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[Der Zeuge Gerhard Wagner betritt den Zeugenstand.]

VORSITZENDER: Wollen Sie Ihren vollen Namen angeben?

ZEUGE GERHARD WAGNER: Gerhard Wagner.

VORSITZENDER: Wollen Sie mir den folgenden Eid nachsprechen:

Ich schwöre bei Gott, dem Allmächtigen und Allwissenden, daß ich die reine Wahrheit sagen, nichts verschweigen und nichts hinzusetzen werde.

[Der Zeuge spricht die Eidesformel nach.]

Sie können sich setzen.

FLOTTENRICHTER KRANZBÜHLER: Admiral Wagner! Wann sind Sie in die Kriegsmarine eingetreten?

WAGNER: Am 4. Juni 1916.

FLOTTENRICHTER KRANZBÜHLER: Welche Stellung bekleideten Sie im Oberkommando der Kriegsmarine, und zu welcher Zeit?

WAGNER: Ich war vom Sommer 1933 bis Sommer 1935 Referent in der Operationsabteilung des Oberkommandos als Kapitänleutnant und Korvettenkapitän. Im Jahre 1937 vom Januar bis September in der gleichen Stellung. Von April 1939 bis Juni 1941 Leiter der Operationsgruppe, zugleich Erster Operationsreferent, genannt Ia, in der Operationsabteilung der Seekriegsleitung. Vom Juni 1941... Vom Juni 1941 bis Juni 1944 Chef der Operationsabteilung der Seekriegsleitung. Vom Juni 1944 bis Mai 1945 Admiral zur besonderen Verwendung beim Oberbefehlshaber der Kriegsmarine.

FLOTTENRICHTER KRANZBÜHLER: Sie waren also praktisch während des ganzen Krieges in der Seekriegsleitung?

WAGNER: Ja, das war ich.

FLOTTENRICHTER KRANZBÜHLER: Welche Aufgaben hatte die Seekriegsleitung allgemein?

WAGNER: Alle Aufgaben der Seekriegführung, und zwar sowohl auf dem Wasser wie in der Küstenverteidigung wie bezüglich des Schutzes der eigenen Handelsschiffahrt...

VORSITZENDER: Einen Augenblick, Zeuge, wollen Sie bitte eine kleine Pause machen, nachdem die Frage gestellt wurde, zwischen Frage und Antwort.

WAGNER: Jawohl. Die Aufgaben der Seekriegsleitung waren alle Aufgaben der Seekriegführung sowohl auf dem Wasser wie in der Küstenverteidigung, wie bezüglich des Schutzes der eigenen Handelsschiffahrt. Territoriale Aufgaben hatte die Seekriegsleitung weder im Heimatgebiet noch in den besetzten Gebieten.

FLOTTENRICHTER KRANZBÜHLER: War die Seekriegsleitung ein Teil des Oberkommandos der Kriegsmarine?

WAGNER: Die Seekriegsleitung war ein Teil des Oberkommandos der Seekriegsmarine.

FLOTTENRICHTER KRANZBÜHLER: Wie war das Verhältnis zwischen der Seekriegsleitung und dem Oberkommando der Wehrmacht?

WAGNER: Das Oberkommando der Wehrmacht gab im Aufträge Hitlers, als dem Obersten Befehlshaber der Wehrmacht, Weisungen und Befehle bezüglich der Kriegführung, und zwar soweit die Seekriegführung speziell betroffen war, meistens nach Vorschlag oder nach Mitprüfung der Seekriegsleitung, in allen allgemeinen Fragen der Kriegführung ohne vorherige Beteiligung der Seekriegsleitung.

FLOTTENRICHTER KRANZBÜHLER: In welcher Art vollzogen sich die Vorbereitungen des Oberkommandos der Kriegsmarine auf den Kriegsfall?

WAGNER: Sie bestanden im allgemeinen in Mobilmachungsvorbereitungen, der taktischen Ausbildung und strategischen Überlegungen für einen möglichen Konflikt.

FLOTTENRICHTER KRANZBÜHLER: Erhielt die Seekriegsleitung zu Ihrer Zeit den Befehl zur Vorbereitung einer bestimmten Kriegsmöglichkeit?

WAGNER: Der erste Fall war der Befehl für den Fall »Weiß«, der Krieg gegen Polen. Vorher sind nur Sicherungsaufgaben gestellt worden.

FLOTTENRICHTER KRANZBÜHLER: Wurden Pläne ausgearbeitet für den Seekrieg gegen England?

