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[Das Gericht vertagt sich bis

16. Mai 1946, 10.00 Uhr.]

Einhunderteinunddreißigster Tag.

Donnerstag, 16. Mai 1946.

Vormittagssitzung.

[Der Angeklagte Raeder im Zeugenstand.]

OBERST CHARLES W. MAYS, GERICHTSMARSCHALL: Hoher Gerichtshof! Der Angeklagte Sauckel und der Angeklagte von Papen sind abwesend.

DR. WALTER SIEMERS, VERTEIDIGER DES ANGEKLAGTEN RAEDER: Herr Großadmiral! Wir sind gestern bei der etwas mühsamen Urkunde C-32 stehengeblieben, und zwar bei der Position 11. Es kommt jetzt die Position 12: Überschreiten der zugestandenen Bestände an Munition. Ich darf das Tribunal daran erinnern, es ist die Urkunde C-32, US- 50, im Dokumentenbuch 10a, Seite 8. Position 12, die jeweils drei Spalten enthält. Ich darf Sie bitten, Herr Zeuge, zu diesem Vorwurf des Überschreitens des Munitionsbestandes Stellung zu nehmen.

RAEDER: Es sind einzelne Munitionsbestände überschritten, andere unterschritten. Ich kann nicht mehr sagen, aus welchen Gründen das im Einzelfalle geschehen ist. Ich nehme an, daß es sich sehr stark darnach gerichtet hat, was aus dem Weltkriege noch übriggeblieben war.

Wenn bei den ersten beiden Positionen, 17 und 15 cm, der Bestand etwas überschritten ist, so ist er bei der dritten Position, den 10,5 cm, stark unterschritten, statt überschritten; statt 134000, 87000; bei den nächsten, 8,8 cm, wieder etwas überschritten, dann wieder unterschritten; und ebenso bei der letzten Munition. Aber alles eigentlich sehr unwesentliche Beträge.

DR. SIEMERS: Zu dieser Position ist allerdings in der dritten Spalte im Exemplar des Gerichts – bei Ihnen, Herr Zeuge, auf der nächsten Seite – angeführt, daß Munitionsmengen teils in Fertigung, teils in Anlieferung sind und dann bald auch die Gesamtzahl überschritten sein wird.

Ich wollte dazu nur fragen: Die Aufstellung stammt vom September 1933. Dann ist der Bestand also nach der Zeit September 1933 wohl berechnet, oder Herbst 1933?

RAEDER: Ich habe das letzte nicht verstanden.

DR. SIEMERS: Wenn in der Urkunde gesagt wird, daß infolge späterer Maßnahmen die zugestandene Gesamtzahl überschritten sein wird, die ja nach dieser Liste noch unterschritten ist, dann ist das doch von dem Zeitpunkt Herbst 1933 ab gerechnet?

RAEDER: Es ist anzunehmen, jawohl, weil für die neuen Geschütze auch neue Munition wieder gefertigt wurde und dann alte Munition verschrottet werden mußte.

Es ist hier noch zu bemerken, daß die Munition für die schwere Artillerie, die hier nicht aufgeführt ist, in allen Fällen unterschritten war. Wir hatten ein verhältnismäßig reichliches Maß von schwerer Artilleriemunition für die schweren Küstengeschütze bewilligt bekommen und hatten gar nicht so viel wie uns bewilligt worden war.

DR. SIEMERS: Ich darf zur Erleichterung des Gerichts darauf hinweisen, daß dieser letzte Punkt sich aus der Urkunde selbst ergibt. Im Gerichtsexemplar unter Ziffer 12, Spalte 2, gleich neben den einzelnen Ziffern, steht dieser Satz, daß die Bestände für die schwere Artillerie nicht ausgenutzt sind.

Es kommt dann Ziffer 13: Überschreiten der zugestandenen Bestände an Maschinengewehren, Gewehren, Pistolen und Gasmasken.

RAEDER: Hier ist ebenfalls zuzugeben, daß die Bestände in den einzelnen Fällen um nicht sehr große Beträge überschritten sind. Zum Beispiel die Gasmasken; da ist ein Bestand von 43000, statt 22500. Gewehre und Maschinengewehre waren nach dem Weltkriege in großen Mengen auch von Einzelpersonen beiseite geschafft worden, auf Bauernhöfen und so weiter. Sie wurden nachher wieder eingesammelt, und daraus ergab sich ein verhältnismäßig größerer Bestand. Aber es handelt sich ja hier nirgends um beträchtliche Mengen. In gleicher Weise sind auch bei den Beständen an Munition, Seitengewehren, Handgranaten, Scheinwerfern, Nebelgeräten und so weiter die zugestandenen Zahlen, aber nicht in beträchtlichen Mengen, überschritten.

