[Zum Zeugen gewandt:]
Es wird von der Arrondierung des Lebensraums gesprochen, und das Problem Polen sei von der Auseinandersetzung mit dem Westen nicht zu trennen. Hitler erklärte, hiernach bleibe der Entschluß, bei erster passender Gelegenheit Polen anzugreifen. Es ist auch leider hier wieder ein Dokument, das kein Datum trägt. Wissen Sie, wann Oberstleutnant Schmundt diesen Bericht angefertigt hat?
RAEDER: Nein, das kann ich leider nicht sagen.
VORSITZENDER: Warum sagen Sie, daß es nicht datiert Ist?
DR. SIEMERS: Herr Präsident! Es ist kein Datum angegeben, wann die Urkunde angefertigt worden ist. Sie trägt nur das Datum über die Besprechung am 23. Mai. Bei Hoßbach ist die Besprechung am 5. November und ist niedergeschrieben von Hoßbach fünf Tage später aus der Erinnerung, am 10. November. Von Schmundt wissen wir überhaupt nicht, ob er sie nach einem Tag, nach fünf Tagen oder nach vier Wochen niedergeschrieben hat.
VORSITZENDER: Haben wir einen Beweis dafür, daß das Dokument vom 5. November erst fünf Tage später niedergeschrieben wurde?
DR. SIEMERS: Nein, das Dokument vom 5. November zeigt, daß es fünf Tage später angefertigt wurde. Das Dokument trägt oben das Datum: »Berlin, den 10. November 1937. Niederschrift über die Besprechung in der Reichskanzlei am 5. November 1937.«
VORSITZENDER: Richtig, dann haben wir einen Beweis dafür.
DR. SIEMERS: [zum Zeugen gewandt] Bei Schmundt gibt es keine Bezeichnung?
RAEDER: Nein.
DR. SIEMERS: Sie wissen nicht, wann es niedergeschrieben ist?
RAEDER: Nein, habe ich nie gehört.
DR. SIEMERS: Haben Sie dieses Dokument jemals vor diesem Prozeß gesehen?
RAEDER: Nein.
DR. SIEMERS: Enthält dieses Dokument eine richtige Wiedergabe in allen Punkten von der Rede Hitlers, oder gilt das, was Sie zu dem Hoßbach-Dokument sagten auch hier?
RAEDER: Das gilt in ganz erhöhtem Maße. Es ist meiner Ansicht nach die unklarste Urkunde über eine Rede Hitlers, die überhaupt vorhanden ist, denn ein großer Teil der Ausführungen hat meines Erachtens gar keinen Sinn, wie ich habe zeigen wollen. Der Adjutant hat auch geschrieben, daß die Ausführungen nur sinngemäß wiedergegeben wurden.
DR. SIEMERS: Es ist auf der ersten Seite in der Mitte, wo steht: »sinngemäß wiedergegeben«.
Ich darf Sie bitten auch hier dem Gericht darzulegen, welchen Eindruck diese Rede seinerzeit auf Sie machte und aus welchen Gründen Sie trotz dieser Rede glaubten, daß Hitler keinen Angriffskrieg plante.
RAEDER: Ich möchte auch hier darauf hinweisen, daß im Trialbrief die Bemerkung steht, daß über die Tragweite der Ausführung des Planes beraten wurde. Das gibt gerade in diesem Falle keineswegs den Charakter der Rede richtig wieder. Der Sinn der Rede in ihrem ganzen ersten Teil ist, wie ich schon sagte, außerordentlich unklar. Während in der Rede von 1937 als spätester Termin 1943 bis 1945 genannt wird, unter gewissen unwahrscheinlichen Voraussetzungen auch ein früherer Termin für möglich erklärt wurde, spricht Hitler hier von 15 bis 20 Jahren, in denen die Lösung möglich wäre. Er sagt, Polen sei immer auf der Seite der Gegner, trotz des Freundschaftsabkommens. Seine innere Absicht sei, jede Gelegenheit gegen uns auszunützen, daher wolle er Polen bei erster Gelegenheit angreifen. Das Problem Polen sei von der Auseinandersetzung mit dem Westen nicht zu trennen. Es darf aber nicht zu einer gleichzeitigen Auseinandersetzung mit dem Westen kommen. Ist es nicht sicher, daß im Zuge einer deutsch-polnischen Auseinandersetzung ein Krieg mit dem Westen ausgeschlossen bleibt, dann gilt der Kampf vielleicht mehr England und Frankreich.
Dann sagt er wieder: Man dürfe aber durch Polen nicht in einen Krieg mit England hineinschlittern, in einen Zweifrontenkrieg, wie die unfähigen Männer von 1914 es getan hätten.