WAGNER: Einen Kriegsplan gegen England gab es vor Kriegsbeginn überhaupt nicht. Ein solcher Krieg schien uns außerhalb jeglicher Möglichkeit zu liegen. Bei der erdrückenden Überlegenheit der englischen Flotte, die sich kaum in einem Zahlenverhältnis ausdrücken läßt, und bei der beherrschenden seestrategischen Lage Englands, schien ein solcher Krieg völlig hoffnungslos. Das einzige Mittel, mit dem man England bei sonstiger Unterlegenheit wirksam hätte schädigen können, war das Unterseeboot. Aber auch die U-Bootwaffe war keineswegs bevorzugt oder beschleunigt ausgebaut worden, sondern lediglich entsprechend den übrigen Schiffstypen im Rahmen des Aufbaues einer gleichmäßig zusammengesetzten homogenen Flotte. Wir besaßen zu Beginn des Krieges ganze vierzig frontbereite Unterseeboote, von denen nach meiner Erinnerung knapp die Hälfte nur im Atlantik eingesetzt werden konnte. Das ist im Weltmacht England so gut wie nichts. Ich möchte zum Vergleich anführen, daß sowohl die englische wie die französische Kriegsmarine zur gleichen Zeit jede über mehr als 100 U-Boote verfügte.

FLOTTENRICHTER KRANZBÜHLER: Hatte der damalige Kapitän zur See Dönitz als Führer der Unterseeboote irgend etwas zu tun mit der Kriegsplanung?

WAGNER: Der Kapitän zur See Dönitz war damals ein untergeordneter Frontbefehlshaber, der dem Flottenchef unterstand und der die Aufgabe hatte, auf Grund seiner Kriegserfahrungen die junge U-Bootwaffe auszubilden und taktisch zu führen.

FLOTTENRICHTER KRANZBÜHLER: Hat er von sich aus zu irgendwelchen Kriegsplanungen Anregungen gegeben oder Vorschläge gemacht?

WAGNER: Nein. Diese Vorbereitungen für Kriegsplanungen, speziell im Falle »Weiß«, waren ausschließlich Aufgabe der Seekriegsleitung.

FLOTTENRICHTER KRANZBÜHLER: Erhielt Admiral Dönitz von den militärischen Absichten der Seekriegsleitung zu irgendeinem früheren Zeitpunkt Kenntnis...

WAGNER: Nein.

FLOTTENRICHTER KRANZBÜHLER: Erhielt Admiral Dönitz von den militärischen Absichten der Seekriegsleitung zu einem früheren Zeitpunkt Kenntnis, als es nötig war zur Durchführung der ihm erteilten Befehle?

WAGNER: Nein, er erhielt Kenntnis durch die an ihn gelangenden Befehle der Seekriegsleitung.

FLOTTENRICHTER KRANZBÜHLER: Admiral Wagner! Sie kennen das Londoner Protokoll von 1936 über die U-Bootkriegführung. Hat die Seekriegsleitung aus diesem Protokoll irgendwelche Folgerungen gezogen für die Kriegsvorbereitungen, insbesondere für die Führung eines etwaigen Handelskrieges?

WAGNER: Ja, die aus dem Weltkriege noch vorhandene Prisenordnung wurde neubearbeitet und mit dem Londoner Protokoll in Übereinstimmung gebracht. Dazu wurde ein Ausschuß gebildet, der aus Vertretern des Oberkommandos der Kriegsmarine, des Auswärtigen Amtes, des Reichsjustizministeriums und der Wissenschaft bestand.

FLOTTENRICHTER KRANZBÜHLER: Wurde die so geschaffene Prisenordnung schon längere Zeit vor dem Kriege den Kommandanten zur Kenntnis gegeben oder erst in dem Zeitpunkt, in dem kurz Kriegsausbruch veröffentlicht wurde?

WAGNER: Die neue Prisenordnung wurde im Jahre 1938 als interne Dienstvorschrift der Kriegsmarine herausgegeben und stand für den Unterricht der Offiziere zur Verfügung. Bei den Herbstübungen der Flotte 1938 wurde eine Reihe von Übungen angelegt zu dem Zweck, das Offizierskorps mit der neuen Prisenordnung vertraut zu machen. Ich selbst habe damals...

VORSITZENDER: Wo ist die neue Prisenordnung, von der Sie sprechen?

