[Pause von 10 Minuten.]
DR. SIEMERS: Herr Großadmiral! Über diesem Prozeß steht der Satz: »Angriffskriege sind ein Verbrechen.«
Wir haben eben aus Ihrer Rede gesehen, daß Sie diesen Satz bereits im Januar 1928 vor dem Kellogg- Pakt benutzt haben. Ich möchte Sie abschließend nur noch dazu fragen: Ist dieser Grundsatz aus dem Jahre 1928 Ihr Grundsatz die ganze Zeit Ihrer Marineführung über geblieben?
RAEDER: Selbstverständlich.
DR. SIEMERS: Im Zusammenhang mit dem Versailler Vertrag möchte ich jetzt ein Affidavit vorlegen, weil hier einige Zahlen notwendig sind und die einfacher schriftlich vorzulegen sind, als durch Vernehmung, und zwar überreiche ich das Affidavit II von Vizeadmiral Lohmann, Raeder-Exhibit Nummer 8, Dokumentenbuch I, Seite 39.
Ich darf zur Orientierung des Tribunals, damit kein Mißverständnis entsteht, darauf aufmerksam machen, daß Viezeadmiral Lohmann nichts zu tun hat mit dem in den zwanziger Jahren bekannt, ja fast berühmt gewordenen Kapitän zur See Lohmann. Das Tribunal erinnert sich vielleicht, daß von der Lohmann-Affäre gesprochen worden ist im Zusammenhang mit den Verstößen gegen den Versailler Vertrag. Der damalige Kapitän Lohmann ist im Jahr 1930 verstorben und hat nichts mit dem jetzigen Schreiber dieses Affidavits, Vizeadmiral Lohmann, zu tun. Ich darf auch hierbei daran erinnern, daß die Lohmann-Affäre zeitlich vor der Marineleitung durch den Angeklagten Raeder liegt, also 1928 bereits erledigt war.
Ich zitiere aus dem Affidavit Lohmann, die Ausführung unter I:
VORSITZENDER: Wollen Sie diesen Vizeadmiral Lohmann als Zeugen aufrufen?
DR. SIEMERS: Nein. Ich hatte ihn nicht als Zeugen benannt, sondern mich mit einem Affidavit begnügt, wegen der verhältnismäßig vielen Zahlen.
Die Britische Delegation der Anklage hat sich mit dem Affidavit bereits einverstanden erklärt, daß es überreicht werden kann, hat aber ihrerseits darum gebeten, daß ein Kreuzverhör von Admiral Lohmann stattfindet, und auf diesem Wege hat sich Sir David mit mir verständigt.
VORSITZENDER: Ja, gut. Sie brauchen die einzelnen Zahlen der Tonnage wohl nicht zu zitieren. Es ist wahrscheinlich nicht nötig, daß Sie dies alles verlesen?
DR. SIEMERS: Nein, die einzelnen Zahlen wollte ich auch nicht verlesen. Ich darf nur darauf hinweisen, daß es sich hier nicht um das Affidavit mit der Tonnage handelt, sondern hier um Raeder Nummer 8, Seite 39.
VORSITZENDER: Ja, das habe ich, das habe ich gefunden. Es spricht aber auch von sehr vielen Tonnen.
DR. SIEMERS: Ich darf nur eben vorlesen unter I:
»Deutschland durfte im Rahmen des Versailler Vertrages acht Panzerschiffe bauen. Deutschland baute jedoch nur drei Panzerschiffe, nämlich: ›Deutschland‹, ›Admiral Scheer‹ und ›Graf Spee‹.«
Das nächste übergehe ich.
»II. Deutschland durfte im Rahmen des Versailler Vertrages acht Kreuzer bauen. Deutschland baute jedoch nur sechs Kreuzer.«
Die Einzelheiten lasse ich, dem Wunsche des Gerichts entsprechend, fort.
»III. Deutschland durfte im Rahmen des Versailler Vertrages 32 Zerstörer beziehungsweise Torpedoboote bauen. Deutschland baute jedoch nur 12 Zerstörer und keine Torpedoboote.«
[Zum Zeugen gewandt:]
Demnach hat Deutschland beim Ausbau der Marine in keiner Weise die Möglichkeiten des Versailler Vertrages ausgenutzt und, wenn ich richtig sehe, speziell den Bau derjenigen Waffen unterlassen, die Offensivwaffen waren, nämlich die großen Schiffe.