DR. SIEMERS: Nun, Ziffer 14: Beschaffung von 337 M.G.C./30 ohne Verschrottung gleichwertiger Waffen. Da ich nicht...

DER VORSITZENDE, LORD JUSTICE SIR GEOFFREY LAWRENCE: Dr. Siemers! Es wäre doch sicherlich möglich, alle die verschiedenen Punkte dieses Dokuments in einer Erklärung für die stattgefundenen Überschreitungen zusammenzufassen. Diese Erklärung hier enthält 30 verschiedene Punkte, und Sie sind jetzt erst bei Punkt 13, und Sie wollen alle diese einzelnen Punkte behandeln.

DR. SIEMERS: Herr Präsident! Ich persönlich bin durchaus einverstanden. Es tut mir leid, daß ich dem Tribunal mit dieser Urkunde solche Mühe bereite. Ich selbst habe bei der Bearbeitung als Nicht-Marinefachmann ebenfalls sehr viele Mühe gehabt, aber ich glaube, daß ich es nicht verursacht habe. Die Anklage hat die einzelnen Positionen als Beweis benutzt.

VORSITZENDER: Dr. Siemers! Ich mache Ihnen keinen Vorwurf, aber wir wollen vorwärtskommen. Wir machen Ihnen keinen Vorwurf. Kann das nicht in einer kurzen aufschlußgebenden Erklärung gebracht werden?

DR. SIEMERS: Ich will es versuchen, Herr Präsident, und werde es abkürzen.

Über Ziffer 15 bis 17 ist, glaube ich, nichts weiter zu sagen, ich glaube, das waren die wichtigsten Punkte, während die später beabsichtigten Punkte erst für die Jahre 1933 und 1934 in Frage kamen. Ich darf lediglich das Tribunal darauf hinweisen, daß Ziffer 17 den beabsichtigten Bau der Reservezerstörer betrifft. Dieser Bau war gestattet nach dem Versailler Vertrag.

Ziffer 18 übergehe ich, da wir sie bereits behandelt haben. Ziffer 19 ist wiederum nur beabsichtigt. Ziffer 20 darf ich als unerheblich ansehen, als Bewaffnung von Fischereifahrzeugen. Ziffer 21 bis 29...

VORSITZENDER: Sie sollten vielleicht den Angeklagten bitten, einige dieser Bemerkungen in der dritten Spalte aufzuklären. Ich meine Punkt 18, zum Beispiel »Schwer zu entdecken« oder »Notfalls abzuleugnen«.

RAEDER: Das waren die Erklärungen, die unserem Vertreter beim Völkerbund für die Abrüstungskonferenz mitgegeben worden waren von dem Referenten. Es bezieht sich nicht auf die hiesigen Verhältnisse, der Bau von U-Bootersatzteilen zum Beispiel fand im Auslande statt oder sollte zunächst vorbereitet werden. Er hat dann im Jahre 1934/35 stattgefunden, und das erste U-Boot ist dann Ende Juni 1935 in Dienst gestellt worden.

DR. SIEMERS: Ich darf festhalten, Herr Zeuge, daß nur der Bau und Erwerb von U-Booten untersagt war.

RAEDER: Ja, der Bau in Deutschland.

DR. SIEMERS: Erst später können wir begründen, daß kein Vertragsverstoß vorliegt beim Bau dieser Einzelteile; ich glaube aber, Sie müssen doch darauf hinweisen, warum man zu dieser Zeit, obwohl die Einzelteile gestattet waren, es verbergen wollte. Ich darf Sie daran erinnern, daß es September 1933 gewesen ist, zu einer Zeit, wo bereits Verhandlungen geplant waren.

RAEDER: Während dieser Zeit vor dem Abschluß des englischen Flottenabkommens im Verhältnis 35:100 war Hitler besonders darauf bedacht, alles zu vermeiden, was die Verhandlungen irgendwie stören könnte. Dazu gehörte auch, da in England das Thema »U-Boote« besonders empfindlich behandelt wurde, der Bau und die Vorbereitung von U-Booteinzelteilen.

DR. SIEMERS: Beruhte dieser Zusatz nicht darüber hinaus, ebenso wie andere Bemerkungen in dieser zweiten Spalte, auf den schlechten Erfahrungen, die die Marine innenpolitisch gemacht hatte, daß jedesmal, wenn die kleinste Kleinigkeit unternommen wurde, sofort ein innenpolitischer Streit entstand?