Dann ist wieder England – und das ist hier verhältnismäßig neu – der Motor, der gegen Deutschland treibt. Vorzubereiten sei der lange Krieg neben dem überraschenden Überfall, nämlich offenbar auf England. Erstaunlich ist, daß angestrebt werden soll, zu Beginn eines solchen Krieges einen vernichtenden Schlag gegen England zu führen. Ziel ist immer, England auf die Knie zu zwingen.
Dann kommt ein ganz neuer Teil...
VORSITZENDER: Dr. Siemers! Der Angeklagte scheint aus einem Dokument eine Behauptung über dieses Dokument zu verlesen. Das ist doch keine Aussage. Wenn er uns sagen kann, was sich bei der Besprechung ereignet hat, dann steht es ihm frei, das zu tun.
DR. SIEMERS: Er sagt an Hand dieses Dokuments diejenigen durcheinandergehenden Gedankengänge Hitlers, die er damals ausgesprochen hat und weist auf die Widersprüche hin, die in der damaligen Rede von Hitler enthalten waren.
VORSITZENDER: Auf Widersprüche in verschiedenen Stellen des Dokuments hinzuweisen, ist Sache der Beweiserörterung und nicht Gegenstand einer Zeugenaussage.
Er hat uns bereits gesagt, daß Hitlers Reden im allgemeinen... daß eine Rede gewöhnlich im Widerspruch zu einer anderen stand. Aber wir können das selbst aus dem Dokument ersehen, ob die eine Stelle im Widerspruch zu einer anderen steht.
DR. SIEMERS: Ist es nicht, Herr Vorsitzender, von Bedeutung, daß die unklaren Darlegungen von Hitler seinerzeit auf den Zeugen so gewirkt haben, daß er sagt: Soundso viele Punkte sind falsch, dann kann die Gesamttendenz, die wir hier herauslesen, nicht stimmen. Er muß irgend etwas, so verstehe ich den Zeugen, daß er sagt, Hitler muß einen anderen Hintergedanken gehabt haben, wenn er so unklare Dinge vor den Oberbefehlshabern vorträgt.
Aber ich glaube, Herr Großadmiral, wir können es abkürzen; ich lege, dem Wunsche des Gerichts entsprechend, nur dar, wie die Wirkung auf Sie war, und was nach Ihrer Meinung noch mit dieser Urkunde für besondere Gedanken zusammenhängen.
RAEDER: Also ich wollte mit diesen Sätzen, die ich gegenübergestellt hatte, nur zeigen, wie unklar der Gedankengang war.
Es kommt dann zum Schluß ein zweiter Teil, in dem eine Reihe von doktrinären akademischen Gedanken über Kriegführung ausgesprochen werden und die damit enden, daß, was schon immer der Wunsch von Hitler war, ein Studienstab im OKW gebildet werden sollte, der alle diese Gedanken der Kriegsvorbereitung, der Einschätzung der einzelnen Waffen und so weiter bearbeitete, unter Ausschaltung der Generalstäbe, mit denen er ja ungern zusammenarbeitete. Er wollte diese Dinge selbst in die Hand bekommen, also war es die Gründung des Studienstabs, die dieser Rede zugrunde lag.
VORSITZENDER: Dr. Siemers! Ich habe Ihnen bereits gesagt, der Gerichtshof ist der Ansicht, daß Argumente kein Beweis sind. Das scheinen nur Argumentationen über das Dokument zu sein. Wenn er sich an Dinge erinnert, die sich bei dieser Besprechung ereignet haben und darüber spricht, so wäre das ein Beweismittel. Aber nur über das Dokument zu argumentieren, ist nicht Sache einer Zeugenaussage.
DR. SIEMERS: Herr Präsident! Darf der Zeuge nicht sagen, wie die Gedankengänge Hitlers auf ihn wirkten? Die Anklage sagt, daß Hitler mit Raeder zusammen eine Verschwörung betrieb.
VORSITZENDER: Er kann sagen, daß er es nicht verstanden hat, oder daß er nicht glaubte, daß es aufrichtig war.
DR. SIEMERS: Ich darf in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, daß der Zeuge deshalb auf diesen Punkt hinwies, weil dies die einzige Stelle gewesen ist, die die Anklage nicht aus diesem Dokument vorgelesen hat. Aus diesem Dokument sind die Sätze über den Studienstab seinerzeit, was mir sofort auffiel, nicht vorgelesen worden. Und dieser Studienstab war das, was Hitler erreichen wollte.