in vielen Ministerien wackere Männer waren, die jeden Offizier, den sie sahen, zu erreichen suchten, um ihn zu beschwören, diesem Unrecht Einhalt zu gebieten.

JUSTICE JACKSON: Erwähnten die Berichte an Keitel auch, daß Millionen von Fremdarbeitern versklavt und nach Deutschland deportiert wurden?

GISEVIUS: Jawohl.

JUSTICE JACKSON: Und diese Sklavenarbeiter sind es hauptsächlich, die heute als »displaced persons« (Verschleppte) Deutschland heimsuchen; nicht wahr?

GISEVIUS: Jawohl. Ich möchte auch hier aussprechen, daß in unseren Berichten bereits gesagt wurde, welche Verantwortung die Wehrmacht trüge, wenn diese gepeinigten Menschen einmal frei würden. Wir ahnten, was kommen mußte, und wer damals die Berichte gemacht hat, der versteht, was jetzt geschehen ist.

JUSTICE JACKSON: Wurde in den Berichten an Keitel die Verfolgung der Kirchen in den besetzten Ländern geschildert?

GISEVIUS: Jawohl. Ich möchte ein besonderes Beispiel anführen, wie wir sogar einmal führende Männer der Kirche unter dem Decknamen von Agenten nach Norwegen schickten. Sie nahmen mit dem Bischof Bergrav Fühlung und brachten dann sehr eingehende Berichte über die Art, wie der Bischof Bergrav über die Kirchenverfolgung in Norwegen und anderen Ländern dachte. Ich sehe noch diesen Bericht vor mir, weil Keitel einen seiner bekannten nationalsozialistischen Parteisprüche auch auf dieses Dokument heraufgeschrieben hat.

JUSTICE JACKSON: Diese Berichte enthielten sowohl von Canaris und von Oster gelieferte Informationen als auch Berichte, die hierzu aus dem Felde kamen?

GISEVIUS: Jawohl.

JUSTICE JACKSON: Jetzt einige Fragen über die Organisationen der SA und SS. In Ihrem Buch, über das Sie schon befragt worden sind, haben Sie, glaube ich, die SA als eine Privatarmee der Nazi-Organisation bezeichnet. Ist diese Bezeichnung richtig?

GISEVIUS: Jawohl.

JUSTICE JACKSON: Während des Anfangsstadiums des Kampfes um die Macht stellte die SA eine Privatarmee dar, die die Aufgabe hatte, Befehle der Nazi- Partei auszuführen; nicht wahr?

GISEVIUS: Ja.

JUSTICE JACKSON: Die SA nahm viele Mitglieder auf, wurde ziemlich groß, und dann kam eine Zeit, wo die Gefahr bestand, daß sie ihre Macht verlieren könnte; nicht wahr?

GISEVIUS: Ja, das ist richtig.

JUSTICE JACKSON: Und der Mord an Röhm und seinen Genossen war ein Kampf um die Macht zwischen Göring, Himmler und den sie umgebenden Nazis einerseits und Röhm und seinen Genossen andererseits?

GISEVIUS: Jawohl.

JUSTICE JACKSON: Nach der Ermordung Röhms verlor die SA, die damals sehr stark war, ziemlich stark an Bedeutung; nicht wahr?

GISEVIUS: Ja, völlig.

JUSTICE JACKSON: Und die SS, die eine kleinere und strammere Organisation war, nahm dann ihre Stelle als Privatarmee ein; nicht wahr?

GISEVIUS: Ja, als die entscheidende Privatarmee.

JUSTICE JACKSON: Ja, wir wollen nun einen Moment zur SA zurückkehren, und zwar zur Zeit vor dem Machtkampf, der zum Röhm-Putsch führte. Welche Rolle spielte die SA im Kampf um die Macht bei der Machtergreifung?

GISEVIUS: Wie es in dem Liede hieß: Sie machte die Straße frei für die braunen Bataillone, und zweifellos hat die SA bei der sogenannten Machtergreifung eine überragende Rolle gespielt. Ohne die SA wäre zweifellos Hitler nicht an die Macht gekommen.

JUSTICE JACKSON: Wir wollen nun ihre Methoden untersuchen. Vielleicht kann ich die Sache kurz machen, indem ich aus Ihrem Buch zitiere. Ich glaube, Sie sagen: Wo sich der einzelne über seine Freiwilligkeit nicht ganz schlüssig ist, da beseitigt sie unzweideutig jedes Mißverständnis. Ihre Mittel sind primitiv, dafür um so schlagkräftiger. Beispielsweise lernt sich auf den Straßen der neuartige Hitler-Gruß außerordentlich schnell, sobald neben jeder marschierenden SA-Kolonne – und wo wird in jenen Tagen nicht marschiert? – auf dem Bürgersteig ein paar handfeste SA- Männer einhergehen und alle Passanten rechts und links hinter das Ohr hauen, wenn sie nicht bereits drei Schritte im voraus der Sturmfahne den Gruß entbieten. Ähnlich verfahren diese Sturmleute auf sämtlichen anderen Gebieten. Ist diese Schilderung der Tätigkeit und der Einflußnahme der SA richtig?