RAEDER: Jawohl, das ging so weit, daß der Reichswehrminister gelegentlich von preußischen Ministern, die nicht so eingestellt waren wie die Reichsregierung, zum Beispiel Müller, Severing, Stresemann, nachher Brüning, angegriffen wurde und beim Reichskanzler angezeigt wurde, da er Dinge betriebe, die er nicht dürfe, während die Reichsregierung selbst die ganzen Dinge genehmigt hatte und für sie verantwortlich zeichnete.

DR. SIEMERS: Demnach waren also diese Dinge aus innenpolitischen Gründen geheimgehalten, um sie nicht offen erscheinen zu lassen...

RAEDER: Ja.

DR. SIEMERS: Unter Billigung der Reichsregierung?

RAEDER: Unter Billigung der Reichsregierung. Bei den Firmen handelte es sich darum, daß eine Anzahl von Firmen wegen...

DR. SIEMERS: Ich möchte gar nicht unter diesen Umständen auf die Spalte 2, Ziffer 20, zurückkommen, da ich aus dem Protokoll ersehe, daß die Anklage auch diesen Punkt ausdrücklich hervorgehoben hat, und zwar bei der »Bewaffnung der Fischereifahrzeuge« darauf hingewiesen hat und als Anschuldigungsgrund angeführt hat: »Warnungsschießen, Bagatellisieren«.

RAEDER: Die beiden Fischereifahrzeuge waren ganz kleine Fahrzeuge, an sich unbewaffnet, die dazu dienten, die Fischerei in der Nordsee bis nach Island hinauf zu beaufsichtigen und ihr zu helfen, sie zu unterstützen in Notfällen, Leute an Bord zu nehmen, die krank waren, und sie auch gegen andere Fischer anderer Nationen zu schützen. Wir hielten es für zweckmäßig, wenigstens ein 5-cm-Geschütz auf diese Schiffe zu geben, die ja an sich Kriegsschiffe waren. Das »Warnungsschießen« heißt, wenn sie die Fischer auf irgend etwas aufmerksam machen wollten, Salutschüsse abzugeben, also es war eine ganz geringfügige Angelegenheit, die an sich nicht künstlich bagatellisiert werden mußte, sondern die wirklich eine Bagatelle war.

DR. SIEMERS: Es kommen dann die Punkte 21 bis 28. Es handelt sich hierbei, unter Aufzählung verschiedener Firmen um Industriefirmen, die mit Rüstungsaufgaben betraut wurden. Im Versailler Vertrag waren bestimmte Firmen genehmigt worden, andere Firmen durften nicht beauftragt werden. Tatsächlich sind auch andere Firmen beauftragt worden. Vielleicht können Sie generell dazu Stellung nehmen?

RAEDER: Es war die Zeit damals, wo wir sehr hofften, daß in der Abrüstungskonferenz Fortschritte gemacht werden würden. Der MacDonald-Plan war schon angenommen, der eine gewisse Besserung brachte, und wir mußten damit rechnen, daß die wenigen Fabriken, die wir hatten, in den nächsten Jahren eine größere Leistungsfähigkeit zeigen mußten. Ich verweise auf den Schiffbau-Ersatzplan. Infolgedessen wurden solche Fabriken, die Spezialdinge verfertigten, besser eingerichtet und besser ausgerüstet. Es handelte sich hier aber niemals um schwere Geschütze und derartige Dinge, sondern um mechanische Zünder, Sprengstoffe, zum Beispiel Minengefäße und anderes, alles Kleinigkeiten, aber Spezialsachen, die nur von gewissen Firmen angefertigt werden konnten. Dann wurden außer den erlaubten Firmen nun auch nicht zugelassene Firmen hinzugezogen. So wurden zum Beispiel die Fried. Krupp-Grusonwerke A. G. in Magdeburg, Ziffer 25, zur Fertigung von Flakgeschossen und Flakgeschützrohren, von 2 cm bis 10,5 cm eingerichtet; ebenso wurde, Ziffer 26, eine Fabrik zur Fertigung von Flakgeschossen, Sprengstoffen, Ziffer 27...

DR. SIEMERS: Ich glaube, wir brauchen die Einzelheiten nicht.

RAEDER: Nein. Und dann noch für Motoren, die auch noch stark gebraucht wurden.

DR. SIEMERS: Einige Fragen, die sich auf alle Positionen erstrecken: Liegt nicht eine gewisse Kompensation insofern vor, als ein Teil der Firmen, die genehmigt waren, bereits aus irgendwelchen wirtschaftlichen Gründen ausgefallen waren?

