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[Das Gericht vertagt sich bis

21. Mai 1946, 10.00 Uhr.]

Einhundertfünfunddreißigster Tag.

Dienstag, 21. Mai 1946.

Vormittagssitzung.

[Der Angeklagte Raeder im Zeugenstand.]

DR. SIEMERS: Herr Großadmiral, zu Ihrem gestrigen Verhör habe ich in Form des Rückverhörs noch einige Fragen.

Sir David sprach davon, daß Sie die Aufrüstung vor 1933 hinter dem Rücken der gesetzgebenden Körperschaften unternommen hätten. Ich glaube, diese Frage war an sich schon geklärt. Ergänzen Sie nur eine Frage: Von wem hing es ab, was im Reichstag vorgelegt wurde?

RAEDER: Von dem Reichswehrminister.

DR. SIEMERS: Der Reichswehrminister war seinerzeit?

RAEDER: War Mitglied der Regierung und mein direkter Vorgesetzter. Ich hatte ihm alles vorzulegen, was ich zu bekommen wünschte.

DR. SIEMERS: Und sein Name war Groener? Das ist richtig?

RAEDER: Groener.

DR. SIEMERS: Ich darf das Hohe Tribunal an den Auszug aus der Verfassung erinnern, den ich neulich als Raeder-Exhibit Nummer 3 überreichte, wonach Artikel 50 bestimmt, daß der Reichspräsident alle Anordnungen und Verfügungen, auch solche auf dem Gebiete der Wehrmacht, trifft. Die Verfügung bedürfe zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung durch den Reichskanzler oder den zuständigen Reichsminister. Durch die Gegenzeichnung wird die Verantwortung übernommen. Der zuständige Reichsminister ist hier der Reichswehrminister. Was die Regierung dann gegenüber der gesetzgebenden Körperschaft tut, ist Sache der Regierung.

Sir David hat Ihnen das Dokument C-17 vorgelegt, das Inhaltsverzeichnis eines Buches von Oberst Scherff, mit dem Titel »Geschichte der Deutschen Marine 1919 bis 1939«. Ist dieses Buch überhaupt jemals geschrieben worden?

RAEDER: Meines Wissens ist nur das Inhaltsverzeichnis gemacht worden. Ich nehme an, daß, wenn etwas geschrieben worden wäre, es mir schon längst auch vorgelegt worden wäre. Aber ich habe niemals etwas davon gehört.

DR. SIEMERS: Ich darf das Tribunal daran erinnern, daß die Amerikanische Anklagedelegation seinerzeit bei Vorlage dieser Urkunde darauf hinwies, daß ihres Wissens das Buch nicht geschrieben worden ist.

[Zum Zeugen gewandt:]

Ich glaube, es ist sehr schwer, Vorwürfe aus einem Inhaltsverzeichnis herzuleiten, möchte Sie aber bitten, mir zu sagen, wann haben Sie dieses Inhaltsverzeichnis kennengelernt?

RAEDER: Ich habe es hier bei meiner ersten Vernehmung durch einen amerikanischen Anklagevertreter kennengelernt.

DR. SIEMERS: Dann ist Ihnen die Urkunde D-854, gleich GB-460, gestern morgen vorgelegt worden. Ich darf auf eine Frage von Sir David zurückkommen. Sir David hat auf Seite 1 vorgetragen:

»Aber, wenngleich, wie dargestellt wurde, auf fast allen Gebieten der Rüstung bei der Marine lange Zeit vor dem 16. März 1935 der Versailler Vertrag dem Buchstaben und erst recht dem Geiste nach übertreten, mindestens eine Übertretung vorbereitet worden ist,...«

Sir David fragte Sie: Wollen Sie behaupten, daß das falsch ist? Sie haben geantwortet, sind aber mit der Antwort nicht ganz zu Ende gekommen, jedenfalls ist es weder im Deutschen noch im Englischen völlig klar geworden.

