[Beratungspause.]
VORSITZENDER: Der Gerichtshof hat beraten, ob dem Zeugen das im Besitz des Dr. Seidl befindliche Dokument vorgelegt werden soll.
In Anbetracht der Tatsache, daß der Inhalt des Originaldokuments vom Zeugen und von anderen Zeugen bereits wiedergegeben wurde, und weil die Herkunft des Dokuments, das sich im Besitz von Dr. Seidl befindet, unbekannt ist, hat der Gerichtshof entschieden, das Dokument dem Zeugen nicht vorzulegen.
Der Gerichtshof wird sich nunmehr vertagen.
[Das Gericht vertagt sich bis
22. Mai 1946, 10.00 Uhr.]
Einhundertsechsunddreißigster Tag.
Mittwoch, 22. Mai 1946.
Vormittagssitzung.
[Der Zeuge von Weizsäcker im Zeugenstand.]
VORSITZENDER: Dr. Siemers! Ich glaube, wir waren gestern soweit gekommen, daß wir fragten, ob irgendwelche der anderen Verteidigungsanwälte noch Fragen stellen wollen.
DR. SIEMERS: Ja, sicher. Ich glaube, Dr. von Lüdinghausen wünscht den Zeugen zu befragen.
DR. OTTO FREIHERR VON LÜDINGHAUSEN, VERTEIDIGER DES ANGEKLAGTEN VON NEURATH: Herr Zeuge! Ich möchte einige Fragen an Sie stellen über die Tätigkeit Herrn von Neuraths als Außenminister. Sie waren seinerzeit Direktor der politischen Abteilung des Auswärtigen Amtes. Von wann bis wann?
VON WEIZSÄCKER: Ich glaube, vom Spätherbst 1936 vertretungsweise und vom Frühjahr 1937 bis Frühjahr 1938 definitiv.
DR. VON LÜDINGHAUSEN: Sie hatten wohl vorher auch schon Gelegenheit gehabt, mit Herrn von Neurath zusammenzuarbeiten? Sie waren doch mit ihm auch hin und wieder im Herbst 1932 auf der Abrüstungskonferenz in Genf.
VON WEIZSÄCKER: Jawohl.
DR. VON LÜDINGHAUSEN: Und welche Tendenzen verfolgte Herr von Neurath, beziehungsweise welchen Standpunkt nahm Herr von Neurath bei diesen Verhandlungen auf der Abrüstungskonferenz ein?
VON WEIZSÄCKER: Die Haltung von Herrn von Neurath war vorgeschrieben durch die Bestimmungen des Völkerbundpaktes, worin die Abrüstung vorgesehen war. Er hielt sich an diese Richtlinien.
DR. VON LÜDINGHAUSEN: Er verfolgte damit dieselbe Politik, die auch seine Vorgänger auf der Abrüstungskonferenz verfolgt hatten?
VON WEIZSÄCKER: Das war immer dasselbe.
DR. VON LÜDINGHAUSEN: Ja, die ganzen Regierungen vorher hatten ja auch stets eine durchaus auf Frieden und Eintracht beziehungsweise Verständigung gerichtete Politik verfolgt, und diese Politik hat Herr von Neurath auch voll weiter vertreten, nicht wahr?
VON WEIZSÄCKER: Ich hatte niemals etwas anderes von ihm beobachtet.
DR. VON LÜDINGHAUSEN: Haben Sie damals, also 1932, irgendwie bemerkt, daß er irgendwelche nationalsozialistische Tendenzen verfolgte oder ihnen überhaupt sympathisch gegenüberstand?
VON WEIZSÄCKER: Ich hatte den Eindruck, daß zwischen ihm und dem Nationalsozialismus nichts Gemeinsames war.
DR. VON LÜDINGHAUSEN: Können Sie ganz kurz das außenpolitische Glaubensbekenntnis des Herrn von Neurath zusammenfassen? Wäre er damals irgendwie für eine kriegerische Auseinandersetzung zu haben gewesen, oder war er der Vertreter der ausgesprochene Vertreter, einer Politik der Verständigung und des Friedens?
