[Das Gericht vertagt sich bis
23. Mai 1946, 10.00 Uhr.]
Einhundertsiebenunddreißigster Tag.
Donnerstag, 23. Mai 1946.
Vormittagssitzung.
VORSITZENDER: Folgende Dokumente des Angeklagten Seyß-Inquart, gegen die Einspruch erhoben worden ist, läßt der Gerichtshof zu: Nummer 11, 47, 48, 50, 54 und 71.
Die restlichen Dokumente, gegen die Einspruch erhoben wurde, sind zurückgewiesen. Ich will sie anführen: Nummer 5, 10, 14, 19b, 21, 22, 27, 31, 39, 55, 60, 61, 68 und 69.
Das ist alles.
M. DUBOST: Herr Vorsitzender! Gestern abend hat gegen Ende der Sitzung der Verteidiger des Angeklagten Raeder eine Anzahl von Dokumenten vorgelegt, darunter das Dokument Nummer 105 des Dokumentenbuches Nummer 5. Dieses Dokument ist dem Deutschen Weißbuch Nummer 5 entnommen und stellt die Zeugenaussage eines alten Mannes von 72 Jahren dar. Es ist ein Luxemburger, der in Belgien erst seit sechs Monaten lebte und der behauptet, im April 1940 200 französische Soldaten in Belgien gesehen zu haben. Diese Soldaten, die er als französische Soldaten bezeichnete, sollen in Panzerwagen gefahren sein.
Ich bitte den Hohen Gerichtshof, mir zu erlauben, gegen dieses Dokument Nummer 7 des Weißbuches Nummer 5 Einspruch zu erheben. Das Original desselben ist niemals vorgelegt worden und ist sogar im Weißbuch nicht abgedruckt, wie es bei einer gewissen Anzahl anderer Dokumente dieses Deutschen Weißbuches der Fall ist. Es ist notwendig, daß im Namen Frankreichs und Belgiens ein formeller, kategorischer Protest gegen solch eine Behauptung erhoben wird. Französische Truppen haben vor dem Einfall der deutschen Streitkräfte in Belgien niemals belgischen Boden betreten. Nach Durchlesen dieses Schriftstücks Nummer 105 des Dokumentenbuches Nummer 5 des Admirals Raeder kann man verstehen, worauf der Irrtum Grandjenets, auf dessen Zeugenaussage man sich beruft, beruht.
Ich habe dem Hohen Gerichtshof bereits gesagt, daß es sich hier um einen 72jährigen Mann, einen Luxemburger, handelt. Auf die ihm von den deutschen Behörden gestellte Frage, woher er wußte, daß diese Soldaten Franzosen waren, antwortete er:
»Ich erkannte mit Sicherheit, daß es französische Soldaten waren, weil ich die Uniformen genau kenne. Außerdem erkannte ich die Soldaten auch an der Sprache, als sie sich mit mir unterhielten.«
Nun, was die Uniform betrifft, so weiß der Gerichtshof, daß zum Zeitpunkt dieser Ereignisse die belgische Armee Uniformen derselben Farbe und Mützen derselben Form hatte, wie sie in der französischen Armee getragen wurden. Was die Sprache betrifft, so ist es dem Gerichtshof ebenfalls bekannt, daß ein großer Teil der an der luxemburgischen Grenze lebenden belgischen Bevölkerung französisch spricht, ebenso die belgischen Soldaten, die aus diesen Gegenden stammen.
Der Gerichtshof wird sich bestimmt daran erinnern, daß dieser Zeuge, ein sehr alter Mann, erst seit sechs Monaten in Belgien lebte und höchstwahrscheinlich eine sehr begrenzte Erfahrung in belgischen Angelegenheiten und insbesondere hinsichtlich der belgischen Armee hatte.
