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[Der Zeuge betritt den Zeugenstand.]

VORSITZENDER: Wie heißen Sie?

ZEUGE KARL SEVERING: Ich heiße Karl Severing, bin 70 Jahre alt und wohne in Bielefeld.

VORSITZENDER: Wollen Sie mir den folgenden Eid nachsprechen: Ich schwöre bei Gott, dem Allmächtigen und Allwissenden, daß ich die reine Wahrheit sagen, nichts verschweigen und nichts hinzusetzen werde.

[Der Zeuge spricht die Eidesformel nach.]

VORSITZENDER: Sie können Platz nehmen.

DR. SIEMERS: Herr Minister! Ich bitte Sie, dem Gerichtshof anzugeben, welche Rolle Sie bis 1933 in der Sozialdemokratischen Partei spielten und welche Ministerposten Sie im wesentlichen in der Zeit bis 1933 innehatten.

SEVERING: Ich bin als Sechzehneinhalbjähriger in die Gewerkschaft, als Achtzehnjähriger in die Sozialdemokratische Partei eingetreten, und habe darum verhältnismäßig früh in der Sozialdemokratischen Partei Ehrenstellen bekleidet. Ich wurde im Jahre 1905 Stadtverordneter in Bielefeld, gehörte dem Reichstag vom Jahre 1907 bis zum Jahre 1912 an und wurde wieder Mitglied des Reichstages und zugleich des Preußischen Landtages im Jahre 1919. Ich bekleidete die Mandate zum Reichstag und zum Preußischen Landtag bis zum Jahre 1933. Minister war ich vom Jahre 1920 bis 1921 in Preußen, dann wieder von 1921 bis 1926, von 1930 bis zum Jahre 1933 und zwischendurch vom Jahre 1928 bis zum Jahre 1930 Reichsinnenminister.

DR. SIEMERS: Wann und weshalb sind Sie aus dem öffentlichen Leben ausgeschieden?

SEVERING: Aus dem amtlichen öffentlichen Leben bin ich ausgeschieden im Juli 1932, aus dem politischen in der Zeit, in der das Verbot gegen die Sozialdemokratische Partei erlassen wurde.

DR. SIEMERS: Sind Sie anläßlich Ihres Ausscheidens 1933 oder später verhaftet worden und gegebenenfalls auf wessen Befehl?

SEVERING: Ich wurde an dem Tage verhaftet, an dem im Reichstag das Ermächtigungsgesetz über die neue Regierung behandelt und verabschiedet werden sollte.

Den Befehl zur Verhaftung hatte der damalige Innenminister, Herr Göring, erteilt, der damals aber auch zu gleicher Zeit Reichstagspräsident war, und, wenn ich hier ein Werturteil abgeben darf, die Verpflichtung gehabt hätte, als Reichstagspräsident die Immunität der Abgeordneten zu schützen. Ich wurde unter Bruch der Immunität in dem Augenblick verhaftet, in dem ich das Reichstagsgebäude betreten hatte.

DR. SIEMERS: Herr Minister! Sie haben aber an der Abstimmung über das Ermächtigungsgesetz teilgenommen?

SEVERING: Der Vorstand der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion hatte gegen meine Behandlung Beschwerde beim Reichstagspräsidenten Göring erhoben, die den Erfolg hatte, daß ich zur Abstimmung beurlaubt wurde. Die Abstimmung war aber bereits geschlossen. Es hat dann aber der Reichstagspräsident Göring gestattet, daß ich die Nein-Stimme gegen das Ermächtigungsgesetz noch abgeben durfte.

DR. SIEMERS: Sie sind dann aber nur ganz kurz verhaftet gewesen?

SEVERING: Ich mußte mich am nächsten Tage zu weiteren Vernehmungen stellen und konnte am zweiten Tage Berlin verlassen, mit der Auflage, in meiner Heimat in Bielefeld mich für weitere Vernehmungen bereit zu halten.

DR. SIEMERS: Sie sind trotz Ihrer bekannten antinationalsozialistischen Einstellung später nicht verhaftet und etwa in ein Konzentrationslager gebracht worden, soweit mir bekannt ist.