Darf ich bitten, sich hierüber kurz zu äußern?
RAEDER: Allerdings, das stimmt durchaus. Es ist an sich eigentlich erstaunlich, daß der Versailler Vertrag in diesem Zeitabschnitt so wenig ausgenutzt worden ist. Es ist mir das nachher auch zum Vorwurf gemacht worden bei Antritt der nationalsozialistischen Regierung, wobei aber nicht berücksichtigt wurde, daß die damaligen Regierungen und der Reichstag nicht geneigt waren, uns diese Schiffe zu bewilligen, daß wir erst sehr hart darum kämpfen mußten. Aber dieser Nichtausbau der Marine, der gestattet war. stand in gar keinem Verhältnis zu den kleinen Überschreitungen des Versailler Vertrages, die wir in der Hauptsache begingen, um eine, man kann sagen, armselige Verteidigung der Küste für die äußersten Notfälle aufzubauen.
Ich komme nachher auf das Dokument C-32 noch zurück.
DR. SIEMERS: Es steht also fest, daß Deutschland während des Versailler Vertrages die Marine, speziell hinsichtlich der Offensivwaffe, nicht ausnützte. Andererseits steht aber auf Grund der von der Anklagebehörde vorgelegten Dokumente fest und es ist auch geschichtlich bekannt, daß die Marine bei ihrem Aufbau in anderer Beziehung gegen den Versailler Vertrag verstoßen hat. Ich möchte gern die einzelnen Verstöße, die mit großer Präzision von der Anklage vorgetragen sind, mit Ihnen durchgehen, möchte aber zunächst noch den allgemeinen Vorwurf behandeln, den ich schon erwähnte, daß Sie diese Verstöße hinter dem Rücken des Reichstags und der Reichsregierung unternahmen.
Ist dieser Vorwurf berechtigt?
RAEDER: In keiner Weise. Ich muß nochmals wiederholen, daß ich mit diesen Verstößen zu tun hatte erst, als ich am 1. Oktober 1928 Chef der Marineleitung in Berlin wurde. Mit den Dingen, die vorher lagen, hatte ich nichts zu tun.
Als ich nach Berlin kam, war der von Ihnen vorher erwähnte Lohmann-Fall schon erledigt. Er war noch in der Liquidation begriffen und der Reichswehrminister Groener hatte, als die Angelegenheit aufgedeckt wurde, sowohl dem Heer als auch der Marine befohlen, alle Verstöße, die im Gange waren, ihm zu melden, und von jetzt ab würde er diese Dinge mit dem Oberst von Schleicher, seinem politischen Berater, zusammen behandeln. Er liquidierte die Lohmann- Angelegenheit, und diese Liquidation war noch im Gange als ich hinkam.
Am 1. Oktober 1928 hatte er schon den Entschluß gefaßt, die Verantwortung für diese gesamten Abweichungen und Verstöße vom Versailler Vertrag der Reichsregierung in ihrer Gesamtheit, damals die Regierung Müller-Severing-Stresemann, zu übertragen, da er glaubte, diese Verantwortung nicht mehr allein tragen zu können.
Infolgedessen rief er zum 18. Oktober, als ich mich gerade eingearbeitet hatte in alle diese Dinge, eine Kabinettssitzung ein, zu der der Chef der Heeresleitung, General Heye, und ich sowie einige Amtschefs beider Verwaltungen berufen wurden, und in dieser Kabinettssitzung vor den sämtlichen Ministern mußten der General Heye und ich ganz offen und vollzählig darlegen, welche Verstöße bei Heer und Marine vorlagen. Die Regierung Müller-Severing-Stresemann übernahm diese Verantwortung im vollen Maße, entlastete den Reichswehrminister, der ihr aber weiterhin verantwortlich blieb für die Durchführung der Dinge. Wir mußten alles, was nun in Zukunft noch geschah, dem Reichswehrminister melden und durften keine Schritte allein unternehmen. Der Reichswehrminister behandelte die Dinge in der Regel mit dem Reichsinnenminister Severing, der großes Verständnis für die verschiedenen Notwendigkeiten zeigte.