Auf jeden Fall versichern wir im Namen Frankreichs und Belgiens, daß vor dem 10. Mai 1940 keine französischen Truppen, keine organisierten französischen Truppenverbände, belgischen Boden betreten haben und daß Einzelpersonen, die nach Belgien kamen, dort interniert wurden.
VORSITZENDER: Ja, Dr. Siemers.
DR. SIEMERS: Hohes Gericht! Ich darf ganz kurz erinnern. Es handelt sich um eine Urkunde aus dem Weißbuch, über die schon einmal hier entschieden worden ist und die mir zunächst genehmigt wurde. Ich beantrage, der Anklagebehörde aufzuerlegen, das Original vorzulegen, wenn sie die Richtigkeit dieses Dokuments bestreitet. Ich bin damit im Einklang mit einem Beschluß des Gerichts, der dahin lautete, daß der Antrag zu stellen ist, das Original einzureichen, wenn man es besitzt oder einen Antrag auf Herbeischaffung zu stellen gegenüber demjenigen, der es besitzt. Soweit ich weiß, besitzt das Original die Anklagebehörde, da sämtliche Originale sich in Berlin im Auswärtigen Amt beziehungsweise in der Ausweichstelle befanden und die gesamten Originale dieser Weißbücher in die Hände der Alliierten fielen.
VORSITZENDER: Was meinen Sie, wenn Sie vom Original sprechen? Das Original, nehme ich an, ist das Original des Weißbuches, das meinen Sie wohl?
DR. SIEMERS: Ja, ich meine jetzt, Herr Präsident, das Original dieses richterlichen Protokolls.
VORSITZENDER: Das stammt doch aus einem Weißbuch. Das ist doch ein gedrucktes Dokument, nehme ich an. Ich glaube nicht, daß es das Original der Aussage dieses Luxemburgers enthält.
DR. SIEMERS: Das Weißbuch ist eine Zusammenstellung zahlloser Urkunden und die einzelnen Originalurkunden sind im Besitze des Auswärtigen Amtes; es waren teilweise früher die Akten des französischen Generalstabs, zum Teil waren es richterliche Protokolle. Über den Inhalt dieses Dokuments gäbe es noch mehr...
VORSITZENDER: M. Dubost! Sie beantragen doch nicht, daß dieses Dokument aus dem Protokoll gestrichen werden soll? Der Gerichtshof wird sicherlich die Tatsachen, auf die Sie uns aufmerksam gemacht haben, in Betracht ziehen.
M. DUBOST: Der Gerichtshof wird von uns ersucht, dieses Dokument zurückzuweisen. Zur gleichen Zeit erheben wir Protest gegen die Behauptung der Verteidigung, französische Soldaten hätten während des Monats April die belgische Neutralität verletzt.
Ich bitte den Gerichtshof, mir zu erlauben, einige Erklärungen hinzuzufügen. Das Weißbuch, welches wir vor uns haben, besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil gibt Texte wieder und der zweite Teil Photokopien dieser Texte. Im ersten Teil, welcher nur die Texte wiedergibt, befindet sich das Dokument, um dessen Zurückweisung ich den Gerichtshof ersuche. Wir haben in dem Teil, welcher die Dokumente des ersten Teiles als Photokopien wiedergibt, nach dieser Urkunde gesucht und nichts gefunden. Diese Tatsache erlaubt uns zu behaupten, daß das Original des Dokuments, dessen Zurückweisung wir beantragen, im Deutschen Weißbuch nicht enthalten ist, da es im zweiten Teil nicht erscheint.
DR. SIEMERS: Herr Präsident! Ich glaube, die gesamten Ausführungen des M. Dubost betreffen die Frage des Beweiswertes der Urkunde und nicht die Frage der Zulässigkeit des Dokuments. Daß dies ein ordnungsmäßiges Dokument ist, scheint mir an sich klar zu sein, da es ein richterliches Protokoll ist, wo eine bestimmte Persönlichkeit, nämlich Grandjenet, vernommen worden ist. Alles, was M. Dubost vorbrachte, betraf mehr den Inhalt der Urkunde als die Frage des Beweiswertes. Ich bitte daher, die Urkunde so, wie bisher geschehen, zuzulassen und bitte zu berücksichtigen, daß die Urkunde einen Wert hat im Zusammenhang mit den anderen Urkunden, die mir, beziehungsweise Herrn Dr. Horn, in seinem Dokumentenbuch bezüglich Belgien und Holland genehmigt sind.