SEVERING: Ich war nicht in einem Konzentrationslager. Das verdanke ich aber ausschließlich der Achtung und der Verehrung – das darf ich ohne Ruhmredigkeit sagen – die mir die alten preußischen Beamten, also meine früheren Beamten, entgegenbrachten. Im Oktober des Jahres 1933 erfuhr ich von dem Polizeipräsidenten in Bielefeld, daß man gegen mich etwas im Schilde führe. Die Polizeiverwaltung ließ mich wissen, daß sie nicht in der Lage sei, mir den erforderlichen Schutz zu gewähren. Sie gab mir den Rat, Bielefeld auf mehrere Monate zu verlassen. Ich habe diesem Rat Folge geleistet und hielt mich vom Oktober 1933 bis Ende März 1934 in Berlin unter einem falschen Namen auf, zunächst abwechselnd bei Freunden, später in einem kleinen jüdischen Sanatorium in Wannsee. Eine weitere Verhaftung drohte im August des Jahres 1944. Auf der Liste der summarisch zu Verhaftenden, also derjenigen Männer und Frauen, die im Verdacht standen am Komplott gegen Hitler beteiligt zu sein, stand auch mein Name, sagte mir einer meiner Bekannten der Polizei.

VORSITZENDER: Haben Sie 1944 oder 1943 gemeint?

SEVERING: 1944, nach dem Attentat auf Hitler am 20. Juli. Darf ich fortfahren?

DR. SIEMERS: Ich bitte darum.

SEVERING: Es war nach dem Attentat auf Hitler eine Verfügung an die Polizeiverwaltungen ergangen, bestimmte Personen in Haft zu nehmen. Auf der Bielefelder Liste dieser Männer stand auch mein Name. Es hat dann ein mir aus meiner früheren Amtszelt bekannter Polizeibeamter darauf verwiesen, daß ich vor Vollendung meines siebzigsten Lebensjahres stände und durch mittelbare Kriegseinwirkung meinen Sohn verloren habe. Durch diese Hinweise ist es ihm gelungen, meinen Namen von der Liste zu streichen.

DR. SIEMERS: Sind Ihnen, abgesehen von den eben geschilderten Dingen, durch die Nationalsozialisten sonst Nachteile zugefügt worden?

SEVERING: Die weiteren Nachteile bestanden darin, daß ich in meiner Freizügigkeit erheblich eingeschränkt war. Es hat mich zwar nicht sonderlich verwundert, daß Post und Telephon unter Zensur gestellt wurden, das habe ich als selbstverständlich betrachtet, aber ich konnte auch keine Reise unternehmen, ohne von Polizeibeamten beobachtet und bespitzelt zu werden.

Verzeihen Sie, Herr Rechtsanwalt, darf ich Sie auf folgendes aufmerksam machen: Außer materiellen Schädigungen gibt es auch ideelle, und ideelle sind mir in der Tat von der Nationalsozialistischen Partei nach ihrem Machtantritt viele zugefügt worden. Eine politische Maßnahme, die aus Anlaß der Wahlen des Jahres 1932 getroffen war, ist gegen mich ausgenützt worden; ich darf sagen im kriminellen Sinne: Man hat von meinem Freunde Braun und mir als den Millionendieben gesprochen und diese Bezeichnung auch auf meine Familienmitglieder ausgedehnt.

VORSITZENDER: Herr Dr. Siemers, wird dieser Zeuge irgendwelche Aussagen machen, die für den Fall des Angeklagten erheblich sind?

DR. SIEMERS: Ja!

VORSITZENDER: Gut. Bringen Sie ihn so schnell wie möglich dorthin!

DR. SIEMERS: Ja, ich werde es tun, Herr Vorsitzender.

Herr Minister, ich bitte Sie, sich in dieser Beziehung kurz zu fassen. Es ist sicherlich richtig, daß Ihnen auch in ideeller Beziehung Nachteile entstanden sind. Ich möchte nur gern als Grundlage des Verhörs feststellen, ob ganz schwerwiegende Nachteile entstanden sind und darf Sie bitten, noch ganz kurz zu sagen, ob Sie vom Nationalsozialismus Ihrem Rechtsanspruch gemäß...

