[Zum Zeugen gewandt:]
Was können Sie zu diesen Äußerungen Bräuers sagen? Sind die Äußerungen richtig?
VON WEIZSÄCKER: Bräuer war nicht bei der Gesandtschaft, er war der Gesandte selbst, und daß er objektiv oder – ich will sagen – subjektiv richtig berichtet hat, setze ich als selbstverständlich voraus. Ob objektiv diese Nachrichten zutrafen, ist eine andere Frage, das heißt auf deutsch, ob Bräuer über die Absichten gegnerischer Wehrmachtsteile richtig informiert gewesen ist, das ist eine andere Frage.
DR. SIEMERS: Herr von Weizsäcker! Und was stellte sich, so wie Sie es vom Auswärtigen Amt erfuhren, nachträglich heraus? Waren die Besorgnisse Raeders richtig, oder war die Darstellung Bräuers richtig?
VON WEIZSÄCKER: Ich muß gestehen, daß meine persönliche Auffassung derjenigen Bräuers entsprach, daß sie sich aber nachträglich nicht als richtig erwies, sondern daß die Vermutungen der Marine damals berechtigt waren oder berechtigter waren als das Urteil, das der Gesandte abgegeben hat.
DR. SIEMERS: Ich danke Ihnen schön.
Ich habe keine weiteren Fragen, Herr Präsident.
VORSITZENDER: Wünscht noch ein Verteidiger Fragen zu stellen?
DR. ALFRED SEIDL, VERTEIDIGER DER ANGEKLAGTEN HESS UND FRANK: Herr Zeuge! Am 23. August 1939 wurde zwischen Deutschland und der Sowjetunion ein Nichtangriffsvertrag abgeschlossen. Wurden außer diesem Nichtangriffsvertrag an diesem Tage zwischen den beiden Regierungen auch noch andere Abmachungen getroffen?
GENERAL R. A. RUDENKO, HAUPTANKLÄGER FÜR DIE SOWJETUNION: Herr Vorsitzender! Der Zeuge wurde zur Beantwortung bestimmter Fragen, welche im Antrag von Dr. Siemers enthalten sind, vorgeladen. Meiner Ansicht nach hat die Frage, die ihm jetzt durch den Verteidiger Dr. Seidl vorgelegt wird, nichts mit dem von uns untersuchten Fall zu tun, und sie sollte daher abgewiesen werden.
VORSITZENDER: Sie können die Frage stellen, Dr. Seidl, die Sie stellen wollten.
DR. SEIDL: Ich frage Sie nochmal, Herr von Weizsäcker, wurden am 23. August 1939 zwischen den beiden Regierungen auch noch andere Abmachungen getroffen, die nicht im Nichtangriffspakt enthalten sind?
VON WEIZSÄCKER: Ja.
DR. SEIDL: Worin waren diese Abmachungen enthalten?
VON WEIZSÄCKER: Diese Abmachungen waren enthalten in einem Geheimprotokoll.
DR. SEIDL: Haben Sie selbst dieses geheime Protokoll in Ihrer Eigenschaft als Staatssekretär im Auswärtigen Amt gelesen?
VON WEIZSÄCKER: Ja.
DR. SEIDL: Ich habe in meinen Händen einen Text, von dem der Botschafter Gaus kaum einen Zweifel hat, daß hier diese Abmachungen richtig wiedergegeben sind.
Ich werde Ihnen diesen Text vorhalten.
VORSITZENDER: Einen Augenblick, welches Dokument legen Sie ihm vor?
DR. SEIDL: Es handelt sich um das geheime Zusatzprotokoll vom 23. August 1939.
VORSITZENDER: Ist das nicht das Dokument... Was ist das für ein Dokument, das Sie jetzt dem Zeugen vorlegen? Es gibt ein Dokument, welches Sie bereits dem Gerichtshof vorgelegt haben und welches zurückgewiesen worden ist. Ist das dasselbe Dokument?
DR. SEIDL: Es ist das Schriftstück, das ich im Dokumentenbeweis dem Gericht unterbreitet habe, und das vom Gericht als Dokument abgelehnt wurde, und zwar offenbar – ich nehme an – deshalb, weil ich mich geweigert habe, die Herkunft dieses Dokuments anzugeben. Das Gericht hatte mir aber genehmigt, daß ich eine neue eidesstattliche Versicherung des Botschafters Gaus vorlege zu diesem Gegenstande.