VON WEIZSÄCKER: Ich würde sagen, daß Herr von Neurath eine Politik des friedlichen Revisionismus betrieben hat, wie er auch von seinen Vorgängern betrieben worden war. Er strebte an gute Nachbarschaft mit allen, ohne sich politisch speziell nach irgendeiner Richtung zu binden. Von einer kriegerischen Tendenz in seiner politischen Linie habe ich nie etwas gespürt...
DR. VON LÜDINGHAUSEN: In diesem Glaubensbekenntnis des Herrn von Neurath hat sich da im Jahre 1936, als Sie nunmehr zum engsten seiner Mitarbeiter wurden, irgend etwas geändert, oder war es immer das gleiche?
VON WEIZSÄCKER: Es war immer dasselbe.
DR. VON LÜDINGHAUSEN: Er hatte doch besonders im Auge auch eine Verständigung mit England, aber auch mit Frankreich?
VON WEIZSÄCKER: Ich hatte den Eindruck, daß Herr von Neurath nach allen Seiten Verständigung suchte.
DR. VON LÜDINGHAUSEN: Nun möchte ich gern noch ein paar Fragen an Sie stellen, die mehr oder weniger sein Verhältnis zu Hitler betreffen.
Konnte man nach Ihrer Kenntnis der Verhältnisse, als sein Mitarbeiter, davon sprechen, daß er das Vertrauen Adolf Hitlers die ganze Zeit besessen hat, in der er Reichsaußenminister war, und daß Hitler sich auch durchaus von ihm beraten und führen ließ?
VON WEIZSÄCKER: Soweit ich das beurteilen konnte, war er der Berater, aber nicht der Vertraute von Hitler.
DR. VON LÜDINGHAUSEN: Aber es bestand doch immerhin ein gewisser Kontakt zwischen den beiden Herren?
VON WEIZSÄCKER: Ich bin fast nie Zeuge eines solchen Kontaktes gewesen.
DR. VON LÜDINGHAUSEN: Haben Sie beobachtet, daß, als Herr von Neurath und Hitler zusammengekommen sind, sie öfters über die politischen Verhältnisse, das was zu geschehen hätte und geschehen sollte, gesprochen haben oder nicht?
VON WEIZSÄCKER: Ich kann nur soviel sagen, daß wir im Auswärtigen Amt bedauerten, daß der Kontakt nicht enger war, um so mehr, als Hitler sich häufig nicht in Berlin befand. Wir fanden die Verbindung zu lose.
DR. VON LÜDINGHAUSEN: Man kann also nicht von einer engen Verbundenheit, von einem engsten Mitarbeiter Hitlers bei Herrn von Neurath sprechen?
VON WEIZSÄCKER: Nach meiner Meinung, nein.
DR. VON LÜDINGHAUSEN: Und wie wirkte sich nach Ihrer Ansicht und Ihren Beobachtungen die Tätigkeit des Herrn von Neurath auf außenpolitischem Gebiete aus? War er selbst der Führende oder war er nicht vielmehr ein gewisses retardierendes Element, also eine Bremse bei irgendwelchen Sachen, die seinen Überzeugungen zuwiderlagen?
VON WEIZSÄCKER: Ich habe keinen Anhaltspunkt dafür, daß außenpolitische Akte von Bedeutung in dieser Periode von Herrn von Neurath eingegeben waren. Ich könnte mir aber sehr wohl denken, daß gewisse Handlungen auf, außenpolitischem Gebiet unterblieben sind...
VORSITZENDER: Einen Augenblick. Ich glaube nicht, daß wir Vorstellungen des Zeugen zulassen können. Wir können nicht zulassen, daß der Zeuge uns erzählt, was er sich vorstellen kann. Ich denke, die Frage ist zu unbestimmt und überhaupt keine zulässige Frage.
DR. VON LÜDINGHAUSEN: Hat in der Zeit, als Herr von Neurath Außenminister war, hat irgendeine Stelle der Partei Einnuß auch auf die Außenpolitik gehabt, und zwar in einem Sinne, der eigentlich den Tendenzen des Herrn von Neurath entgegengesetzt war oder zumindest sie nicht teilte?
VON WEIZSÄCKER: Ich glaube, daß nicht eine Stelle da war, sondern viele Stellen da waren, die in diesem Sinne gewirkt haben und die auch Verbindung und Einfluß auf Hitler hatten, natürlich. Das entzog sich der Kontrolle, aber man konnte es nach den Wirkungen schließen.