RAEDER: Das kann man sagen, denn diese Firmen bekamen ja verhältnismäßig sehr wenige Lieferungen und konnten aus dem allein nicht bestehen.

DR. SIEMERS: Ich glaube, man kann es nicht nur sagen, sondern man muß es sagen. Ich darf Sie hinweisen auf die Position 22, Spalte 3, die wörtlich lautet: »Liste ist sowieso überholt durch Ausscheiden von Firmen«.

RAEDER: Ja.

DR. SIEMERS: Es bleibt demnach noch Ziffer 29 und 30. Nummer 29 sind Vorbereitungen auf dem Gebiete des Motorenversuchsbootwesens. Ich glaube, daß es sich um Vorbereitungen handelt auf einem minimalen Gebiet.

RAEDER: Ich kann momentan nicht genau sagen, worum es sich hier handelt.

DR. SIEMERS: Ich glaube auch, daß die Anklagebehörde kein Gewicht mehr darauf legen wird. Dann bitte ich nur noch um ein abschließendes Wort für Ziffer 30: »Voraussichtlich in nächster Zukunft (einschließlich bis 1934) notwendig werdende weitere materielle Verstöße.«

Im wesentlichen haben Sie die Frage beantwortet durch Ihren Hinweis auf die geplanten und zum Teil schon im Laufe befindlichen Unterhandlungen mit der Britischen Regierung.

RAEDER: Jawohl, darum handelte es sich.

DR. SIEMERS: Es handelt sich also hier um Dinge, die im Rahmen dieser Verhandlungen sowieso mit der Britischen Regierung beziehungsweise Admiralität besprochen werden sollten.

RAEDER: Das kann man nicht bei allem sagen. Zum Beispiel bei Punkt 1 bis 3 handelt es sich um Minen, also, daß die Zahl der Minen vergrößert werden sollte, beziehungsweise modernes Material an Stelle des alten gesetzt werden solle. Dann geht es wieder so weiter mit: »Einlagerung von Geschützen aus dem Nordseebereich für Ostsee-A-Batterien, Nichtverschrottung von Geschützen.«

DR. SIEMERS: Dann darf ich Sie bitten, abschließend zu diesem Gesamtkomplex zu sagen, wie es für einen Marinefachmann eigentlich aussieht: Sind es, alles zusammen gesehen, geringfügige Verstöße, und wie weit tragen diese Verstöße offensiven Charakter?

RAEDER: Wie ich gestern schon sagte, handelte es sich hauptsächlich um eine ganz kärgliche Verbesserung unserer Verteidigung in einer fast verteidigungslosen Lage. Und die einzelnen Posten, die ich ebenfalls gestern ausführte, sind ja so belanglos, daß man sich eigentlich gar nicht längere Zeit damit befassen kann. Ich glaube, daß auch die Kontrollkommission den Eindruck hatte, daß all diesen Sachen nicht allzu viel Gewicht beizulegen sei, denn als im Jahre 1925 die Kontrollkommission Kiel verließ, wo sie ihren Sitz gehabt hatte und wo sie mit den Organen der Marineleitung zusammengearbeitet hatte, da sagte der Commander Fenshow, der Chef einer solchen Kommission, Stabschef bei Admiral Charlton, der in erster Linie in all den Geschützangelegenheiten mit einem Feuerwerker-Kapitänleutnant Renken, dem Spezialisten dieser Dinge, zusammengearbeitet hatte, folgende Worte:

»Wir müssen uns jetzt trennen, und Sie sind froh, daß wir weggehen. Sie haben keine schöne Aufgabe gehabt, wir auch nicht. Eins muß ich Ihnen sagen: Sie dürfen nicht denken, daß wir glaubten, was Sie gesagt haben. Sie haben kein einziges wahres Wort gesagt, aber Sie haben Ihre Auskunft so geschickt erteilt, daß wir Ihnen glauben konnten, und dafür danke ich Ihnen.«

DR. SIEMERS: Ich komme jetzt zur Urkunde C-29, gleich US-46. Sie findet sich, Herr Präsident, im Dokumentenbuch 10 von Raeder, Seite 8 im Anklagedokumentenbuch.

VORSITZENDER: Sie meinen 10?

DR. SIEMERS: Nummer 10, Seite 8. Auch diese Urkunde wurde schon bei dem Generalvortrag der Anklage zu Beginn des Prozesses im 27. November vorgelegt. Es handelt sich um eine Rede, ein Schriftstück, von Raeder unterzeichnet, vom 31. Januar 1933: »Allgemeine Richtlinien für die Unterstützung der deutschen Rüstungsindustrie durch die Reichsmarine.«