[Zum Zeugen gewandt:]
Ich möchte Sie fragen, ob Raeder zu dieser Denkschrift einen Auftrag erteilt hat oder wie es überhaupt zu dieser Schrift gekommen ist?
WAGNER: Großadmiral Raeder hat zu dieser Denkschrift keinen Auftrag erteilt. Es handelt sich hier um persönliche, theoretische Gedanken des Admirals Fricke für eventuelle Entwicklungsmöglichkeiten der Zukunft. Sie sind recht phantastisch und hatten keine praktische Bedeutung.
DR. SIEMERS: Ist in der Seekriegsleitung über diese Studie oder diese Niederschrift überhaupt in größerem Kreise gesprochen und beraten worden?
WAGNER: Nein, meines Erachtens haben nur die Operitionsreferenten von dieser Niederschrift Kenntnis bekommen, die schon in ihrer ganzen Form beweist, daß dies keine ausgearbeitete Studie im Auftrag des Großadmirals ist, sondern eine ad hoc-Niederschrift von Augenblicksgedanken des Admirals Fricke.
DR. SIEMERS: Wurde diese Studie oder diese Schrift überhaupt nach außen hin irgendwo weitergegeben?
WAGNER: Ich glaube mich zu erinnern, daß diese Schrift an keine Stelle nach außen weitergegeben wurde, sondern lediglich innerhalb der Operationsabteilung blieb. Auch der Großadmiral hat meines Erachtens keine Kenntnis bekommen, zumal auch aus diesem Schreiben hervorgeht, daß er es nicht abgezeichnet hat.
DR. SIEMERS: Haben Sie eine Photokopie dieses Schreibens?
WAGNER: Ja.
DR. SIEMERS: Sind denn sonst andere Zeichen darauf, aus denen sich ergeben könne, daß es Großadmiral Raeder vorgelegt ist? Wie wurde so etwas überhaupt im allgemeinen von der Seekriegsleitung gehandhabt?
WAGNER: Jedes Schreiben, das dem Großadmiral vorgelegt werden sollte, hatte auf der ersten Seite auf dem linken Rande den Vermerk: v. A. v. – »vor Abgang vorzulegen« – oder n.E.v. – »nach Eingang vorzulegen« – oder b.L.v. »beim Lagevortrag vorzutragen«. An dieser Stelle zeichnete der Großadmiral mit Grünstift ab oder die Offiziere seines persönlichen Stabes machten einen Vermerk, aus dem zu erkennen war, daß es ihm vorgelegt wurde.
DR. SIEMERS: Derartige Vermerke sind auf dieser Schrift nicht?
WAGNER: Nein – nein.
DR. SIEMERS: Ich möchte Ihnen jetzt das Dokument C-38 vorlegen, ein Dokument der Anklagebehörde, das die Nummer GB-223 trägt. Es findet sich im Dokumentenbuch Raeder der Anklage auf Seite 11.
Der Krieg zwischen Deutschland und Rußland begann am 22. Juni 1941. Nach der vorletzten Seite der Urkunde, die Sie vor sich haben, hat das OKW bereits am 15. Juni, also eine Woche vor Kriegsausbruch, den Waffeneinsatz gegen feindliche U-Boote südlich der Linie Memel-Südspitze Öland freigegeben, und zwar auf Antrag der Seekriegsleitung.
Die Anklage erhebt daraus den Vorwurf, und zwar wiederum in Richtung eines Angriffskrieges. Leider hat die Anklagebehörde nur diese letzte Seite des Dokuments vorgelegt. Sie hat nicht die erste und zweite Seite des Dokuments gebracht. Hätte sie diese gebracht, wäre der Vorwurf wahrscheinlich fallen gelassen worden.
Ich darf Ihnen, Herr Zeuge, eben vorhalten, was dort steht. Ich zitiere:
»Am 12. 6. 20.00 Uhr meldete eines der vorsorglich beiderseits Bornholm aufgestellten VP.-Boote um 20.00 Uhr in der Nähe von Adlergrund (20 sm südwestlich Bornholm) ein unbekanntes U-Boot in aufgetauchtem Zustande mit Westkurs, welches ES-Anruf nach längerer Zeit mit einem Buchstabensignal ohne besondere Bedeutung beantwortete.«
Das Zitat ist zunächst zu Ende.
Ich darf Sie bitten, eben zu erklären, was es bedeutet, wenn dieses U-Boot den ES-Anruf nicht beantwortete?
WAGNER: Es gibt im Kriege unter Kriegsschiffen der eigenen Flotte die Einrichtung der Erkennungssignale, das heißt das Erkennungssignal hat einen Anruf und eine Antwort, aus der sich ohne weiteres die Identität des Fahrzeuges für die Zugehörigkeit zur eigenen Marine ergibt. Wenn ein ES-Anruf falsch beantwortet wird, dann wird damit bewiesen, daß es sich um ein fremdes Fahrzeug handeln muß.
DR. SIEMERS: Wurden sonst noch irgendwelche Feststellungen, so wie Sie sich erinnern, in dieser Richtung gemacht, die zeigten, daß sich Boote in der Ostsee zeigten, die als feindlich erkannt wurden?
WAGNER: Ja, ich erinnere mich daran, daß noch in einzelnen Fällen unbekannte U-Boote vor den deutschen Ostseehäfen beobachtet wurden. Die nachträgliche Feststellung im Vergleich mit den Standorten der eigenen U-Boote ergab, daß es sich um fremde U- Boote handeln mußte.
DR. SIEMERS: Waren diese Tatsachen also die Veranlassung für die Seekriegsleitung, darum zu bitten, den Waffeneinsatz schon jetzt freizugeben?