DR. VON LÜDINGHAUSEN: Ist Ihnen bekannt, warum, aus welchem Grunde der Antikomintern-Pakt mit Japan im November 1955 nicht von Herrn von Neurath, sondern von dem damaligen Außerordentlichen Botschafter, Herrn von Ribbentrop in London, unterzeichnet wurde?
VON WEIZSÄCKER: Ist das nicht 1936 gewesen?
DR. VON LÜDINGHAUSEN: 1936; ja, das ist richtig.
VON WEIZSÄCKER: Ich nehme an deswegen, weil Hitler es liebte, für gewisse Geschäfte immer mehrere Figuren einzusetzen und zwischen denen zu wählen, je nachdem er den einen oder den anderen als Ausführenden für zweckmäßig ansah.
DR. VON LÜDINGHAUSEN: War Herr von Neurath dann überhaupt einverstanden mit diesem Antikomintern-Pakt?
VON WEIZSÄCKER: Das weiß ich nicht.
DR. VON LÜDINGHAUSEN: Wie war die Personalpolitik von Herrn von Neurath? Hat er die alten Beamten nach Möglichkeit im Amte erhalten, oder hat er nationalsozialistische Beamte mit hineingenommen?
VON WEIZSÄCKER: Herr von Neurath war sehr darauf bedacht, den alten und ihm vertrauten Bestand an außenpolitischem Personal sowohl im Auswärtigen Amt wie auch auf den Außenposten zu konservieren.
DR. VON LÜDINGHAUSEN: Das änderte sich aber in dem Moment, wo er fortging?
VON WEIZSÄCKER: Nicht sofort, aber später steigend.
DR. VON LÜDINGHAUSEN: Nun noch zwei Fragen. Wie war die Einstellung des Herrn von Neurath, als er nicht mehr Außenminister war und die Sudetenfrage akut wurde im Herbst 1938, und welche Tätigkeit hat er beim Zustandekommen der Münchener Konferenz ausgeübt?
VON WEIZSÄCKER: Ich erinnere mich einer Szene in der Reichskanzlei am Tage vor dem Abkommen von München, wobei Herr von Neurath sehr entschieden dazu riet, eine versöhnliche Linie zu verfolgen und der Anregung Mussolinis zu einer Vierer-Konferenz zu entsprechen.
DR. VON LÜDINGHAUSEN: Ist Ihnen etwas darüber bekannt, daß nach dem Ausscheiden Herrn von Neuraths aus dem Auswärtigen Amt im Amt untersagt wurde oder untersagt worden war, daß ihm außenpolitische Informationen von dort erteilt würden?
VON WEIZSÄCKER: Ich glaube, mich zu entsinnen, daß der Nachfolger von Herrn von Neurath die außenpolitische Information seines Vorgängers sich selbst vorbehalten hat.
DR. VON LÜDINGHAUSEN: Ich habe weiter keine Fragen, Herr Präsident.
DR. LATERNSER: Herr von Weizsäcker! Sie waren ab Sommer 1943 Deutscher Botschafter beim Heiligen Stuhl in Rom?
VON WEIZSÄCKER: Ja.
DR. LATERNSER: Zur gleichen Zeit war Oberbefehlshaber auf dem italienischen Kriegsschauplatz der Feldmarschall Kesselring?
VON WEIZSÄCKER: Ja. Das heißt, er war der Oberbefehlshaber auf diesem Kriegsschauplatz vom 25. September 1943 an; denn vorher hatte das Oberkommando ein italienischer General.
DR. LATERNSER: Sind Sie des öfteren von Feldmarschall Kesselring in Anspruch genommen worden zur Beilegung von Differenzen zwischen Deutscher Wehrmacht einerseits und der Bevölkerung andererseits?
VON WEIZSÄCKER: Es war ein sehr lebhafter Verkehr zwischen dem Feldmarschall Kesselring und meiner eigenen Mission, nicht nur zur Ausräumung von Differenzen, sondern vor allem zur Vorbeugung.
DR. LATERNSER: Haben Sie durch den häufigen Verkehr mit Feldmarschall Kesselring einen persönlichen Eindruck gewonnen in Bezug auf die Einstellung der militärischen...