VORSITZENDER: Dr. Siemers, inwiefern ist dies für Raeders Fall erheblich?

DR. SIEMERS: Herr Vorsitzender, ich möchte gerne darauf hinaus, daß nach der kurzen Schilderung des Lebens des Ministers Severing während des Nazismus klargestellt wird, daß er die Fragen, die Raeder betreffen, völlig unbeschwert von einer Einstellung, also völlig objektiv geben kann, da er auf der einen Seite keine Vorteile, sondern auch Nachteile erlitten hat, aber auf der anderen Seite...

VORSITZENDER: Gut, Sie haben die Nachteile genügend behandelt. Gehen Sie doch zu den Sachen Raeders über. Er hat uns sein Leben von 1933 bis 1944 in großen Zügen geschildert, und das sollte genügen.

DR. SIEMERS: Die Anklagebehörde hat dem Angeklagten Raeder vorgeworfen, daß er als Chef der Marineleitung gegen den Versailler Vertrag verstoßen hätte, und zwar in der Absicht, Angriffskriege zu führen und zweitens, hinter dem Rücken der Reichsregierung. Um die Vernehmung abzukürzen, darf ich Ihnen, Herr Minister, eben referieren, daß feststeht, es ist nicht bestritten und ist geschichtsbekannt, daß Deutschland beim Aufbau der Marine im Rahmen des Versailler Vertrags gegen die Bestimmungen des Vertrags verstoßen hat. Das ist alles dem Gericht bereits bekannt. Bereits vor diesem Termin beantragte die damalige Regierung im Rahmen des Versailler Vertrags den Bau des Panzerkreuzers A. Über den Bau dieses Panzerkreuzers entstand ein großer innerpolitischer Streit. Im Rahmen einer Debatte über diesen Panzerkreuzer vor dem Reichstag haben Sie eine Rede gehalten. Ich habe einen kurzen Auszug aus dieser Rede, den ich Ihnen gerne vorlegen möchte und verlesen möchte. Herr Vorsitzender, es ist Raeder-Exhibit Nummer 5, im Dokumentenbuch I, Seite 13. Der Auszug ist aus einer Rede des Reichsministers a. D. Karl Severing vor dem Deutschen Reichstag am 20. Januar 1928. Herr Minister, zu dieser Zeit waren Sie nicht Minister, sondern Sie hielten die Rede als Abgeordneter der Sozialdemokratischen Partei?

SEVERING: Ja, das ist richtig.

DR. SIEMERS: Der Auszug lautet:

»Nun der Panzerkreuzer. Daß eine Regierung, die genau weiß, welche riesigen Summen wir im nächsten Jahre aufzubringen haben, mit derartigen Forderungen kommt, ist mindestens sehr merkwürdig. Sie sagt, der Friedensvertrag erlaubt's, – jawohl, aber der Friedensvertrag befiehlt auch, Reparationen zu zahlen. Die in diesem Jahre angeforderten 9,3 Millionen Mark spielen erst in ihren Konsequenzen ihre entscheidende Rolle. Und diese Konsequenzen erfordern mehrere hundert Millionen Mark, die in den nächsten Jahren aufzubrin gen mir ganz unmöglich erscheint. Auch den militärischen Wert der Panzerschiffe kann ich angesichts der Entwicklung der Seekriegswaffe nicht anerkennen. Mag sein, daß diese Panzerschiffe bei der Verteidigung zur See das Rückgrat bilden, wie die Regierung sagt. Aber zu einem lebendigen Gefechtskörper gehören zum Rückgrat noch andere Glieder, gehören U-Boote und Flugzeuge, und solange wir die nicht bauen dürfen, haben Panzerkreuzer auch für die Verteidigung nur geringen Wert.«

Ist dieser Auszug aus Ihrer damaligen Rede richtig wiedergegeben?

SEVERING: Ja, der Auszug ist richtig wiedergegeben.

DR. SIEMERS: Kann man hieraus entnehmen, daß auch die Sozialdemokratische Partei und Sie persönlich seinerzeit der Meinung waren, daß die nach dem Versailler Vertrag gestattete Wehrmacht auch für einen etwaigen Verteidigungskrieg nicht ausreicht?