FLOTTENRICHTER KRANZBÜHLER: Ich spreche von der Prisenordnung, Herr Präsident, die am 26. August 1939 veröffentlicht worden ist und die ich in meinem Urkundenbuch abgedruckt habe, und zwar auf Seite 137 im Urkundenbuch Band 3.

VORSITZENDER: Danke!

FLOTTENRICHTER KRANZBÜHLER: Verzeihung, Herr Vorsitzender; es ist nicht der 26., sondern der 28. August, Herr Vorsitzender.

VORSITZENDER: Der Zeuge sagte, daß Übungen durchgeführt wurden?

FLOTTENRICHTER KRANZBÜHLER: Ja, und zwar im Jahre 1938.

VORSITZENDER: Ja.

FLOTTENRICHTER KRANZBÜHLER: [zum Zeugen gewandt] Welche Vorstellungen machte sich die Seekriegsleitung bei Kriegsausbruch über die Entwicklung des Seekrieges gegenüber England?

WAGNER: Die Seekriegsleitung glaubte, daß England etwa da anfangen würde, wo es beim Schluß des ersten Weltkrieges aufgehört hatte, und das bedeutete Hungerblockade gegen Deutschland, Handelskontrolle der Neutralen, Einführung des Kontrollsystems, Bewaffnung der Handelsschiffe und Erklärung von Operationsgebieten.

FLOTTENRICHTER KRANZBÜHLER: Ich lasse Ihnen jetzt übergeben die Kampfanweisung vom 3. September 1939, die unter Dönitz 55 eingereicht ist. Sie ist abgedruckt auf Seite 139 im Band 3 des Dokumentenbuches. Sie sehen daraus, daß die U-Boote zunächst Befehl erhielten, wie alle Seestreitkräfte den Handelskrieg nach Prisenordnung zu führen.

Dann sehen Sie am Schluß einen Befehl, den ich Ihnen verlesen möchte, auf Seite 140.

»Vorbereiteter Befehl für die Verschärfung des Handelskrieges wegen der Bewaffnung feindlicher Handelsschiffe.

1. Mit Bewaffnung Mehrzahl englischer und französischer Handelsschiffe, daher mit Widerstand, ist zu rechnen.

2. U-Boote Handelsschiffe nur anhalten, wenn Gefährdung Bootes ausgeschlossen erscheint. Warnungsloser Angriff U-Boote auf einwandfrei als feindliche erkannte Handelsschiffe freigegeben.

3. Panzerschiffe und Hilfskreuzer bei Anhaltung Möglichkeit Waffengebrauchs der Handelsschiffe beachten.«

Ich möchte Sie fragen, ob das ein lang vorbereiteter Befehl war, oder ob er im letzten Augenblick improvisiert war?

WAGNER: Wir waren zu Kriegsbeginn gezwungen, die Befehle, die wir herausgaben, stark zu improvisieren, weil sie nicht gründlich vorbereitet waren.

FLOTTENRICHTER KRANZBÜHLER: Ist dieser Befehl überhaupt in Kraft getreten?

WAGNER: Nein.

FLOTTENRICHTER KRANZBÜHLER: Warum nicht?

WAGNER: Nach Rücksprache mit dem Auswärtigen Amt waren wir entschlossen, uns so lange strikt an das Londoner Protokoll zu halten, bis wir klare Beweise für die militärische Verwendung der Handelsschiffe – der englischen Handelsschiffahrt – in Händen hatten. Wir wollten der feindlichen Propaganda, deren Macht wir vom Weltkriege her kannten, keinesfalls Anlaß geben, uns wiederum als Piraten der See zu verschreien.

FLOTTENRICHTER KRANZBÜHLER: Wann, zu welchem Zeitpunkt stand für die Seekriegsleitung die militärische Verwendung der feindlichen Handelsschiffe fest?

WAGNER: Bezüglich der Bewaffnung der feindlichen Handelsschiffe schon nach wenigen Kriegswochen. Wir bekamen eine größere Zahl von Meldungen über Artilleriegefechte zwischen U-Booten und bewaffneten feindlichen Handelsschiffen. Wir haben dabei mindestens eins, wahrscheinlich mehrere Boote verloren. Ein englischer Dampfer – ich glaube er hieß »Stonepool« – wurde um diese Zeit von der britischen Admiralität wegen erfolgreicher U-Bootbekämpfung öffentlich belobt.

