[Keine Antwort.]
Dr. Marx! Wollen Sie den Zeugen wiederverhören? Sie hörten, was der Ankläger über die verschiedenen, von diesem Zeugen geschriebenen Artikel sagte. Wollen Sie nochmals verhören? Haben Sie noch irgendwelche Fragen an den Zeugen zu stellen?
DR. MARX: Ich bitte.
Herr Hiemer! Sie haben die Frage vorhin wohl nicht ganz verstanden. Sie sollen also sich noch einmal darüber äußern, wann Herr Streicher Kenntnis erlangt hat, wann er Ihnen zu erkennen gegeben hat, daß er von diesen Massentötungen nun überzeugt ist oder wenigstens daran geglaubt hat.
HIEMER: Nach meiner Meinung und Überzeugung wäre dies Mitte 1944 gewesen.
DR. MARX: Es ist aber doch in dem »Israelitischen Wochenblatt« schon eine ganze Reihe von Jahren vorher die Rede davon gewesen.
HIEMER: Ja, da hatte es Streicher nicht geglaubt. Seine Sinnesänderung trat erst im Jahre 1944, und ich habe in Erinnerung, erst Mitte 1944, ein.
DR. MARX: Ich habe keine weiteren Fragen an den Zeugen mehr.
VORSITZENDER: Der Zeuge kann abtreten.
[Der Zeuge verläßt den Zeugenstand.]
DR. MARX: Mit Erlaubnis des Gerichts rufe ich nunmehr den Zeugen Philipp Wurzbacher.
VORSITZENDER: Jawohl.
[Der Zeuge betritt den Zeugenstand.]
VORSITZENDER: Wie heißen Sie?
ZEUGE PHILIPP WURZBACHER: Philipp Wurzbacher.
VORSITZENDER: Sprechen Sie mir folgenden Eid nach:
Ich schwöre bei Gott, dem Allmächtigen und Allwissenden, daß ich die reine Wahrheit sagen, nichts verschweigen und nichts hinzusetzen werde.
[Der Zeuge spricht die Eidesformel nach.]
VORSITZENDER: Sie können sich setzen.
DR. MARX: Herr Zeuge! Sie waren SA-Führer in Nürnberg?
WURZBACHER: Jawohl.
DR. MARX: Seit wann?
WURZBACHER: Seit 1928.
DR. MARX: Und welche Stellung bekleideten Sie?
WURZBACHER: Ich habe damals die Stellung eines SA-Standartenführers bekleidet, aus den kleinsten Anfängen heraus.
VORSITZENDER: Wenn das gelbe Licht aufleuchtet, bedeutet das, daß Sie zu rasch sprechen. Haben Sie mich verstanden?
WURZBACHER: Ich rede zu schnell?
DR. MARX: Sprechen Sie langsamer; machen Sie möglichst viele Pausen, weil Ihre Aussage in mehrere Sprachen übersetzt werden muß.
Seit wann kennen Sie den Angeklagten Streicher?
WURZBACHER: Aus den Versammlungen seit dem Jahre 1923; persönlich aus der Zeit meiner Tätigkeit als SA-Führer im Jahr 1928.
DR. MARX: Waren Sie in den Versammlungen, in denen er sprach, regelmäßig anwesend?
WURZBACHER: Ich kann nicht sagen, daß ich regelmäßig anwesend war, wohl aber war ich sehr häufig anwesend.
DR. MARX: Forderte Streicher in seinen Reden zu Gewalttätigkeiten gegen die jüdische Bevölkerung auf oder kündete er solche an?
WURZBACHER: Ich habe nie in Versammlungen davon gehört, daß zu Gewalttätigkeiten gegen die jüdische Bevölkerung aufgefordert worden ist. Auch nie habe ich gehört, daß er aufforderte oder ankündigte, etwas Derartiges vorzuhaben.
DR. MARX: Und ist in Nürnberg oder im Gau Franken in der Zeit von 1920 bis 1933 jemals eine Gewalthandlung gegen die jüdische Bevölkerung vorgefallen, die aus dem Volke heraus vorgenommen wurde und entstanden war?
WURZBACHER: Nein, ich kann mich an einen derartigen Vorfall nicht erinnern.
DR. MARX: Oder hat die SA eine solche unternommen oder wurde eine solche befohlen?
WURZBACHER: Die SA hatte etwas Derartiges nie unternommen. Im Gegenteil, die SA hatte Weisung, und zwar einwandfreie Weisung, derartige Gewaltakte zu unterlassen. Es wäre für den einzelnen, wenn er es getan hätte oder wenn ein SA-Führer Befehl gegeben hätte, zu schweren Strafen gekommen. Im übrigen hat, wie ich schon vorher betonte, niemals eine Aufforderung oder ein Befehl dazu vorgelegen.
DR. MARX: Was sagen Sie dann zu den Vorgängen in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938?
WURZBACHER: Ich habe diese Vorgänge in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 persönlich nicht in Nürnberg erlebt. Ich war zu dieser Zeit wegen eines chronischen Hals- und Kehlkopfkatarrhs in Bad Ems. Ich kann darüber nur aus Erzählungen, die mir nachher gegeben worden sind, etwas sagen.