Ich bitte Sie zu sagen, warum Sie der Meinung sind, daß Aßmann mit diesem Satz nicht ganz recht hat?

RAEDER: Es ist eine völlige Übertreibung, denn erstens waren ja die Übertretungen, wie hier nachgewiesen worden ist, zum großen Teil ganz gering, und nur die Zahl der kleinen Abweichungen hat vielleicht den Eindruck erweckt, daß vielfach verstoßen worden ist.

Zweitens haben wir ja in den wesentlichen Teilen den Versailler Vertrag gar nicht erfüllt, sondern sind weit dahinter zurückgeblieben. Außerdem handelte es sich nur um Dinge der Verteidigung, und zwar einer ganz armseligen Verteidigung, so daß dies eine völlig übertriebene Darstellung ist.

DR. SIEMERS: Sie wollten also auf den Punkt hinaus, daß die Ausdrucksweise von Aßmann »auf fast allen Gebieten der Rüstung« daß dies falsch ist?

RAEDER: Jawohl, das wird er vielleicht aus dem Dokument C-32 geschlossen haben, weil dort so viele Punkte waren, die sich aber bei näherer Durchsicht als sehr gering erweisen.

DR. SIEMERS: Auf den wesentlichen Punkten der Rüstung, nämlich auf dem Bau der großen Schiffe, hat die Marine nicht verstoßen?

RAEDER: Nein, nein!

DR. SIEMERS: Sir David legte gesteigertes Gewicht durch dreimaliges Hervorheben darauf, daß Sie Aßmann besonderes Vertrauen schenkten. Ich habe nichts dagegen zu sagen. Ich möchte nur darüber hinaus eine ergänzende Frage stellen: Ging Ihr Vertrauen soweit, daß Aßmann nach Ihrer Meinung ein richtiges juristisches Urteil abgab? War Aßmann Jurist?

RAEDER: Nein! Aßmann war ein Seeoffizier, der in der Front nicht mehr verwendet wurde, der aber eine sehr gewandte Feder hatte und der schon über den ersten Weltkrieg einige Bände revidiert hatte. Er schrieb sehr geschickt, aber auch diese Bände des ersten Seekrieges sind von den beteiligten Personen sehr stark durchkorrigiert worden. Aber es ist gegen ihn und seine Geschichtsschreibung an sich nichts zu sagen.

DR. SIEMERS: Herr Großadmiral, handelte es sich bei dieser Schrift von gestern, ich glaube Sie erinnern sich noch, überhaupt um eine endgültige Geschichtsschreibung, um ein endgültig redigiertes Werk?

RAEDER: Nein! Soweit war er meines Wissens nach nicht, sondern er machte Zusammenstellungen und Auszüge aus den Kriegstagebüchern und den Protokollen.

DR. SIEMERS: Im Aßmann steht:

»Wenn bei dieser Sachlage für 1935 die ›Inbaugabe zur Vorbereitung‹ von 12-275 t, 6-550 t und 4-900 t U- Boote vorgesehen wurde, so wird man dabei die zum damaligen Zeitpunkte geltenden strategischen Gesichtspunkte berücksichtigen müssen.«

Wenn ich zusammenrechne, dann sind demnach 22 und für ein Jahr später folgend 14 vorgesehen, nicht etwa schon gebaut. Stimmen diese Zahlenangaben nach Ihrer Meinung?

RAEDER: Nach meiner Meinung stimmen sie; ich weiß bloß nicht, die 900-Tonnen-Boote sind mir nicht recht erklärlich. Ich erinnere mich nicht, daß wir zu der Zeit 900-Tonnen-Boote gebaut haben; denn wir haben... die ersten Typen waren außer den 250 Tonnen, die 550 Tonnen – und dann erst kamen die 740-Tonnen-Boote. Vielleicht sind diese gemeint mit den 900-Tonnen-Booten. 900-Tonnen-Boote haben wir an sich nicht gebaut.