VORSITZENDER: Dr. Laternser! Wir verhandeln hier nicht den Fall Kesselring. Welche Erheblichkeit hat diese Frage?
DR. LATERNSER: Die Frage ist deswegen von Erheblichkeit, weil im Kreuzverhör des Feldmarschalls Kesselring die Anklage Belastungsmaterial vorgebracht hat, das in der Richtung Geltung haben sollte, daß von der militärischen Führung in Italien die Kriegsbräuche und Gesetze der Menschlichkeit nicht eingehalten worden sind. Ich erinnere mich noch ganz genau, daß Sie, Herr Präsident, selbst am 13. März 1946 (Band IX, Seite 267, 268) gesagt haben auf einen Einwand von Dr. Stahmer, daß es sich dabei um Belastungsmaterial gegen den Generalstab handle. Ich will mit wenigen Fragen den jetzt anwesenden Zeugen über dieses Belastungsmaterial fragen.
VORSITZENDER: Wenn Sie ihn über etwas fragen wollen, was er hinsichtlich der Anklagen sagen kann, die von der Anklagebehörde gegen Feldmarschall Kesselring als Mitglied des Generalstabs erhoben worden sind, dann können Sie das tun.
DR. LATERNSER: Jawohl, Herr Präsident, ich habe damit begonnen, und das sollte eine vorbereitende Frage sein.
Herr von Weizsäcker! Sind auf dem italienischen Kriegsschauplatz die Kunstschätze Italiens geschont und in Sicherheit gebracht worden?
VON WEIZSÄCKER: Die Deutsche Wehrmacht unter der Führung des Feldmarschalls Kesselring hat sich die erdenklichste Mühe gegeben, Kirchenbauten, Kirchengüter und kirchliche Kunstwerte zu schonen und zu schützen; das war ja ein großes Kapitel in der Tätigkeit des Stabes des Feldmarschalls Kesselring; der Erfolg ist auch nicht ausgeblieben.
DR. LATERNSER: Kennen Sie ein oder zwei besonders markante Beispiele dafür?
VON WEIZSÄCKER: Ja, es gibt eine Menge von Beispielen. Ich möchte erwähnen, daß vor einem halben Jahr oder vor einem Jahr eine Ausstellung von Manuskripten, Inkunabeln und dergleichen im Vatikan stattgefunden hat, und zwar von solchen Gegenständen, deren Rettung zu sehr großem Teil, wenn nicht zum größten Teil, der Deutschen Wehrmacht zu verdanken war.
DR. LATERNSER: Das wird genügen, Herr von Weizsäcker. Nun wurde der hohen militärischen Führung in Italien der Vorwurf gemacht, daß sie die italienische Bevölkerung besonders grausam und hart behandelt hat. Können Sie Angaben darüber machen, daß gerade von Seiten der hohen militärischen Führung in Italien besondere Maßnahmen zur Ernährung der Bevölkerung ergriffen wurden in einem Zeitpunkt, als die Ernährung große Schwierigkeiten machte?
VON WEIZSÄCKER: Die Frage bezieht sich besonders auf die Ernährung?
DR. LATERNSER: Ja. Die Ernährung Roms.
VON WEIZSÄCKER: Ja, mein Beobachtungsfeld war eben nur Rom. Aber da kann ich sagen, daß Feldmarschall Kesselring mir eines Tages erklärt hat, die Hälfte seines Tages ginge dahin mit der Frage der Ernährung von Rom. Und ich kannte einen höheren Militärbeamten, ich glaube, er hieß Seifert oder so ähnlich, der mit großer Hingabe sich dieses Themas angenommen und es mit Erfolg durchgeführt hat.
DR. LATERNSER: Nun eine letzte Frage, Herr von Weizsäcker. Durch diese ganzen Beobachtungen der Tätigkeit der hohen militärischen Führer in Italien haben Sie ja ein persönliches Bild von diesen gewonnen. Haben Sie dabei den Eindruck gehabt, daß das unbedingte Bestreben bei diesen militärischen Führern bestand, die Kriegsbräuche und die Gesetze der Menschlichkeit zu achten?
