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[Der Angeklagte betritt den Zeugenstand.]

VORSITZENDER: Wollen Sie mir den folgenden Eid nachsprechen:

Ich schwöre bei Gott, dem Allmächtigen und Allwissenden, daß ich die reine Wahrheit sagen, nichts verschweigen und nichts hinzusetzen werde.

[Der Zeuge spricht die Eidesformel nach.]

DR. SAUTER: Herr Zeuge! Wann sind Sie geboren?

BALDUR VON SCHIRACH: Am 9. Mai 1907.

DR. SAUTER: Sie sind also vor einigen Tagen 39 Jahre alt geworden. Sie sind seit 14 Jahren verheiratet, stimmt das?

VON SCHIRACH: Ja.

DR. SAUTER: Sie haben vier Kinder im Alter von...

VON SCHIRACH:...von 4, 8, 11 und 13 Jahren.

DR. SAUTER: Sie waren im Dritten Reich in der Hauptsache als Jugendführer tätig?

VON SCHIRACH: Ja.

DR. SAUTER: Welche Ämter haben Sie in dieser Beziehung bekleidet, und zwar Ämter in der Partei und Ämter im Staat, und geben Sie dann bitte gleich auch an, wie lange Sie die einzelnen Ämter innegehabt haben?

VON SCHIRACH: Ich war zunächst 1929 Führer des Nationalsozialistischen Studentenbundes, 1931 wurde ich Reichsjugendführer der NSDAP, zunächst im Stabe der Obersten SA-Führung, 1932 Reichsleiter für die Jugenderziehung der NSDAP, 1933 Jugendführer des Deutschen Reiches, zunächst unter dem Reichsinnenminister Dr. Frick. 1934 war ich in derselben Stellung unter dem Reichserziehungsminister Rust. 1936 wurde der Jugendführer des Deutschen Reiches Oberste Reichsbehörde, und als solcher war ich dem Führer und Reichskanzler unmittelbar unterstellt.

DR. SAUTER: Welche Ämter waren nun Parteiämter und welche von den angeführten Ämtern waren Reichsämter?

VON SCHIRACH: Parteiämter waren das Amt des Reichsjugendführers der NSDAP und das des Reichsleiters der Jugenderziehung. Staatsämter: Der Jugendführer des Deutschen Reiches zunächst in der geschilderten Stellung unter dem Innenminister beziehungsweise Erziehungsminister und dann in der selbständigen Stellung.

DR. SAUTER: Von diesen Ämtern, Herr Zeuge, wurden Sie 1940 zum Teil abberufen. Welche Ämter haben Sie 1940 in der Jugendführung verloren und welche Ämter haben Sie noch in der Folgezeit bis zum Ende bekleidet?

VON SCHIRACH: 1940 gab ich die unmittelbare Führung der Jugend ab, das heißt ich gab ab das Amt der Reichsjugendführung der NSDAP, behielt aber das Amt des Reichsleiters für die Jugenderziehung und damit die gesamte Verantwortung für die deutsche Jugend. Ich erhielt als zusätzliches neues Amt das des Gauleiters in Wien, das verbunden war mit dem Staatsamt des Reichsstatthalters in Wien und auch mit dem des Reichsverteidigungskommissars für den Wehrkreis XVII.

DR. SAUTER: Herr Zeuge! Wir wollen zu Ihrer Tätigkeit als Jugendführer zunächst zurückkehren. Von Ihnen liegt ein Affidavit vor vom 4. Dezember 1945, 3302-PS. In dieser eidesstattlichen Versicherung haben Sie im Dezember gegenüber der Staatsanwaltschaft erklärt, daß Sie sich für die gesamte Jugenderziehung des Dritten Reiches verantwortlich bekennen.

VON SCHIRACH: Das ist richtig.

DR. SAUTER: Waren Sie damals, wie Sie diese Schulderklärung abgegeben haben, der Auffassung, daß Ihr Nachfolger, also der spätere Reichsjugendführer Axmann, tot sei?

VON SCHIRACH: Ja.

DR. SAUTER: Sie haben geglaubt, er sei bei den Endkämpfen gefallen?

VON SCHIRACH: Ja, ich war der Überzeugung, daß er in Berlin gefallen war.

DR. SAUTER: In der Zwischenzeit, Herr Zeuge, haben Sie aus Zeitungsberichten entnommen, daß Ihr Nachfolger als Reichsjugendführer, dieser Axmann, noch lebt. Nicht wahr?

VON SCHIRACH: Ja.

DR. SAUTER: Wollen Sie nun heute Ihr Affidavit über Ihre persönliche Verantwortlichkeit als Jugendführer aufrechterhalten, und zwar im vollen Umfang aufrechterhalten; oder wollen Sie es heute irgendwie einschränken?