GISEVIUS: Ich hoffe.

JUSTICE JACKSON: Nun, Sie müssen es doch wissen, nicht wahr?

GISEVIUS: Ja, ja, es ist ja meine eigene Beschreibung, ich kann keine Zensur dazu abgeben.

JUSTICE JACKSON: Ja, Sie haben doch diese Dinge selber gesehen, nicht wahr? Sie waren doch damals in Deutschland?

GISEVIUS: Jawohl, natürlich.

JUSTICE JACKSON: Sie müssen verstehen, Herr Doktor, daß es sehr schwierig für uns ist, trotz all der Dokumente, die wir haben, uns ein genaues Bild von den täglichen Geschehnissen zu machen. Sie waren hier und wir nicht.

Nun möchte ich noch eine andere Stelle verlesen: Die Chronik dieser Privatarmee ist bunt und bewegt. Es wimmelt in ihr von Saalschlachten, Straßentumulten, Messerstechereien, Schießereien und internen Prügeleien; alles in allem ein tolles Landsknechtstreiben, bei dem es natürlich ebensowenig an Führerkrisen wie an Meutereien gebricht. In dieser Gemeinschaft der wilden Männer des deutschen Nationalismus ist zweifellos mancher Idealismus zu Hause. Aber zugleich ist die SA die Ablagestätte für politisches Strandgut. Die gescheiterten Existenzen aller Schichten finden bei ihr Zuflucht. Die Mißmutigen, die Enterbten, die Desperados strömen dorthin zu Hauf. Der Kern, die besoldete Stammtruppe, und da besonders die Führerschaft, rekrutiert sich von Jahr zu Jahr bedenklicher aus dem Strauchrittertum einer Zeit des politischen und sozialen Verfalls.

Ist das eine richtige Darstellung Ihrer Beobachtungen über die SA zu jener Zeit?

GISEVIUS: Jawohl.

JUSTICE JACKSON: Ich möchte noch auf eine andere Stelle verweisen: Die SA veranstaltet Großrazzien. Die SA macht Haussuchungen. Die SA beschlagnahmt. Die SA lädt zu Zeugenvernehmungen. Die SA sperrt ein. Kurzum, die SA erhebt sich zur Hilfspolizei in Permanenz und pfeift auf alle Rechts- und Verwaltungsgrundsätze aus der sogenannten ›Systemzeit‹. Das schlimmste für die ohnmächtigen Staatsbehörden ist, daß die SA ihre Beute überhaupt nicht mehr herausrückt. Wehe, wenn sie jemanden in ihren Klauen hat! Damals entstanden die ›Bunker‹, jene furchtbaren Privatgefängnisse, von denen jeder gute SA-Sturm mindestens einen besitzen muß. Die ›Abholung‹ wird SA-Gewohnheitsrecht. Die Tüchtigkeit eines Standartenführers mißt sich nach der Zahl seiner Häftlinge und das Ansehen eines SA-Rabauken wertet nach der Schlagkraft seiner Gefangenen-›Erziehung‹. »Erziehung« steht in Anführungszeichen. »Saalschlachten im Kampf um die Macht können nicht mehr geboten werden. Gleichwohl geht der Kampf unentwegt weiter. Jetzt gibt es Prügeleien in der Auskostung der Macht.«

Ist das eine richtige Darstellung dessen, was Sie von der SA zu jener Zeit sahen?

GISEVIUS: Jawohl.

JUSTICE JACKSON: Sie haben den Ausdruck »Bunker« gebraucht, dies ist eine Art technischer Ausdruck, den einige von uns nicht kennen. Wollen Sie dem Gerichtshof sagen, was dieses »Bunker-System« der SA war?

GISEVIUS: Bunker waren jene Keller oder sonstige dickvermauerte Verliese, in die die armen Gefangenen eingesperrt wurden, und wo sie dann geprügelt, zu einem großen Teil zu Tode geprügelt wurden.

Das waren jene Privatgefängnisse, mit denen in diesen ersten Monaten zunächst systematisch die Führer der Linksparteien und der Gewerkschaften unschädlich gemacht wurden, woraus sich das Phänomen erklärt, daß später die Linke so lange nicht zur Aktion kam, weil man dort zunächst am gründlichsten ihre ganze Führerschaft beseitigte.