VON WEIZSÄCKER: Das ist selbstverständlich, denn sonst hätten gewisse Erfolge auch nicht eintreten können. Vielleicht ist hier nicht bekannt, daß im Herbst 1943 der Heilige Stuhl ein Kommuniqué, ein offizielles Kommuniqué, veröffentlicht hat, das die Haltung der deutschen Soldaten in Rom besonders belobte. Außerdem hätte die Talsache der Schonung der Ewigen Stadt ja auch nicht verwirklicht werden können, wenn nicht eben eine solche Haltung von der Deutschen Wehrmacht eingenommen worden wäre.
DR. LATERNSER: Das war ein Verdienst des Feldmarschalls Kesselring im besonderen?
VON WEIZSÄCKER: Ich würde sagen, wenn einmal die Geschichte dieser Zeit geschrieben wird, wird das erste Verdienst dem Papst Pius XII. zugeschrieben werden, unmittelbar danach aber wird zweifellos das Lob fallen auf die Deutsche Wehrmacht unter der Führung von Kesselring.
DR. LATERNSER: Danke schön, ich habe keine weiteren Fragen.
DR. KUBUSCHOK: Es ist einmal behauptet worden, daß der im Sommer 1934 zum Außerordentlichen Gesandten in Wien ernannte Angeklagte von Papen von Wien aus eine Politik aggressiver Expansion hinsichtlich des gesamten Südostens bis zur Türkei betrieben hätte und daß er unter anderem auch Nachbarstaaten, wie Ungarn und Polen, Angebote auf territorialen Erwerb aus der aufzuteilenden Tschechoslowakei gemacht hätte. Bestand diese Politik?
VON WEIZSÄCKER: Verzeihung, ich habe diese Frage nicht ganz verstanden.
DR. KUBUSCHOK: Bestand diese eben gekennzeichnete Politik?
VON WEIZSÄCKER: Meine Beobachtung beginnt erst vom Spätsommer 1936 ab, denn vorher war ich im Auslande. Daß Herr von Papen von Wien aus Südostpolitik betrieben hätte oder damit beauftragt gewesen wäre, habe ich auch später nicht bemerkt. Das Auswärtige Amt konnte ihn gar nicht damit beauftragen, er unterstand dem Auswärtigen Amt gar nicht.
DR. KUBUSCHOK: Und diese gekennzeichnete Politik, hat die zur Zeit Ihres Eintritts ins Auswärtige Amt überhaupt bestanden?
VON WEIZSÄCKER: Dürfte ich bitten, die Frage nochmal zu wiederholen?
DR. KUBUSCHOK: Hat diese gekennzeichnete Expansionspolitik Deutschlands...
VON WEIZSÄCKER: Welche Politik?
DR. KUBUSCHOK: Die aggressive Expansionspolitik Deutschlands auf den Südosten bis zur Türkei, Aufteilung der Tschechoslowakei und Abgabe von Teilen der Tschechoslowakei an Polen und Ungarn.
VON WEIZSÄCKER: Ja. Im Jahre 1939 zweifellos?
DR. KUBUSCHOK: 1936, im Jahre 1936.
VON WEIZSÄCKER: Nein.
DR. KUBUSCHOK: Danke.
VORSITZENDER: Die Anklagevertretung?
MAJOR ELWYN JONES: Herr Zeuge! Ich möchte Ihnen eine oder zwei Fragen über den »Athenia«-Fall stellen. Sie haben dem Gerichtshof gesagt, daß Sie selbst den Amerikanischen Geschäftsträger gesehen haben und ihn Mitte September unterrichteten, daß die »Athenia« nicht von einem deutschen U-Boot versenkt worden sein könnte; nicht wahr?
VON WEIZSÄCKER: Ich habe nicht Mitte September den Amerikanischen Geschäftsträger gesehen, sondern an demselben Tage, an dem ich von der Versenkung erfuhr, das muß also etwa der 3., 4. oder 5. September gewesen sein.
MAJOR ELWYN JONES: Sie haben den amerikanischen Vertretern schon so zeitig die Versicherung abgegeben, daß ein U-Boot nicht verantwortlich dafür sein könnte.
VON WEIZSÄCKER: Richtig.
MAJOR ELWYN JONES: Haben Sie befürwortet oder vielmehr hat das Deutsche Auswärtige Amt empfohlen, daß der Oberbefehlshaber der deutschen Kriegsmarine den amerikanischen Marine-Attaché empfangen und ihm dasselbe sagen solle, nämlich, daß ein U-Boot die »Athenia« nicht versenkt haben könne?