SEVERING: Das ist richtig.

DR. SIEMERS: Darf ich Sie bitten, dazu etwas ausführlicher Stellung zu nehmen.

SEVERING: Daß das Deutschland gestattete Hunderttausend-Mann-Heer auch für einen Verteidigungskrieg nicht in Betracht kam, wußte und weiß vielleicht heute jeder in Deutschland, der sich mit politischen Dingen beschäftigt. Es war eine üble Situation, in die Deutschland geriet durch die Einlegung des Korridors den östlichen Nachbarn gegenüber. Die insulare Lage Ostpreußens zwang damals schon zu Maßnahmen, die ich sehr ungern mit durchgeführt habe, aber die ostpreußische Bevölkerung hatte ein Anrecht darauf, geschützt zu werden gegen Angriffe, die aus dem Osten drohten. Ich spreche nicht von Angriffskrieg, ich spreche nicht von Plänen der Polnischen Regierung, aber ich verweise darauf, daß in den Jahren 1919, 1920 und 1921 angriffslustige polnische Gruppen deutschen Boden betreten haben, wahrscheinlich in der Absicht, vollendete Tatsachen...

VORSITZENDER: Dr. Siemers! Diese Aussage ist eine Sache des Argumentierens. Sie ist nicht nur Sache des Argumentierens, wir haben vielmehr diese Dinge immer wieder von fast allen Angeklagten und einem großen Teil ihrer Zeugen gehört. Es hilft dem Gerichtshof wirklich nicht, zu wissen, was dieser Zeuge 1928 gesagt hat oder was seine Ansicht im Jahre 1928 war.

DR. SIEMERS: Hohes Tribunal! Ich glaube, das Gericht wird es aus dem weiteren Verlauf ersehen. Minister Severing war Mitglied derjenigen Regierung, die die von dem Angeklagten Raeder bereits erwähnte Kabinettssitzung vom 18. Oktober 1928 durchgeführt hat. Ich bin absolut der Meinung des Gerichts, daß Sie die Dinge schon oft gehört haben, diese Dinge allerdings erst einmal; aber ich darf daran erinnern, daß Sir David gestern noch im Kreuzverhör dem Angeklagten vorgehalten hat, daß er gegen den Willen der Reichsregierung und gegen den Willen der gesetzgebenden Körperschaft, trotz der Aussage Raeders, gegen den Versailler Vertrag verstoßen habe. Wenn also nach der Vernehmung Raeders die Anklage auf diesem Standpunkt steht, dann habe ich keine andere Möglichkeit, die Unrichtigkeit der Auffassung der Anklage zu beweisen, als durch einen Zeugen, der allerdings...

VORSITZENDER: Dr. Siemers! Die Frage, ob der Versailler Vertrag verletzt wurde, ist eine Frage von Tatsachen, und natürlich können Sie dazu Beweismaterial beibringen, und Sie haben es auch in Form der Aussage des Angeklagten Raeder beigebracht Aber dieser Zeuge äußert sich nicht zu der Frage von Tatsachen, er argumentiert, daß Deutschland das Recht hatte, sich zu verteidigen, auch wenn dadurch der Versailler Vertrag verletzt wurde. So verstehe ich seine Aussage, und das ist eine Frage des Argumentierens, keine Frage des Tatbestands.

DR. SIEMERS: Herr Vorsitzender, soweit ich juristisch...

VORSITZENDER: Dr. Siemers, diese Art von Aussagen, wie sie der Zeuge bisher gegeben hat, wird vom Gerichtshof nicht angehört werden. Wenn Sie Tatsachen durch ihn beweisen wollen, können Sie das tun, aber Argumente oder seine Ansicht über Argumente können Sie nicht beweisen.

DR. SIEMERS: Hat Deutschland sich mit seiner Wehrmacht gegen die Einfälle in Schlesien und Polen wehren können?