JUSTICE JACKSON: Sie haben auch den Ausdruck gebraucht, »die ›Abholung‹ wurde SA-Gewohnheitsrecht« und »Abholung« steht unter Anführungszeichen. Wollen Sie uns etwas von dieser »Abholung« erzählen, was sie bedeutet?

GISEVIUS: Das war das wahllose Verhaften, wobei die Angehörigen oft Wochen- oder monatelang nicht wußten, wo die unglückseligen Opfer geblieben sind, und froh sein konnten, wenn sie überhaupt wieder nach Hause kamen.

JUSTICE JACKSON: Ich glaube, Sie machen in Ihrem Buch auch noch folgende Bemerkung: »Jede Ausschreitung, die als ›Übereifer für die nationalsozialistische Revolution‹ amnestiert, also behördlich sanktioniert wurde, mußte notwendig eine neue nach sich ziehen. Erst diese geduldeten Bestialitäten aus den ersten Monaten ermunterten später die sadistischen Mordbuben in den Konzentrationslagern. Die allgemeine Verrohung und Abstumpfung, die sich gegen Ende der Revolution weit über den Gestapobereich hinaus bemerkbar machte, war die unausbleibliche Folge dieses ersten fahrlässigen Versuches, der Gewalttätigkeit braune Freibezirke einzuräumen.«

Ist auch das eine genaue Darstellung dessen, was Sie bei der SA beobachteten?

GISEVIUS: Jawohl – halt, nicht nur von der SA, sondern von den allgemeinen Zuständen in Deutschland auch.

JUSTICE JACKSON: Wollen Sie uns nun noch erzählen... wenn ich Sie recht verstehe, ist die SA nach der Röhm-Affäre als Privatarmee etwas in den Hintergrund gerückt, und es wurde eine zuverlässigere, kleinere, strammere Privatarmee unter Himmler geschaffen.

GISEVIUS: Ich glaube, ich sollte mich so ausdrücken. Eine lange vorher von Himmler geschaffene Garde kam nunmehr zum Zug. Ich zweifle nicht, daß Himmler und sein engster Kreis bereits seit Jahren genau diesem Ziele zustrebten, eines Tages mit ihrer Schutztruppe das Terrorsystem in Deutschland zu verwirklichen. Nun war bis zum 30. Juni die SS ein Teil der SA und Göring – entschuldigen Sie, Röhm war auch Oberster Führer der SS. Der Weg für Himmler zum Polizeiherrn in Deutschland, zum Polizeiherrn des Bösen, wurde also erst frei, nachdem Röhm mit seiner weit größeren SA beseitigt war. Aber der Wille zur Macht bei der SS, mit allen verworrenen und skrupellosen Ideen, muß bei der Führerschaft der SS schon lange vorher als vorhanden angenommen werden.

JUSTICE JACKSON: Diese SS wählte ihre Mitglieder mit großer Sorgfalt aus? Stimmt das?

GISEVIUS: Jawohl.

JUSTICE JACKSON: Wollen Sie uns vielleicht etwas über die Qualifikationen erzählen, die zur Mitgliedschaft erforderlich waren?

GISEVIUS: Sie mußten sogenannte nordische Typen sein. Ich habe diese Fragebogen eigentlich immer als einen Gegenstand für ein Witzblatt bezeichnet, und deshalb bin ich auch heute nicht in der Lage, so genaue Einzelheiten zu geben, nur das, wenn ich mich nicht irre, daß bei Männern und Frauen das Merkmal bis zum Achselschweiß ging. Ich entsinne mich, daß Heydrich und Himmler besonders bei der Auswahl der SS-Leute, die in den Polizeidienst geholt wurden, sich erst entschieden, wenn sie ein Bild ihrer zukünftigen Opfer für Befehlsmißbrauch vor sich sahen, und so weiß ich, daß beispielsweise Nebe wiederholt Beamte, die er vor der Überweisung von der Kripo in die Gestapo schützen wollte, dadurch rettete, daß er schlechte Photographien von diesen Menschen machen ließ, so daß sie möglichst nicht nordisch aussahen. In diesem Falle wurden sie sofort abgelehnt. Aber es würde zu weit führen, über diese krausen Dinge in diesem Saal mehr zu sagen.

JUSTICE JACKSON: Wurden die Mitglieder der SS lediglich aus Kreisen fanatischer und verläßlicher Nazis ausgesucht?