DR. SIEMERS: Sie haben bei dieser Kabinettssitzung zusammen mit General Heye als Chef der Heeresleitung eine Liste der einzelnen kleinen Verstöße vorgelegt?
RAEDER: Jawohl, jawohl.
DR. SIEMERS: Und daraufhin hat die Regierung Ihnen erklärt: »Wir übernehmen die Verantwortung«?
RAEDER: Jawohl.
DR. SIEMERS: Haben Sie dann dementsprechend in den folgenden Jahren stets in Übereinstimmung mit der Reichsregierung gehandelt?
RAEDER: Jawohl, der Reichswehrminister Groener war auf diesem Punkt außerordentlich empfindlich. Er hatte sämtliche sogenannten »Schwarzen Fonds«, die vorhanden waren, aufgelöst und hielt auf das äußerste darauf, daß er alles erfuhr und genehmigen solle. Nur so glaubte er, die Verantwortung vor der Regierung tragen zu können.
Mit dem Reichstag hatte ich überhaupt nichts zu tun. Die militärischen Chefs durften mit Reichstagsmitgliedern in solchen Dingen überhaupt nicht verhandeln, sondern jede Verhandlung mit dem Reichstage wurde durch den Reichswehrminister oder in seinem Auftrage durch den Oberst von Schleicher ausgeführt. Ich kam also gar nicht in die Lage, den Reichstag irgendwie zu hintergehen. Ich konnte über Etatsachen mit Reichstagsmitgliedern nur sprechen im sogenannten Haushaltsausschuß, wo ich neben dem Reichswehrminister saß und fachtechnische Erklärungen zu seinen Ausführungen geben konnte.
DR. SIEMERS: Es gab also ab 1928, also von Ihrer Zeit ab, keine geheimen Etats mehr innerhalb des Aufbaus der Marine ohne Zustimmung der Reichsregierung?
RAEDER: Ohne Zustimmung der Reichsregierung, vor allen Dingen auch des Reichsverteidigungsministers, der uns das Geld auch zuteilte, genau wie den andern Etats.
DR. SIEMERS: Ich darf das Tribunal bitten, in diesem Zusammenhang sich den bereits überreichten Raeder Nummer 3, »Verfassung des Deutschen Reiches«, Dokumentenbuch 1, Seite 10, in Artikel 50 anzusehen. Er ist kurz und lautet:
»Alle Anordnungen und Verfügungen des Reichspräsidenten, auch solche auf dem Gebiete der Wehrmacht, bedürfen zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung durch den Reichskanzler oder den zuständigen Reichsminister. Durch die Gegenzeichnung wird die Verantwortung übernommen.«
Das ist der verfassungsmäßige Grundsatz, auf dem die damalige Reichsregierung, Stresemann-Müller-Severing, im Oktober 1928 bestanden hat.
Ein wichtiger Teil des Aufbaus der Marine bestand darin, daß die veralteten Linienschiffe aus dem vorigen Kriege und Kreuzer erneuert wurden. Ich erlaube mir, in dieser Beziehung dem Tribunal Raeder-Exhibit Nummer 7, Dokumentenbuch I, Seite 23 vorzulegen. Bei dieser Urkunde handelt es sich um den sogenannten Schiffsbauersatzplan. Dieser Schiffsbauersatzplan wurde, wie Seite 24 des Dokumentenbuches ergibt, und zwar in Absatz 2, unter Ziffer 2, auf einen Beschluß des Reichstages hin vorgelegt. Ich darf dann in dieser Urkunde noch verweisen auf Seite 24, Ziffer 3, woraus sich ergibt, daß dieser Schiffsbauersatzplan sich auf drei Panzerschiffe erstreckt und weiter hinzugefügt wird, daß sich der Neubau bis etwa 1938 erstrecken dürfe.
Hohes Tribunal! Diese Zahl ist wichtig. Die Anklage hat aus der zufälligen Tatsache, daß 1933 ein Bauplan bis 1938 aufgestellt wurde, eine Angriffsabsicht herleiten wollen. Dieser Schiffsbauersatzplan aus dem Jahre 1930 hat dasselbe Endziel im Jahre 1938 und kann, wie auch die Anklage zugeben wird, nichts mit Angriffskrieg zu tun haben.