FLOTTENRICHTER KRANZBÜHLER: Dem Tribunal sind bereits bekannt der Befehl vom 4. Oktober, der den Angriff freigibt auf alle bewaffneten feindlichen Handelsschiffe und der Befehl vom 17. Oktober, der den Angriff freigibt auf alle feindlichen Handelsschiffe mit gewissen Ausnahmen.

Waren diese Befehle das Ergebnis der Erfahrung, die die Seekriegsleitung über den militärischen Einsatz der feindlichen Handelsschiffe hatte?

WAGNER: Ja, ausschließlich.

FLOTTENRICHTER KRANZBÜHLER: In beiden Befehlen sind nun Ausnahmen gemacht zugunsten von Passagierdampfern. Es durften sogar Passagierdampfer in feindlichen Geleitzügen nicht angegriffen werden. Worauf beruhen diese Ausnahmen?

WAGNER: Sie beruhen auf einer Weisung des Führers. Er hatte zu Kriegsbeginn bekanntgegeben, daß Deutschland nicht die Absicht habe, gegen Frauen und Kinder Krieg zu führen. Aus diesem Grunde wünschte er auch im Seekriege jegliche Zwischenfälle zu vermeiden, bei denen Frauen und Kinder umkommen konnten. So wurde sogar das Anhalten aller Passagierdampfer verboten. Mit der militärischen Notwendigkeit des Seekrieges war dieser Befehl sehr schwer zu vereinbaren, vor allem, solange die Passagierdampfer innerhalb von feindlichen Geleitzügen fuhren. Der Befehl wurde dann später schrittweise abgebaut, als es einen friedlichen Passagierdampfer überhaupt nicht mehr gab, nachdem uns bekannt war, daß die feindlichen Passagierdampfer besonders bevorzugt und besonders stark bewaffnet wurden, und als die Passagierdampfer, soweit sie überhaupt in Fahrt blieben, mehr und mehr nur noch als Hilfskreuzer und Truppentransporter Verwendung fanden.

FLOTTENRICHTER KRANZBÜHLER: Wurden die Befehle der deutschen Seekriegsleitung über die Bekämpfung der bewaffneten feindlichen Schiffe und später der feindlichen Schiffe allgemein der britischen Admiralität bekanntgegeben?

WAGNER: Eine Bekanntgabe von Kriegsmaßnahmen hat es während des Krieges auf beiden Seiten nicht gegeben und ist auch in diesem Falle nicht erfolgt. Jedoch ließ die deutsche Presse im Oktober schon keinen Zweifel mehr, daß wir jedes bewaffnete feindliche Handelsschiff warnungslos versenken würden und später, daß wir die gesamte feindliche Handelsschiffahrt als militärisch gesteuert und militärisch eingesetzt ansehen mußten. Diese Presseäußerungen mußten zweifellos der britischen Admiralität und auch den Neutralen bekannt sein. Außerdem hat, glaube ich, im Oktober Großadmiral Raeder ein Presseinterview im gleichen Sinne gegeben.

FLOTTENRICHTER KRANZBÜHLER: Mitte Oktober ist eine Denkschrift der Seekriegsleitung entstanden: »Über die Möglichkeiten zu einer Verschärfung des Handelskrieges.« Ich lasse Ihnen die Denkschrift übergeben, sie hat die Nummer GB-224.

Wollen Sie mir sagen, nachdem Sie sich die Denkschrift angesehen haben, welchen Zweck verfolgte sie, und was enthält sie?

Herr Präsident! Einige Auszüge sind abgedruckt auf der Seite 199 im Urkundenbuch Band 4.

WAGNER: Die Lage, aus der diese Denkschrift entstanden war, erfolgte mit Kriegsbeginn. Am 3. September 1939 hat England die totale Hungerblockade gegen Deutschland verhängt. Diese war naturgemäß nicht nur gegen die Kämpfer, sondern gegen alle Nichtkämpfer, Frauen, Kinder, Greise und Kranke gerichtet. Sie bestand darin, daß England alle Lebensmittel, alle Genußmittel, die gesamte Bekleidung und alle für diese Produkte gehörenden Rohstoffe als Konterbande erklärte, im Zusammenhang mit einer scharfen Kontrolle des neutralen Schiffsverkehrs, der diesen praktisch von Deutschland abschnitt, soweit er von England kontrollierte Gewässer passieren mußte. Außerdem begann England einen wachsenden politischen und wirtschaftlichen Druck auf die europäischen Festlandnachbarn Deutschlands, jeden Handel mit Deutschland einzustellen.