VORSITZENDER: Haben Sie das nicht getan? Sie haben es nicht getan?
DR. SEIDL: Nein, ich möchte aber jetzt zur Unterstützung des Gedächtnisses des Zeugen, im Zuge der Zeugenvernehmung, diesen Text verlesen und im Anschluß daran den Zeugen fragen, ob nach seiner Erinnerung in diesem Schriftstück diese geheimen Abmachungen richtig wiedergegeben sind.
GENERAL RUDENKO: Hoher Gerichtshof! Ich möchte gegen diese Frage aus zwei Gründen protestieren:
Erstens behandeln wir hier den Fall der deutschen Hauptkriegsverbrecher und nicht die Außenpolitik von anderen Staaten.
Zweitens wurde das Dokument, das Dr. Seidl dem Zeugen vorzulegen versucht, bereits vom Gerichtshof abgewiesen, da es eigentlich ein gefälschtes Dokument ist und deshalb keinen Beweiswert haben kann.
DR. SEIDL: Darf ich dazu vielleicht folgendes sagen, Herr Präsident. Dieses Dokument ist ein wesentlicher Bestandteil des Nichtangriffsvertrages, der von der Anklage bereits als Beweisstück vorgelegt wurde unter GB-145. Wenn ich nun dem Zeugen den Text vorlege...
VORSITZENDER: Die einzige Frage ist, ob es das Dokument ist, welches vom Gerichtshof zurückgewiesen wurde. Ist es nun das Dokument, das vom Gerichtshof abgelehnt wurde?
DR. SEIDL: Es wurde als Beweisstück im Rahmen des Dokumentenbeweises nicht zugelassen.
VORSITZENDER: Gut, dann ist die Antwort »Ja«.
DR. SEIDL: Aber es scheint mir ein Unterschied zu bestehen zu der Frage, ob bei der Zeugenvernehmung dem Zeugen dieses Dokument vorgehalten werden kann. Ich möchte diese Frage deshalb bejahen, weil die Anklagevertretung im Kreuzverhör ihrerseits die Möglichkeit hat, dem Zeugen das in ihren Händen befindliche Dokument vorzuhaben, und es wird sich dann auf Grund der Aussagen des Zeugen ergeben, welcher Text der richtige ist, oder ob die beiden Texte übereinstimmen.
VORSITZENDER: Wo kommt das Dokument, das Sie jetzt vorlegen wollen, her?
DR. SEIDL: Ich habe das Dokument vor einigen Wochen bekommen, von einem mir zuverlässig erscheinenden Mann von der alliierten Seite. Ich habe es aber nur unter der Bedingung bekommen, daß ich die genauere Herkunft nicht angebe, und es scheint mir das auch durchaus verständlich.
VORSITZENDER: Sie sagen, Sie hätten es vor einigen Momenten bekommen?
DR. SEIDL: Vor einigen Wochen.
VORSITZENDER: Ist es dasselbe Dokument, von dem Sie eben gesagt haben, Sie hätten es dem Gerichtshof vorgelegt und der Gerichtshof habe es zurückgewiesen?
DR. SEIDL: Ja, aber das Gericht hat auch entschieden, daß ich über diesen Gegenstand eine neue eidesstattliche Versicherung des Botschafters Gaus vorlegen darf, und diese Entscheidung hat ja nur dann einen Sinn...
VORSITZENDER: Ich weiß, aber Sie taten es nicht. Wir wissen nicht, welches Affidavit Dr. Gaus gegeben hat.
DR. SEIDL: Ich habe bereits die eidesstattliche Versicherung des Botschafters Gaus, die neue; sie ist aber noch nicht übersetzt worden.
MR. DODD: Herr Präsident! Ich stimme mit General Rudenko durchaus überein, wenn er Einspruch gegen die Verwendung dieses Dokuments erhebt. Wir wissen heute, daß es aus irgendeiner anonymen Quelle stammt. Die Quelle kennen wir überhaupt nicht. Jedenfalls steht es nicht fest, daß dieser Zeuge sich nicht selbst erinnert, was dieser angebliche Vertrag betraf. Ich weiß nicht, warum er ihn nicht befragen kann, wenn er das will.