SEVERING: Mit seiner Wehrmacht hatte es sich in Ostpreußen im Jahre 1920 jedenfalls nicht wehren können. Es war darum notwendig, die Bevölkerung Ostpreußens zu schützen, und das ist dadurch geschehen, daß ich selbst meine Zustimmung dazu gegeben habe, in Ostpreußen aufgefundene Waffen der Bevölkerung auszuhändigen. Die Dinge lagen damals so, daß selbst zu Inspektionsreisen nach Ostpreußen den Eisenbahnweg durch den Korridor zu passieren sehr schwierig und problematisch war, so daß ich im Jahre 1920 eine solche Inspektionsreise auf dem Seeweg von Stolpmünde bis Pillau zurücklegen mußte.

Ich habe diese Tatsache angeführt, um die Schwierigkeiten des Transports durch den Korridor überhaupt zu beweisen. Im Jahre 1920/1921 war es außerdem der deutschen Wehrmacht nicht möglich, die Einfälle polnischer Insurgenten in Oberschlesien abzuwehren, so daß leider auch, ich betone leider, auch in Oberschlesien ein gewisser Selbstschutz eintreten mußte, um deutschen Boden und deutsches Leben zu verteidigen.

DR. SIEMERS: Herr Minister! Die vom Reichswehrminister Groener ab Januar 1928 gewünschten und verantworteten Maßnahmen auf dem Gebiete der Rüstung, beruhten diese, soweit Sie Groener kennen, auf Verteidigungs- oder auf Angriffsgedanken?

SEVERING: Soweit ich Groener kenne und seine persönliche, ich sage wieder persönliche Amtsführung, beruhte alles, was er dachte und ausführte auf dem Verteidigungsgedanken.

DR. SIEMERS: Das trifft dann aber doch auch für den Panzerkreuzer A zu. Da würde es mich interessieren, zu hören, warum die Sozialdemokratische Partei, die die Verteidigung auch wünschte, überhaupt gegen den Bau des Panzerkreuzers war?

SEVERING: Die Sozialdemokratische Partei war im Jahre 1928 gegen den Bau des Panzerkreuzers, weil die wirtschaftliche Situation es geraten erscheinen ließ, keine Ausgaben zu machen, die nicht absolut erforderlich waren, und zum anderen, die Sozialdemokratische Partei wollte den Beweis erbringen, alles zu tun, was in ihren Kräften stand, um das bis dahin viel erörterte Problem der Abrüstung der Verwirklichung zuzuführen. Sie glaubte nicht, daß der Bau eines Panzerkreuzers eine gute Geste für die Einleitung entsprechender Verhandlungen war.

DR. SIEMERS: Herr Minister, am 28. Juni 1928 wurde eine neue Reichsregierung gebildet, und zwar unter Müller als Reichskanzler, Stresemann Außenminister und Sie Innenminister. Wie stellte sich Ihre Regierung zu dem damals schwebenden Problem der im Versailler Vertrag vorgesehenen Abrüstung aller Länder, beziehungsweise der damals schwebenden Aufrüstung Deutschlands?

SEVERING: Ich habe das eben schon angedeutet. Wir waren in der Sozialdemokratischen Partei, aber auch nach dem Eintritt in die Regierung Müller, der Meinung, daß alles aufgeboten werden müßte, um gerade dieses Problem einer Lösung zuzuführen. Im September 1928 ging der damalige Reichskanzler Müller als Vertreter des erkrankten Außenministers Stresemann nach Genf, um dieses Problem auf der Völkerbundstagung zu erörtern. Müller hielt eine sehr entschiedene Rede, die aber von den Staatsmännern der Alliierten, wenn ich mich recht erinnere, sehr kühl aufgenommen wurde, so daß für die nächste Zeit praktische Vorschläge zur Verwirklichung des Abrüstungsgedankens nicht zu erwarten waren.

DR. SIEMERS: Herr Minister! Im Juli 1928 sprachen Sie mit dem Reichswehrminister Groener über Etatsfragen, und zwar darüber, daß auch geheime Etats in der Wehrmacht bekanntgeworden waren, über den Panzerkreuzer und ähnliche Fragen. Welchen Standpunkt haben Sie hierbei eingenommen und zu welchen Ergebnissen kamen Sie dann auf Grund Ihrer Verständigung mit Groener?