Diese Absicht der totalen Hungerblockade war von dem Chef der Britischen Regierung, Ministerpräsident Chamberlain, in einer Unterhausrede Ende September 1939 ausdrücklich bestätigt worden, indem er Deutschland als eine belagerte Festung bezeichnete und hinzufügte, daß es nicht üblich sei, einer belagerten Festung freie Rationen zu gewähren. Dieser Ausdruck der belagerten Festung wurde auch von der französischen Presse übernommen.

Des weiteren erklärte Ministerpräsident Chamberlain etwa anfangs Oktober, nach der Denkschrift am 12. Oktober, daß England in diesem Kriege seine gesamte Stärke zur Vernichtung Deutschlands zum Einsatz bringen würde. Daraus zogen wir die Schlußfolgerung, im Zusammenhang mit den Erfahrungen des Weltkrieges, daß England alsbald gegen die deutsche Ausfuhr vorgehen würde unter irgendeinem Vorwand.

Unter diesem Eindruck der totalen Hungerblockade, die zweifellos in langer Friedensarbeit völlig vorbereitet war, mußten wir nun außerordentliche Versäumnisse nachholen, den Krieg gegen England nicht vorbereitet zu haben. Wir suchten sowohl nach der rechtlichen wie nach der militärischen Seite die Möglichkeiten, die sich nunmehr uns boten, auch England von seiner Zufuhr abzuschneiden.

Das war der Zweck der Denkschrift.

FLOTTENRICHTER KRANZBÜHLER: Sie sagen also, daß die Denkschrift Überlegungen darüber enthält, wie man den britischen Maßnahmen begegnen kann mit entsprechend wirksamen deutschen Maßnahmen?

WAGNER: Jawohl, das war der ausdrückliche Zweck dieser Denkschrift.

FLOTTENRICHTER KRANZBÜHLER: In dieser Studie befindet sich nun ein Satz, und zwar im zweiten Abschnitt C. Eins, daß die Seekriegsführung grundsätzlich im Rahmen des geltenden Völkerrechts bleiben müsse, daß aber kriegsentscheidende Maßnahmen auch dann durchzuführen seien, wenn das geltende Völkerrecht nicht auf sie Anwendung finden könne.

Wollte sich die Seekriegsleitung damit vom Völkerrecht allgemein lossagen, oder was ist die Bedeutung dieses Satzes?

WAGNER: Diese Frage ist seinerzeit innerhalb der Seekriegsleitung sehr eingehend studiert und erörtert worden. Ich möchte darauf hinweisen, daß auf Seite 2 der Denkschrift im ersten Absatz ausgedrückt ist, daß die volle Achtung der Gebote der soldatischen Kampfsittlichkeit über allen Maßnahmen des Seekrieges zu stehen habe. Damit war von vorneherein einer Verwilderung des Seekrieges vorgebeugt. Wir waren allerdings der Auffassung, daß die moderne technische Entwicklung Bedingungen des Seekrieges geschaffen habe, die durchaus auch eine Weiterentwicklung des Seekriegsrechts rechtfertigte und forderte.

FLOTTENRICHTER KRANZBÜHLER: Welche technische Entwicklungen meinen Sie dabei?

WAGNER: Ich meine in erster Linie zwei Punkte. Zunächst den in diesem Umfange erstmaligen Einsatz des Flugzeuges im Seekriege. Durch die Geschwindigkeit und den weiten Überblick des Flugzeuges wurden vor den Küsten aller Kriegführenden militärisch gesicherte Zonen geschaffen, in denen von einem freien Meer nicht mehr die Rede sein konnte.

Der zweite Punkt ist die Einführung der elektrischen Ortungsgeräte, die es schon bei Kriegsbeginn gestatteten, einen Gegner, den man nicht sah, festzustellen und gegen ihn Streitkräfte einzusetzen.

FLOTTENRICHTER KRANZBÜHLER: In der Denkschrift heißt es, daß kriegsentscheidende Maßnahmen auch dann getroffen werden sollen, wenn damit neues Seekriegsrecht geschaffen werde. Ist es zu solchen Maßnahmen gekommen?

WAGNER: Nein, jedenfalls nicht unmittelbar. Inzwischen wurde, ich glaube es war am 4. November, von den Vereinigten Staaten von Nordamerika die sogenannte amerikanische Kampfzone erklärt. Sie wurde ausdrücklich damit begründet, daß in dieser Zone die tatsächlichen Kampfaktionen die Schiffahrt für amerikanische Schiffe gefährlich machten. Durch diese Bekanntmachung waren einige Punkte der Denkschrift alsbald überholt. Wir haben uns praktisch im Rahmen der Maßnahmen gehalten, wie sie von beiden Parteien auch schon während des Weltkrieges angewandt worden waren.