GISEVIUS: Ich glaube, wir müssen hier eine zeitliche Grenze einführen. In den ersten Jahren der SS fühlten sich viele anständige Deutsche, vor allem Bauern und Leute auf dem weiteren Lande, zur SS hingezogen, weil sie Himmlers Versicherung glaubten, die SS werde in Deutschland Ordnung schaffen und ein Gegengewicht gegen den SA-Terror bilden. So sind meines Wissens manche Leute vor 1933 und selbst in den Jahren 1933 und 1934 in die SS eingetreten, weil sie hofften, daß hier eine Zelle für Ordnung und Recht war, und es ist, glaube ich, meine Pflicht, auf die Tragik dieser Menschen hinzuweisen; und es bedarf in jedem Einzelfalle hier der Untersuchung, ob sie später schuldig wurden oder ob sie anständig blieben. Aber von einem gewissen Zeitpunkt an, und ich glaube, ich habe ihn gestern schon mit dem Jahre 1935 beziffert, konnte für keinen Menschen mehr ein Zweifel sein, was die wirklichen SS-Ziele waren. Und seit diesem Zeitpunkt, möchte ich vor allem Ihre Formulierung aufgreifen, waren es nur fanatische Nationalsozialisten, sozusagen »Super«-Nationalsozialisten, die in die SS eintraten.

JUSTICE JACKSON: Ihrem Urteil als dem eines Mannes, der hier war, zufolge, mußten ab 1935 die Leute, die der SS beitraten, notwendigerweise wissen, in welcher Weise sich die SS betätigte.

GISEVIUS: Ja, worauf er sich einließ und mit welchen Befehlen er rechnen mußte.

JUSTICE JACKSON: Der Gerichtshof wünscht, daß ich Sie wegen des Zwischenfalles von gestern befrage; haben Sie noch etwas hinzuzufügen? Ich weiß nichts Näheres über die Drohung, die ausgesprochen wurde. Wollen Sie zur Information des Gerichtshofs etwas hinzufügen zu diesem Zwischenfall, was noch nicht erwähnt wurde?

GISEVIUS: Ich möchte klarstellen, daß Dr. Dix mir nicht nur ein Gespräch mit Dr. Stahmer übermittelt hat. Ich bin an diesem Morgen in das Anwaltszimmer gekommen und ich will keine weiteren Einzelheiten mehr angeben, aber das Fluidum, das mir entgegenstrebte, war sowieso schon nicht gerade liebenswürdig. Dann stand ich aus gegebenem Anlaß bei Dr. Dix, um ihm etwas anderes zu berichten. Herr Dr. Stahmer nahte sich, augenscheinlich sehr erregt, und bat Dr. Dix um eine Unterredung. Herr Dr. Dix verweigerte dies mit der Begründung, daß er ja gerade mit mir spräche. Herr Dr. Stahmer verlangte mit lauter Stimme, er müsse sofort und dringend Herrn Dr. Dix sprechen. Herr Dr. Dix ging nur zwei Schritte beiseite, und das nun folgende Gespräch wurde von Dr. Stahmer so laut geführt, daß ich es unbedingt in den wesentlichen Teilen selber hören mußte. Ich hörte es und sagte wörtlich zu dem dabeistehenden Rechtsanwalt Dr. Kraus: »Hören Sie doch nur, wie Dr. Stahmer schimpft.« Es trat dann Herr Dr. Dix erregt auf mich zu, und er mußte nach diesem Vorspiel auf meine Frage, wie denn nun präzise die Bestellung des Angeklagten Göring laute, mir Auskunft auf das geben, was ich ja sowieso halb gehört hatte. Ich möchte betonen, daß, wenn ich Gelegenheit gehabt hätte, von mir aus zunächst diese Geschichte zu erzählen, ich hervorgehoben hätte, daß ich unter dem Eindruck stand, daß Herr Dr. Stahmer lediglich eine Darstellung, oder wie ich es nennen möchte, eine Drohung des Angeklagten Göring weitergab.

JUSTICE JACKSON: Wollen Sie uns bitte angeben, ob sich Nazi-Minister und Nazi-Beamte im Hitler-Regime – soweit Sie es beobachten konnten –, nachdem Hitler zur Macht gekommen war, systematisch dadurch bereicherten, daß sie das Vermögen von Juden und auch anderen Leuten beschlagnahmten?

GISEVIUS: Ja, dies wurde von Jahr zu Jahr zynischer, und wir haben sogar Listen darüber geführt, welche von den bürgerlichen Ministern und vor allem von den Generalen und Feldmarschällen sich an diesem System beteiligten. Wir hatten vor, später uns bei allen den Generalen und Ministern zu erkundigen, ob sie diese Dotationen auf ein Sperrkonto gelegt hätten, oder ob sie etwa dieses Geld gebraucht hätten für ihren eigenen persönlichen Zweck.

JUSTICE JACKSON: Wollen Sie dem Gerichtshof erklären, wer von den Angeklagten sich in der von Ihnen angegebenen Weise bereichert hat?

GISEVIUS: Ich kann leider nur eine negative Auskunft geben, indem wir uns wiederholt bei dem Angeklagten Schacht erkundigt haben...

VORSITZENDER: Vielleicht ist es gut, jetzt eine Pause von zehn Minuten einzuschalten.