SEVERING: Ich darf bei der Beantwortung dieser Frage noch einmal den Auszug aus meiner Rede berühren, Herr Rechtsanwalt, den Sie eben dem Hohen Gericht zur Kenntnis gebracht haben. In derselben Reichstagssitzung, in der ich diese Rede hielt, erschien der Reichswehrminister Groener zum erstenmal als Nachfolger Geßlers. Ich habe dem scheidenden Reichswehrminister Geßler ein paar Worte des Abschieds gewidmet und begrüßte den neuen Wehrminister Groener mit der Bemerkung, daß meine politischen Freunde ihm Achtung entgegenbrächten, daß aber Vertrauen erst erworben werden müsse. Auf diese Bemerkungen spielte Minister Groener offenbar an, als er in der ersten Sitzung der Regierung Müller auf mich zukam und mir sagte, er freue sich auf die Zusammenarbeit mit mir. Ich habe ihm bei der Gelegenheit ein Zitat aus Iphigenie entgegengehalten: Zwischen uns sei Wahrheit! und nur auf Grund dieser absoluten Wahrheit wäre es möglich, ein gedeihliches Zusammenarbeiten herbeizuführen.

VORSITZENDER: Herr Dr. Siemers! Der Gerichtshof ist der Ansicht, daß dies eine absolute Zeitverschwendung ist, und daß diese Rede des Zeugen völlig unerheblich ist. Warum stellen Sie ihm nicht einige Fragen, die mit dem Fall Raeder etwas zu tun haben?

DR. SIEMERS: Herr Präsident! Darf ich daran erinnern, daß die Anklage vorgeworfen hat, daß der Aufbau durch geheime Etats erfolgt ist, und daß auf geheime Weise ein Aufbau, mit der Absicht, Angriffskrieg zu führen, durchgeführt worden wäre. Infolgedessen weiß ich nicht, wie ich den Zeugen anderes fragen soll, als daß ich ihn danach frage, wie in seiner Regierung diese geheimen Etats, die praktisch zum Teil identisch sind mit den Verstößen gegen den Versailler Vertrag, behandelt worden sind, und das ist das, was ich eben den Zeugen gefragt habe.

VORSITZENDER: In dieser Rede, auf die Sie uns aufmerksam gemacht haben, hat er lediglich gesagt, daß seiner Ansicht nach Panzerkreuzer nutzlos wären. Das ist die einzige Bedeutung der Rede mit Ausnahme des Hinweises auf die Tatsache, daß Reparationszahlungen nicht geleistet wurden. Im übrigen besagt sie, daß seiner Ansicht nach Panzerkreuzer nutzlos wären.

DR. SIEMERS: Herr Präsident! Ich will und darf hier jetzt nicht plädieren. In der Rede, die ich vorgelesen habe, wird etwas anderes gesagt. Es wird gesagt, daß aus wirtschaftlichen Gründen die Sozialdemokraten gegen den Panzerkreuzer waren, nicht aus strategischen Gründen, und daß, wenn man einen Panzerkreuzer...

VORSITZENDER: Was hat das mit der Anklage, einen Angriffskrieg im Jahre 1939 geführt zu haben, zu tun?

DR. SIEMERS: Herr Präsident! Ich habe nicht den Vorwurf des Angriffskrieges erhoben, sondern die Anklage. Ich soll meinen Klienten gegen diesen Vorwurf, daß er 1928 einen Angriffskrieg beabsichtigt hat, verteidigen, und ich behaupte, daß er keine solche Absicht gehabt hat, und daß die Reichsregierung über diese Verstöße orientiert war, die Verantwortung übernommen hat, und es wird das Verhör des Ministers ergeben, daß dies so geschehen ist, und bis gestern ist dieser Punkt noch bestritten worden.

VORSITZENDER: Stellen Sie ihm einige direkte Fragen über Tatsachen! Der Gerichtshof wird sie anhören, wenn sie erheblich sind, aber wir sind der Ansicht, daß die von Ihnen bezüglich seiner Rede vorgebrachte Beweisführung einfach Zeitverschwendung ist.

DR. SIEMERS: Ich werde abkürzen. Ich werde also dementsprechend dem Minister Fragen stellen, die er dann im einzelnen beantworten soll.