FLOTTENRICHTER KRANZBÜHLER: Meinen Sie mit diesen Maßnahmen die Warnung vor dem Befahren bestimmter Seegebiete?

WAGNER: Ja.

FLOTTENRICHTER KRANZBÜHLER: In einigen Dokumenten der Anklage mit den Nummern GB-194 und 226 wird den U-Booten der warnungslose Angriff auf alle Schiffe in bestimmten Gebieten freigegeben, und zwar vom Januar 1940 an. Dabei sollte der Angriff möglichst ungesehen erfolgen, unter möglichster Aufrechterhaltung der Fiktion von Minentreffern.

Wollen Sie dem Tribunal einmal sagen, um welche Seegebiete es sich dabei handelte? Ich überreiche Ihnen zu diesem Zweck eine Seekarte, die ich dem Tribunal als Dönitz 93 anbiete.

Wollen Sie mal erläutern, was auf der Seekarte zu sehen ist?

WAGNER: In der Mitte der Karte sind die Britischen Inseln dargestellt. Das große Seegebiet, das am Rande schraffiert ist, stellt die vorhin erwähnte amerikanische Kampfzone dar. Die schraffierten Seegebiete in der Nähe der englischen Küsten bedeuten die den deutschen U-Booten befohlenen Operationsgebiete. Sie sind nach dem Zeitpunkt ihrer Einführung mit Buchstaben von A bis F bezeichnet.

FLOTTENRICHTER KRANZBÜHLER: Können Sie sagen, bis zu welchen Meerestiefen diese deutschen Operationsgebiete gingen?

WAGNER: Ich glaube, daß es etwa bis zur 200- Meter-Linie gegangen ist.

FLOTTENRICHTER KRANZBÜHLER: Ist das eine Tiefe, die eine günstige Verwendung von Minen gewährleistet?

WAGNER: Jawohl. Mit 200 Metern ist jede Verwendung von verankerten Minen ohne weiteres möglich.

FLOTTENRICHTER KRANZBÜHLER: Nun sind in diesen Operationsgebieten bestimmte Daten eingetragen. Wollen Sie einmal erläutern, wie es dazu kam, daß gerade an diesen Daten und in dieser Reihenfolge die Gebiete zu Operationsgebieten erklärt wurden?

WAGNER: Als Operationsgebiete wurden diejenigen Gebiete erklärt, in denen sich durch die Bindung des feindlichen Verkehrs und die Konzentration der feindlichen Abwehr im Zusammenhang mit unseren dagegen eingesetzten Streitkräften Zentren der Kampfhandlungen ergaben. Dies waren zunächst die Gebiete am Nordende und Südende des englischen Minenwarngebietes, das an der Ostküste Englands erklärt worden war; außerdem der Bristol-Kanal. Man sieht daher bei dem Gebiet »A« im Raum ostwärts Schottland das Datum vom 6. Januar, im Bristol-Kanal. das Datum vom 12, Januar, und schließlich am Südende des Warngebietes, also ostwärts London, den 24. Januar.

Später wurden je nach Entwicklung der tatsächlichen Kampflage weitere Gebiete rund um die Britischen Inseln und schließlich auch vor der französischen Küste erklärt.

FLOTTENRICHTER KRANZBÜHLER: Bis wann dauerte diese

WAGNER: Das letzte Gebiet wurde am 28. Mai 1940 erklärt.

FLOTTENRICHTER KRANZBÜHLER: Waren die Neutralen vor dem Befahren dieser Gebiete gewarnt worden?

WAGNER: Ja, den Neutralen war in einer offiziellen Note mitgeteilt worden, daß die gesamte USA- Kampfzone als gefährdetes Gebiet anzusehen sei und daß sie sich in der Nordsee ostwärts und südlich des deutschen Minenwarngebietes, das sich nördlich Hollands befand, halten sollten.

FLOTTENRICHTER KRANZBÜHLER: Welchen Unterschied bedeutet nun der Zustand, wie er in dieser Seekarte hier beschrieben ist, gegenüber der deutschen Blockadeerklärung vom 17. August 1940?

Das ist die Erklärung, Herr Präsident, die ich als Dönitz 104 überreicht habe, und die auf der Seite 214 Ihres Urkundenbuches abgedruckt ist.