DR. MARX: Sprachen Sie mit dem Obergruppenführer Obernitz?
WURZBACHER: Jawohl.
DR. MARX: Über diese Vorgänge?
WURZBACHER: Jawohl, ich habe mit Obergruppenführer Obernitz damals in einer kurzen Unterredung, als ich mich zurückmeldete, gesprochen. Es waren an und für sich wenige Worte, da Obergruppenführer Obernitz abgerufen wurde, so daß ich dann nicht einmal im Verlaufe einer Unterhaltung darauf zu sprechen kommen konnte. Ich erinnere mich daran, daß damals Obergruppenführer Obernitz aussagte, so ungefähr sinngemäß, die Sache sei von seiner Seite aus in Ordnung gebracht worden.
DR. MARX: War innerhalb der SA eine einheitliche Stimmung vorhanden oder war es so, daß sogar in den Kreisen der SA diese unglaublichen Vorgänge mißbilligt wurden?
WURZBACHER: Die Stimmung war, soviel ich dann feststellen konnte, als ich zurückkam – es war wohl der 23. oder 24. November – eine sehr geteilte. Es war so, daß ein Teil der SA dafür, der andere dagegen war; jedenfalls aber war es so, daß allgemein, was geschehen war, zu einem überwiegenden Teil für nicht richtig befunden und verurteilt wurde.
DR. MARX: War eine Verschärfung, ich möchte sagen, eine gewisse Verrohung in diesen Kreisen nach 1933 festzustellen durch die Zunahme der SA?
WURZBACHER: Es ist ganz selbstverständlich gewesen, daß mit der Machtübernahme, mit der damaligen Hereinnahme vieler neuer unübersichtlicher Menschen, die Lage eine vollkommen andere wurde, als wie sie vorher war. Vorher hatte man als verantwortlicher Führer fast jeden einzelnen gekannt. Mit dem nun gewaltigen Zustrom neuer Menschen war es so, daß die Übersicht mehr oder minder erst einmal geschaffen werden mußte. Es war aber – ich glaube, wohl sagen zu dürfen – eine Verrohung insofern nicht eingetreten. Es waren vielleicht die einen oder anderen Elemente untergeschlüpft, die im Namen der SA das eine oder andere taten. Im allgemeinen kann ich aber nicht sagen, daß, in der Gesamtheit gesehen, eine Verrohung eingetreten gewesen wäre.
DR. MARX: Haben Sie die Wahrnehmung gemacht, daß der »Stürmer« in der SA einen Einfluß ausübte und daß dadurch eine antisemitische Strömung in der Ihnen unterstellten Truppe erkennbar war, oder wurde nicht bei Ihnen ein anderes Blatt, »Der SA-Mann«, gelesen?
WURZBACHER: Dazu kann ich nur sagen, daß der »Stürmer« gerade in den Nürnberger Bevölkerungskreisen, im besonderen aber in der SA, eine, ich möchte sagen, geteilte Aufnahme gefunden hat. Es gab starke Teile in der SA, die den »Stürmer« – ich möchte sagen – nicht abgelehnt, aber die eben ohne Interesse waren, und zwar deswegen, weil sich der Inhalt immer wiederholte und aus diesem Grunde mehr oder minder für sie uninteressant wurde. Im übrigen wurde natürlich von den Angehörigen der SA »Der SA-Mann« als ihre Zeitung zunächst gelesen.
DR. MARX: Wenn Sie an einer Versammlung teilnahmen, in der Streicher sprach, welchen Eindruck gewannen Sie von den Zielen, die er hinsichtlich der Lösung der jüdischen Frage mit seiner Rede verfolgte?
WURZBACHER: Ja, die Ziele, die hier von ihm bekanntgegeben worden sind, waren – ich möchte sagen – eindeutig und klar. Er verfolgte die Politik, daß die starken Kräfte, die seitens des jüdischen Volkes in der deutschen Wirtschaft und vor allen Dingen im öffentlichen Leben, in den öffentlichen Ämtern waren, beiseite geräumt werden sollten und daß dann zwangsläufig damit auch der Vollzug einer Ausweisung, beziehungsweise eben einer Auswanderung in Frage kommen sollte.
DR. MARX: Waren Sie am 1. April 1933 an dieser Boykottsache irgendwie beteiligt?
WURZBACHER: Jawohl, ich war an dieser Boykottsache beteiligt. Ich habe damals den Auftrag von meinem Gruppenführer bekommen, dafür zu sorgen, daß diese Boykottbewegung in einem Rahmen verlaufe, der geordnet und richtig sei, damit auch ein gewisser Erfolg dieser Boykottbewegung gewährleistet werden könne. Ich habe damals die verschiedenen Kaufhäuser und so weiter nach Anweisung meiner mir untergebenen Sturmführer durch Posten besetzen lassen mit je zwei Mann, die dafür zu sorgen hatten, daß nichts passiere und daß alles in einem klaren und einwandfreien Sinne verlaufen möge.