VON WEIZSÄCKER: Das weiß ich nicht, ich hatte nur mit dem Geschäftsträger zu tun.
MAJOR ELWYN JONES: Ich möchte, daß Sie sich ein neues Dokument ansehen, D-804, das Beweisstück GB-477 wird. Es ist ein Auszug aus den Akten der Skl über den »Athenia«-Fall. Sie werden sehen, daß es ein Bericht von Neubauer an den Marine-Attaché ist. Es heißt dort:
»Dem Auswärtigen Amt ist telephonisch folgender Wortlaut einer Aufzeichnung über die Unterredung des Oberbefehlshabers der Kriegsmarine mit dem amerikanischen Marine-Attaché am 13. 9. durchgegeben worden:
Ich lese Abschnitt 2:
Am 16. 9 , etwa 13,00 Uhr, empfing der Ob.d.M....«
VON WEIZSÄCKER: Verzeihung, ich habe das Dokument noch nicht richtig...
MAJOR ELWYN JONES: Vielleicht können Sie in der englischen Kopie mitlesen, Herr Zeuge; wenn Sie das vorziehen...
»Am 16. 9., etwa 13,00 Uhr, empfing der Ob.d.M. auf Anregung des Reichsaußenministers den amerikanischen Marine-Attaché und führte etwa folgendes aus: Er habe schon seit einigen Tagen – wie er wisse – beabsichtigt, ihn zu sich zu bitten, um ihm angesichts der immer weiter geführten Hetze um den Untergang der ›Athenia‹ eindeutig seinen Standpunkt zu dem Untergang mitzuteilen. Er habe jedoch noch die Rückkehr der für den Handelskrieg in der fraglichen Zeit eingesetzten U-Boote abgewartet, um sich persönlich Meldung über ihre Tätigkeit erstatten zu lassen. Er wiederholte nachdrücklichst, daß der Untergang der ›Athenia‹ nicht von einem deutschen U-Boot herbeigeführt ist. Das der Unfallstelle zunächststehende Boot habe s. Zt. tatsächlich etwa 170 Seemeilen von der Unfallstelle abgestanden. Im übrigen sind die Weisungen, nach denen die Kommandanten den Handelskrieg zu führen haben, ja bekanntgegeben worden. Es ist bisher in keinem Falle auch nur im geringsten gegen diese Weisungen verstoßen worden. Im Gegenteil ist über das besonders zuvorkommende und ritterliche Verhalten der U-Bootskommandanten ja kürzlich gerade von einem amerikanischen Schiffskapitän berichtet worden.«
Daraus ergibt sich ganz deutlich, daß das Deutsche Auswärtige Amt darauf bedacht war, diesen »Athenia«-Fall so gut wie möglich zu verdecken; nicht wahr?
VON WEIZSÄCKER: Nein, da war nichts zu verdecken.
MAJOR ELWYN JONES: Als Sie nun herausfanden, daß das U-30 tatsächlich die »Athenia« versenkt hatte, dann mußte doch viel verhüllt werden?
VON WEIZSÄCKER: Ich glaube gestern schon gesagt zu haben, daß mir davon nichts zur Kenntnis gekommen ist.
MAJOR ELWYN JONES: Behaupten Sie, daß Sie Ende September nicht wußten, als das U-30 zurückkehrte, daß es tatsächlich die »Athenia« versenkt hatte?
VON WEIZSÄCKER: Es ist mir in keiner Weise erinnerlich.
MAJOR ELWYN JONES: Wann haben Sie zuerst entdeckt, daß das U-30 die »Athenia« versenkt hatte?
VON WEIZSÄCKER: Nach meiner Erinnerung während des Krieges überhaupt nicht.
MAJOR ELWYN JONES: Sie haben aber gestern doch gesagt, daß Sie dachten, daß die Veröffentlichung eines Artikels im »Völkischen Beobachter«, der Winston Churchill der Versenkung der »Athenia« beschuldigte, ein Werk perverser Phantasie sei, nicht wahr?
VON WEIZSÄCKER: Durchaus.