Wenn im Dokumentenbuch im zweiten Teil keine Photokopie enthalten ist...
VORSITZENDER: Gut. Dr. Siemers und M. Dubost, der Gerichtshof wird über den vorgebrachten Einspruch beraten.
DR. SIEMERS: Darf ich nur noch erwähnen, Herr Präsident, wenn die Photokopie, was M. Dubost beanstandet, nicht in dem Buch ist, so liegt es daran, daß dieses richterliche Protokoll im Originaltext deutsch ist, und die Faksimiles des Buches sind die Faksimiles nach dem französischen Originaltext, also von denjenigen Urkunden, die im Originaltext französisch waren, und notfalls würde ich mich auf Geheimrat von Schnieden als Zeugen beziehen hinsichtlich dieses Protokolls, da dieser seinerzeit über die sämtlichen Protokolle dieser Art orientiert worden ist und an der Zusammenstellung mitgewirkt hat.
VORSITZENDER: Jawohl, der Gerichtshof wird über den Einspruch beraten.
FLOTTENRICHTER KRANZBÜHLER: Herr Präsident! Mit Erlaubnis des Gerichts möchte ich die Befragung des amerikanischen Oberbefehlshabers der Flotte, Admiral Nimitz, vorlegen, die ich vorgestern erhalten habe und die den Dolmetschern inzwischen in Übersetzung zugegangen ist. Wenn das Gericht gestattet, werde ich es jetzt gleich im Anschluß an die Fälle von Großadmiral Dönitz und Großadmiral Raeder tun.
VORSITZENDER: Hat die Anklagevertretung es gesehen?
FLOTTENRICHTER KRANZBÜHLER: Ja.
VORSITZENDER: Haben Sie Abschriften für uns?
FLOTTENRICHTER KRANZBÜHLER: Ich war informiert worden, daß die Abdrucke für das Gericht durch den Generalsekretär übermittelt seien.
VORSITZENDER: Solange wir keine Abschriften haben, darf das Dokument nicht verlesen werden. Es muß zurückgestellt werden bis wir Abschriften haben.
FLOTTENRICHTER KRANZBÜHLER: Es sind zwei englische Kopien da, eine französische. Ich übergebe das Dokument als Dönitz Nummer 100.
VORSITZENDER: Dr. Kranzbühler! Die Sowjetrichter haben keine russische Kopie des Dokuments. Deswegen müssen Sie es später vorlegen.
Möchte der Verteidiger des Angeklagten von Schirach nun seinen Fall vorbringen?
DR. FRITZ SAUTER, VERTEIDIGER DER ANGEKLAGTEN FUNK UND VON SCHIRACH: Meine Herren Richter! Ich beabsichtige, zunächst die Vernehmung des Angeklagten Schirach selbst durchzuführen und im Rahmen dieser Vernehmung bei den einzelnen Punkten dann auch gleich die entsprechende Stelle des Dokumentenbuches zu Ihrer Kenntnis zu bringen. Im Anschluß an die Vernehmung des Angeklagten werde ich dann die vier Zeugen rufen, und zum Schluß beabsichtige ich den Rest der Dokumente vorzutragen, soweit diese Dokumente nicht schon bei der Vernehmung des Angesagten von Schirach bewertet worden sind. Ich nehme an, Herr Präsident, daß Sie mit dieser Sachbehandlung einverstanden sind.
Ich rufe dann auf den Zeugenstand zuerst Baldur von Schirach.