DR. MARX: Sind da nicht auch Anweisungen von Streicher vorgelegen?
WURZBACHER: Ja, die Anweisungen, die ich von meinem Gruppenführer gehabt habe, waren ja vom Gauleiter Streicher herausgegeben.
DR. MARX: Sollten nicht Tätlichkeiten gegen die Juden unter allen Umständen hintangehalten werden?
WURZBACHER: Es war nicht nur in dem einen Fall so, sondern in allen Fällen. Es wurde wiederholt darauf hingewiesen, daß Tätlichkeiten oder selbständige Gewalthandlungen oder allgemeine Handlungen gegen das jüdische Volk oder gegen den jüdischen Menschen, im besonderen in Nürnberg, zu unterlassen seien, und daß es strengstens verboten war...
DR. MARX: Wie hat sich dann Streicher verhalten, wenn er erfuhr, daß doch solche Gewalttaten einzelner vorgekommen waren?
WURZBACHER: Ich kenne ein Beispiel, wo es dazu kam. Ich glaube wohl, es war eine kleine Schlägerei; jedenfalls aber, es war etwas vorgekommen. Ich kann es jetzt nicht mehr sagen, um welchen Fall es sich handelte. Jedenfalls gab es einen furchtbaren Krach von ihm, und wir SA-Führer wurden entsprechend belehrt und zusammengestaucht, wenn ich das Wort gebrauchen kann.
DR. MARX: Ja, wie äußerte er sich dann dazu; hat er da eine allgemeine Erklärung gegeben, oder?
WURZBACHER: Er sagte – vielleicht darf ich das sinngemäß sagen –, er sagte, daß er in seinem Gau es nicht dulden würde, daß man Menschen schlage oder sonst irgendwie quälen würde, und es fielen dabei auch drastische Ausdrücke gegen den SA-Führer, die meinetwegen in »Lümmel« oder sonst irgendwie – ich kann es nicht mehr sagen – endeten.
DR. MARX: Er wurde aber doch der »blutige Zar von Franken« genannt? Wie ist das zu erklären?
WURZBACHER: Vielleicht ist es seine Art gewesen, wie er sich manchmal gegeben hat. Er konnte manchmal sehr hart und sehr deutlich werden. Jedenfalls kann ich nur sagen, daß ich von einem blutigen Zaren während meiner Tätigkeit nichts erlebt und nichts erfahren habe.
DR. MARX: Wissen Sie etwas, wie er sich den KZ-Lagern gegenüber verhalten hat; hat er Dachau besucht und wie oft, und was hat er dann gemacht?
WURZBACHER: Ich kann darüber keine Auskunft geben; ich weiß nur eines, daß er versucht hat und daß er das auch wiederholt geäußert hat, daß die Menschen, die nun nach Dachau gekommen sind, baldmöglichst herauskommen, wenn nicht irgendeine kriminelle oder sonstige Belastung vorliege. Ich kenne auch einige Fälle, die kurz nach der Inhaftierung oder nach der Verschickung in Konzentrationslager schnell wieder gelöst wurden, so zum Beispiel sein alter Gegner im Rathaus zu Nürnberg, Lehrer Matt, der nach ganz kurzer Zeit wieder entlassen wurde. Ich glaube, es waren wohl drei oder vier Monate gewesen. Ein anderer, ein gewisser Lefender, der in den Gewerkschaften vor allen Dingen tätig war, kam auch nach kurzer Zeit heraus und, wenn ich mich recht entsinne, dann war es wohl das Jahr 1935 oder anfangs 1936 – ich weiß es nicht mehr genau –, wo die letzten aus dem Lager Dachau herauskamen und mit Musik empfangen worden sind.
DR. MARX: Wurde es ihm nicht sehr verübelt, daß er so viele Mitglieder der Linksparteien aus Dachau herausgeholt hat?
WURZBACHER: Es wurde das eine und das andere Mal in den Reihen der SA laut, daß es doch eine nicht zu verantwortende Handlung des Gauleiters sei, nun heute das zu tun, so leicht darüber hinwegzugehen und so weiter, und so weiter; aber es wurde auch darauf hingewiesen von unserer Seite, daß ja letzten Endes der Gauleiter die Verantwortung habe und daß er wissen müsse, was er in diesem oder jenem Falle zu tun habe.
DR. MARX: Ist Ihnen davon etwas bekannt, daß Himmler Streicher gegenüber sein Mißfallen über diese Entschließungen aussprach und ihm ankündigte, daß er mit Maßregelung zu rechnen habe, wenn er damit fortfahre? Wenn Ihnen hierüber nichts bekannt ist, sagen Sie ruhig nein.
WURZBACHER: Nein.
DR. MARX: Ich bin dann mit der Vernehmung dieses Zeugen zu Ende.
VORSITZENDER: Wünscht ein weiterer Verteidiger Fragen zu stellen?
Möchte die Anklagevertretung irgendwelche Fragen stellen?
SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Nein, keine Frage.
VORSITZENDER: Dann kann der Zeuge abtreten.