MAJOR ELWYN JONES: Behaupten Sie also vor dem Gerichtshof, daß Sie die wahren Umstände über die Versenkung der »Athenia« nicht vor dem Ende des Krieges entdeckten, während Sie im Auswärtigen Amt direkt mit dieser Sache befaßt waren und viel Verantwortung hatten?
VON WEIZSÄCKER: Ich habe gestern schon gesagt, was ich darüber weiß. Es scheint so zu sein, daß bei der Marine die Versenkung der »Athenia« später erkannt worden ist, als zurückzuführen auf ein deutsches U-Boot. Ich kann mich aber durchaus nicht erinnern, daß diese Tatsache, mir oder dem Auswärtigen Amt zur Kenntnis gebracht worden wäre.
MAJOR ELWYN JONES: Auf alle Fälle hat der Angeklagte Raeder keinen Schritt unternommen, um diese Information richtigzustellen, die den amerikanischen diplomatischen Vertretern gegeben wurde?
VON WEIZSÄCKER: Mir ist durchaus nicht erinnerlich, daß Admiral Raeder mich oder das Auswärtige Amt von dem Tatbestand unterrichtet hätte.
MAJOR ELWYN JONES: Gut, nun in Bezug auf den Angeklagten von Neurath.
Wenn der Gerichtshof damit einverstanden ist, beabsichtige ich nicht den Zeugen über die frühere diplomatische Geschichte zu befragen, denn der Gerichtshof hat ja bereits seinen Wunsch angezeigt, diese Sache aufzuschieben, bis die Angeklagten später im Zeugenstand erscheinen.
Ich möchte Ihnen aber eine allgemeine Frage stellen.
Wann war der früheste Zeitpunkt, an dem verantwortliche Beamte des Auswärtigen Amtes wie Sie zuerst einsahen, daß Hitler einen Angriffskrieg zu führen beabsichtigte?
VON WEIZSÄCKER: Daß der außenpolitische Kurs der Regierung Hitlers ein gefährlicher sei, habe ich zum erstenmal im Mai 1933 sehr deutlich empfunden; daß ein Angriffskrieg geplant sei, vielleicht im Sommer 1938, mindestens, daß der eingeschlagene Weg der Außenpolitik sehr leicht in einen Krieg hineinführen könne.
MAJOR ELWYN JONES: Bereits im April 1938 war die außenpolitische Lage so gespannt, daß Sie ein Memorandum an alle deutschen diplomatischen Vertreter sandten, das sich mit der Lage, mit der kritischen Lage, befaßte.
VON WEIZSÄCKER: Das kann sein. Wenn ich das Dokument sehen dürfte?
MAJOR ELWYN JONES: Sehen Sie sich Dokument 3572-PS an, das ist ein Memorandum vom 25. April 1938, von Ihnen unterzeichnet, und eine Abschrift wurde an alle deutschen diplomatischen Vertreter gesandt. Es wird Beweisstück GB-478. Dieses Dokument sagt:
»Nachdem die Arbeiten auf dem Gebiet der Mobilmachungs-Vorbereitung im Inland bei der Wehrmacht und allen Zivilverwaltungen einschließlich Auswärtiges Amt weitere Fortschritte gemacht haben, ist es erforderlich, daß nunmehr auch bei den Auslandsbehörden unverzüglich darangegangen wird, entsprechende Maßnahmen für ihren Amtsbezirk zu treffen und sie mit den der Heimat obliegenden Aufgaben in Einklang zu bringen.«
Darauf folgt eine Reihe von Anweisungen über Maßnahmen, die bei Beginn der kritischen Periode oder bei tatsächlicher Mobilmachung getroffen werden sollten. Im vorletzten Absatz wird betont:
»Ich bitte die Behördenleiter – ohne Vorliegen näherer Weisung – sich schon jetzt die für den dortigen Wirkungskreis im Ernstfalle in Frage kommenden Maßnahmen zu überlegen und alsbald entsprechende Vorschläge zu machen. Im Interesse der unbedingten Geheimhaltung muß strengstens darauf geachtet werden, daß der Kreis der Eingeweihten auf das geringste Maß beschränkt bleibt.«
Daraus geht hervor, nicht wahr, daß Sie sich schon im April 1938 bewußt waren, daß eine tatsächliche Mobilmachung kurz bevorstand, nicht wahr?