DR. SIEMERS: Sir David hat Ihnen von Seite 158 folgenden Satz vorgehalten, den ich wiederholen möchte, da er der Aufklärung bedarf:

»Deutschland hat sich wohl gerade auf dem Gebiet des U-Bootsbaues am wenigsten an die Grenzen des deutsch-englischen Vertrages gehalten. Unter Berücksichtigung der Größe der bereits in Auftrag gegebenen Boote hätten bis 1938 etwa 55 U-Boote vorgesehen werden können Tatsächlich wurden 118 fertiggestellt und in Bau gegeben.«

Ende des Zitates.

Ich erinnere Sie daran, daß hier die Anmerkung 6 im Original steht, ein Schreiben des Chefs der Marinehaushaltsabteilung...

RAEDER: Jawohl!

DR. SIEMERS:... aus dem Jahre 1942, wo vermutlich der Marinehaushalt referierte, wie im Verlauf der Jahre die U-Bootwaffe ausgebaut ist. Ich glaube, die Zahlen müssen klargestellt werden.

Nach meinen Unterlagen entsprechen diese 55 U- Boote der Abmachung des Londoner Abkommens, nämlich entsprechend den 45 Prozent, die seinerzeit 1935 vereinbart waren.

Ist das ungefähr – Sie werden nicht die genaue Zahl im Kopf haben können – ist das ungefähr richtig?

RAEDER: Jawohl, das kann richtig sein.

DR. SIEMERS: Die Zahl 118 ist nach meinen Unterlagen auch gut begründet. Sie ist die Zahl, die dem hundertprozentigen Gleichkommen in der Tonnage der U-Boote entspricht. Hatten wir 118 U-Boote, dann war unsere U-Bootwaffe genau so groß, wie die Englands zu der damaligen Zeit. Ist das richtig?

RAEDER: Jawohl, das ist richtig. Und es ist auch richtig, daß wir diese weiteren Boote in den Etat eingestellt und in Bau gegeben haben, nachdem wir am 30. Dezember mit dem Admiral Cunningham und seinen Begleitern in Berlin eine freundschaftliche Einigung herbeigeführt hatten, entsprechend dem Vertrag, daß wir 100 Prozent bauen könnten. Und die Bemerkung, die im Anfang vorgelesen wurde, daß wir auf diesem Gebiete am meisten verstoßen haben, ist eine völlige Unwahrheit. Wir haben bis zum Kriege nur die U-Boote gebaut, die wir bauen konnten, nämlich erst 45 Prozent und dann 100 Prozent.

Es war natürlich ein großer Fehler, daß wir das getan haben.

DR. SIEMERS: Herr Großadmiral, Sie haben eben gesagt »völlige Unwahrheit«. Ich glaube, man sollte, wenn auch Sir David dieses Wort Ihnen gegenüber gebraucht hat, nicht so scharf urteilen bei Aßmann. Glauben Sie nicht, Herr Großadmiral, daß es eher ein juristischer Irrtum von Aßmann ist?...,

RAEDER: Ja, das mag sein.

DR. SIEMERS:... der bei der Niederschrift nicht daran dachte, daß das geschehen war, was Sie eben erzählten, daß nämlich 1938 die Vereinbarung zwischen England und Deutschland getroffen wurde, daß Deutschland nunmehr 100 Prozent bauen dürfte.

RAEDER: Jawohl, das mag sein; ich wollte sagen: eine »völlige Unrichtigkeit«.

DR. SIEMERS: Ich darf das Hohe Tribunal daran erinnern, daß im Flottenabkommen von 1935 von vornherein 100 Prozent vorgesehen sein sollten, und Deutschland verzichtete freiwillig, erhielt aber das Recht, jederzeit auf 100 Prozent zu gehen mit der Verpflichtung, England zu benachrichtigen.