VORSITZENDER: Dr. Seidl, Sie können den Zeugen fragen, wie weit er sich dieses Abkommens noch entsinnen kann, ohne ihm das Dokument vorzulegen. Fragen Sie ihn, ob er sich an den Vertrag oder an das Protokoll erinnert.
DR. SEIDL: Herr Zeuge! Schildern Sie dann den Inhalt des Abkommens, so wie er in Ihrer Erinnerung noch vorhanden ist.
VON WEIZSÄCKER: Es handelte sich um ein sehr einschneidendes und sehr weitgreifendes geheimes Zusatzabkommen zu dem damals geschlossenen Nichtangriffspakt. Die Tragweite dieses Dokuments war deswegen sehr groß, weil es eine Interessensphäreneinteilung betraf, die eine Grenze zog zwischen denjenigen Gebieten, die unter gegebenen Umständen der sowjetrussischen, und denjenigen, die in einem solchen Falle der deutschen Sphäre angehören sollten. Zur sowjetrussischen Sphäre sollte gehören: Finnland, Estland, Lettland, ein östlicher Teil von Polen und meiner Erinnerung nach war auch über gewisse Gebiete Rumäniens Bestimmung getroffen worden. Was wesentlich westlich von den eben genannten Gebieten lag, sollte zur deutschen Interessensphäre gehören. Allerdings ist dieses Geheimabkommen in dieser Form nicht aufrechterhalten geblieben. Es ist bei einer späteren Gelegenheit entweder im September oder im Oktober des gleichen Jahres eine gewisse Veränderung, ein Amendement zu den damaligen Geheimabkommen zustande gekommen, wobei der wesentliche Unterschied zwischen den beiden Dokumenten nach meiner Erinnerung darin bestand, daß Litauen, oder wenigstens der größere Teil von Litauen, zur sowjetrussischen Interessensphäre geschlagen wurde, während umgekehrt auf dem polnischen Gebiet die Trennungslinie der beiden Interessensphären um ein erhebliches Stück nach Osten gerückt wurde.
Ich glaube damit, den wesentlichen Inhalt des Geheimabkommens und des späteren Zusatzabkommens angegeben zu haben.
DR. SEIDL: Ist es richtig, daß für den Fall einer territorialen Umgestaltung eine Demarkationslinie im Gebiet des polnischen Staates vereinbart wurde?
VON WEIZSÄCKER: Ob der Ausdruck Demarkationslinie in diesen Protokollen enthalten war, oder ob es sich um eine Trennungslinie der Interessensphäre dem Wortlaut nach handelte, das könnte ich nicht mehr angeben.
DR. SEIDL: Es wurde aber eine Linie bezeichnet.
VON WEIZSÄCKER: Eben die Linie, von der ich soeben sprach, und ich glaube auch, mich zu besinnen, daß diese Linie später bei der Verwirklichung dieses Abkommens im großen innegehalten wurde, im Detail vielleicht nicht.
DR. SEIDL: Ist Ihnen erinnerlich – das ist meine letzte Frage –, ob in diesem geheimen Zusatzprotokoll vom 23. August 1939 auch noch eine Vereinbarung in Bezug auf das künftige Schicksal Polens enthalten war?
VON WEIZSÄCKER: Dieses Geheimabkommen schloß ja eine völlige Neuregelung des polnischen Schicksals in sich. Es kann also sehr wohl sein, daß explizite oder implizite eine solche Neuregelung durch das Abkommen vorgesehen war. Auf den Wortlaut möchte ich mich nicht festlegen.
DR. SEIDL: Herr Vorsitzender! Ich habe keine weiteren Fragen mehr.
VORSITZENDER: Zeuge! Haben Sie das Original des Geheimvertrages gesehen?
VON WEIZSÄCKER: Ich habe eine Photokopie davon gesehen, vielleicht auch das Original. Jedenfalls die Photokopie, die habe ich in der Hand gehabt, wiederholt sogar. Ich hatte ein Exemplar, eine Photokopie, in meinem persönlichen Safe eingeschlossen.
VORSITZENDER: Würden Sie eine Kopie davon erkennen, wenn man sie Ihnen zeigen würde?
VON WEIZSÄCKER: Oh, das glaube ich bestimmt. Es waren auch die Originalunterschriften darunter, auch daran würde man sie ja ohne weiteres erkennen.
VORSITZENDER: Der Gerichtshof wird sich vertagen.