WAGNER: Ja, ausschließlich.
DR. SIEMERS: Ein ähnlicher Fall wird vorgeworfen bezüglich Griechenland. Es ist hier am Gericht festgestellt, und zwar durch das Kriegstagebuch, daß am 30. Dezember 1939 die Seekriegsleitung einen Antrag stellte, daß griechische Schiffe in der amerikanischen Sperrzone um England als feindlich behandelt werden können. Da Griechenland seinerzeit neutral war, wird der Vorwurf des Neutralitätsbruchs gegenüber Raeder erhoben.
Ich darf Sie bitten zu sagen, welches der Grund für die Skl und für deren Chef Raeder war, diesen Antrag beim OKW zu stellen.
WAGNER: Wir hatten die Nachricht erhalten, daß Griechenland den größten Teil seiner Handelsflotte England zur Verfügung gestellt hatte und daß diese griechischen Schiffe unter englischer Steuerung fuhren.
DR. SIEMERS: Und es ist doch richtig, daß nicht etwa die griechischen Schiffe nun grundsätzlich als feindlich behandelt wurden, sondern nur in der amerikanischen Sperrzone um England?
WAGNER: Jawohl.
DR. SIEMERS: Der nächste Fall, der auf einer ähnlichen Linie liegt, ist der Fall im Juni 1942, wo die Seekriegsleitung beim Oberkommando beantragte, brasilianische Schiffe angreifen zu dürfen, obwohl damals Brasilien noch neutral war. Der Krieg mit Brasilien begann etwa zwei Monate später, am 22. August. Welche Gründe lagen hierfür vor?
WAGNER: Wir bekamen Meldungen von Unterseebooten aus den Seegewässern um Südamerika, daß sie von Fahrzeugen angegriffen worden seien, die nur von brasilianischen Stützpunkten aus gestartet sein konnten. Diese Fragen wurden zunächst durch Rückfragen eingehend geklärt und bestätigten sich. Darüber hinaus glaube ich mich persönlich zu erinnern, daß damals bereits allgemein bekannt war, daß Brasilien den mit uns im Krieg befindlichen USA See- und Luftstützpunkte zur Benützung zur Verfügung gestellt hatte.
DR. SIEMERS: Es beruhte also auf einem Neutralitätsbruch seitens Brasiliens?
WAGNER: Ja.
DR. SIEMERS: Ich möchte Ihnen dann die Urkunden C-176 und D-658 vorlegen. Die Urkunde C-176 hat die Nummer GB-228. Diesen beiden Urkunden liegt der Kommandobefehl zugrunde, also der Befehl, Sabotagetrupps zu vernichten.
Die Anklagebehörde hat Raeder einen Fall vorgeworfen, der sich im Dezember 1942 in der Gironde- Mündung in Bordeaux ereignete. In dieser Urkunde C-176, und zwar auf der letzten Seite, steht, was ich wörtlich zitieren möchte, folgendes:
»Erschießung der zwei gefangenen Engländer durch ein Kommando vom Hfkdt. Bordeaux in Stärke von 1/16 Mann im Beisein eines Offiziers des SD auf Befehl des Führers durchgeführt.«
Aus den vorhergehenden Eintragungen, die ich nicht einzeln erst zitieren möchte, da sie das gleiche Bild geben, ergibt sich, daß sich der SD direkt eingeschaltet hatte und direkt mit dem Führerhauptquartier in Verbindung getreten war.
Ich frage Sie nun, ob die Seekriegsleitung vor der Erschießung dieser beiden Gefangenen überhaupt etwas von der Angelegenheit gehört hat beziehungsweise von dem hier erwähnten direkten Befehl Hitlers.
WAGNER: Mit einem direkten Befehl Hitlers zur Erschießung von Leuten in Bordeaux ist die Seekriegsleitung nicht befaßt worden; sie kannte den taktischen Ablauf dieser Sabotageunternehmung in Bordeaux, und darüber hinaus hat sie zu diesem Zeitpunkt nichts gewußt.
DR. SIEMERS: Bei der Seekriegsleitung beziehungsweise bei Großadmiral Raeder ist demnach dieser Fall nicht vorher besprochen und unterbreitet worden?
WAGNER: Ja, ich bin sicher, daß das nicht der Fall gewesen ist.
DR. SIEMERS: Herr Präsident! Ich darf das Tribunal bitten, darauf zu achten, daß dieses Kriegstagebuch nicht etwa das Kriegstagebuch ist, von dem sonst immer die Rede ist, nämlich das Kriegstagebuch der Seekriegsleitung, sondern das Kriegstagebuch des Marinebefehlshabers West, das also der Seekriegsleitung nicht bekannt war. Darauf beruht es, daß die Seekriegsleitung den Fall nicht kannte.
VORSITZENDER: Sie beziehen sich jetzt auf Dokument C-176?
DR. SIEMERS: Ja, und ebenso auf D-658. Dabei handelt es sich um das Kriegstagebuch der Seekriegsleitung.
VORSITZENDER: Worauf bezieht sich das?
DR. SIEMERS: Das ist D-658, woraus sich folgendes ergibt:
Nach dem Wehrmachtsbericht sind die beiden Soldaten inzwischen erschossen, die Maßnahme würde dem besonderen Befehl des Führers entsprechen. Das hatte die Anklage vorgelegt, und es zeigt, worauf ich später noch zurückkommen werde, daß die Seekriegsleitung nichts von der ganzen Sache wußte, denn hier findet sich schon eine Eintragung vom 9. Dezember, während in Wirklichkeit sich alles erst am 11, abspielte.
VORSITZENDER: Es wäre jetzt vielleicht ein geeigneter Zeitpunkt für eine Pause.