VON WEIZSÄCKER: Darf ich fragen, ist das Dokument wirklich vom Jahre 1938 oder ist es vom Jahre 1939. Ich kann das nicht recht sehen hier.
MAJOR ELWYN JONES: 25. April 1938.
VON WEIZSÄCKER: Na ja, mag sein.
MAJOR ELWYN JONES: Nun, Sie waren doch selbst gegen die Angriffspolitik Hitlers, nicht wahr?
VON WEIZSÄCKER: Ich habe die Frage vielleicht nicht ganz verstanden.
MAJOR ELWYN JONES: Sie waren doch gegen Hitlers aggressive Außenpolitik, nicht wahr?
VON WEIZSÄCKER: Ich persönlich durchaus.
MAJOR ELWYN JONES: Haben Sie versucht, den Angeklagten Neurath zum Widerstand gegen Hitlers Angriffspolitik zu überreden?
VON WEIZSÄCKER: Herr von Neurath war damals gar nicht Außenminister.
MAJOR ELWYN JONES: Aber er blieb doch ein sehr wichtiger Funktionär des Nazi-Staates?
VON WEIZSÄCKER: Ich glaube, daß sein Einfluß in dieser Periode noch kleiner war als vorher; aber ich habe Kontakt mit ihm gehalten und glaube, daß ich mit seinen Auslassungen und er mit den meinigen übereinstimmte.
MAJOR ELWYN JONES: Und trotzdem diente er dem Nazi-Staat weiter, insbesondere in einem Gebiet, das als Ergebnis dieser Angriffspolitik erworben wurde, nicht wahr?
VON WEIZSÄCKER: Ich wäre dankbar, wenn diese Frage an Herrn von Neurath und nicht an mich gerichtet würde.
MAJOR ELWYN JONES: Wie es Ihnen beliebt. Sie waren in Rom und in Italien im März 1944, nicht wahr?
VON WEIZSÄCKER: Jawohl.
MAJOR ELWYN JONES: Sie haben über das Verhalten der deutschen Streitkräfte in Italien ausgesagt. Waren Sie in Rom zu der Zeit der Massaker in den Hadrianischen Höhlen? Sie erinnern sich des Vorfalles, Zeuge, nicht wahr?
VON WEIZSÄCKER: Jawohl.
MAJOR ELWYN JONES: Als 325 Italiener ermordet wurden und 57 Juden wie als Zulage in die Grube hineingeworfen wurden; da waren Sie doch damals dort, nicht wahr?
VON WEIZSÄCKER: Ich glaube, es waren 320 Gefangene, die ermordet wurden in der Höhle, die Sie vorher genannt haben.
MAJOR ELWYN JONES: Wurden Sie über diese Sache zu Rat gezogen?
VON WEIZSÄCKER: Nein.
MAJOR ELWYN JONES: Das war eine Handlung, die von den deutschen Streitkräften ausgeführt wurde, nicht wahr?
VON WEIZSÄCKER: Ich glaube, von der deutschen Polizei und nicht von den deutschen Streitkräften.
MAJOR ELWYN JONES: Und Sie wissen doch, Zeuge, daß viele ähnliche Morde von der SS während der Zeit der deutschen Tätigkeit in Italien begangen wurden, nicht wahr?
VON WEIZSÄCKER: Ich wüßte nicht von vielen Morden, die da passiert sind, aber ich habe der deutschen Polizei auf diesem Gebiet viel zugetraut.
MAJOR ELWYN JONES: Sie wissen doch, daß sie den Ruf des Terrors und der Brutalität in Italien hinterlassen haben, wo immer sie ihre Spuren hinterließen.
VON WEIZSÄCKER: Die deutsche Polizei, ja.
MAJOR ELWYN JONES: Ich habe keine weiteren Fragen.
VORSITZENDER: Wollen Sie rückverhören?
DR. SIEMERS: Ich habe keine Fragen im Rückverhör.
VORSITZENDER: Dann kann sich der Zeuge zurückziehen.
DR. SIEMERS: Herr Präsident! Ich bitte jetzt den Zeugen Vizeadmiral Schulte-Mönting vorladen zu dürfen.
VORSITZENDER: Gut, rufen Sie ihn!