VON SCHIRACH: Ich möchte dieses Affidavit in keiner Weise einschränken. Obwohl Hitler in den letzten Jahren seines Lebens Befehle an die Jugend gegeben hat, die ich nicht kenne, und obwohl auch mein Nachfolger Axmann besonders im Jahre 1944 Befehle gegeben hat, die ich nicht kenne, weil die Verbindung zwischen uns durch die Kriegsereignisse abgerissen war, bleibe ich bei der abgegebenen Erklärung in der Erwartung, daß das Gericht mich als den einzig Verantwortlichen der Jugend betrachtet und kein anderer Jugendführer für solche Handlungen vor Gericht gestellt wird, für die ich die Verantwortung übernommen habe.

DR. SAUTER: Herr Zeuge! Mich würde nun interessieren, ob für die Art Ihrer Jugenderziehung etwa Grundsätze und Richtlinien maßgebend waren, die Sie von Hitler oder irgendeiner Parteistelle empfangen haben, oder von irgendeiner Staatsseite, oder ob für Ihre Jugenderziehung maßgebend waren die Erfahrungen, die Sie in Ihrer eigenen Jugend und im Kreise der damaligen Jugendführer gesammelt haben?

VON SCHIRACH: Das letztere ist richtig. Selbstverständlich war die Erziehung der Hitler-Jugend eine Erziehung auf der Basis der nationalsozialistischen Idee. Aber die spezifisch erzieherischen Gedanken stammen nicht von Hitler, sie stammen auch nicht von anderen Führern der Partei, sie stammen aus der Jugend selbst, sie stammen von mir, und sie stammen von meinen Mitarbeitern.

DR. SAUTER: Wollen Sie nun dem Gericht vielleicht näher darlegen, wie Sie selber zu diesen Prinzipien und zu dieser Art der Jugenderziehung gekommen sind auf Grund Ihrer eigenen Erziehung, Ihrer persönlichen Entwicklung und so weiter?

VON SCHIRACH: Ich glaube, ich kann das am einfachsten dadurch tun, daß ich die Geschichte meiner Jugend ganz kurz hier skizziere und dabei auch die Jugendorganisationen schildere, mit denen ich in Berührung kam. Ich kann dadurch viel Zeit sparen für meine weiteren Aussagen.

Mein Vater war aktiver Offizier in dem Garde-Kürassier-Regiment des Kaisers. Ich wurde in Berlin geboren, mein Vater nahm ein Jahr später seinen Abschied und zog nach Weimar, wo er die Leitung des dortigen Hoftheaters, des späteren Weimarer Nationaltheaters, übernahm. So kommt es, daß ich in Weimar aufgewachsen bin und diese Stadt, die ja in gewissem Sinne die Heimatstadt aller Deutschen ist, als meine persönliche Heimatstadt empfinde. Mein Vater war wohlhabend, das Elternhaus bot reiche geistige und künstlerische Anregungen, vor allem auf literarischem und musikalischem Gebiet, aber neben und über diesen Bildungsmöglichkeiten des Elternhauses war es die Aura der Stadt selbst, die Aura des klassischen, aber auch des nachklassischen Weimar, die auf meine Entwicklung eingewirkt hat. Vor allem aber der Genius loci, der mich früh in seinen Bann schlug. Ich habe gerade wegen dieser Jugenderlebnisse die Jugend später immer wieder, Jahr für Jahr, nach Weimar und zu Goethe hingeführt, und das erste Dokument, das in diesem Zusammenhange wichtig ist für meinen Fall, das ist Dokument 80, mag das beweisen. In diesem Dokument wird kurz Bezug genommen auf eine der zahlreichen Reden, die ich im Verlauf meiner Tätigkeit als Jugendführer an die Führerschaft der jungen Generation gehalten habe und in der ich die Jugend auf Goethe hingewiesen habe.

DR. SAUTER: Darf ich einen Moment unterbrechen, Herr von Schirach.

In diesem Dokument Nummer 80, Herr Präsident, es findet sich auf Seite 133 des Dokumentenbuches Schirach, befindet sich ein kurzer Bericht über eine Reichskulturtagung der Hitler-Jugend in Weimar. Es ist das zufällig ein Bericht über das Jahr 1937, aber der Angeklagte hat Ihnen ja schon gesagt, solche Reichskulturtagungen der Hitler-Jugend in Weimar, also in der Stadt von Schiller und Goethe, haben jedes Jahr stattgefunden; in diesem Bericht, Dokument Nummer 80 des Dokumentenbuches Schirach, ist zum Beispiel von einer Rede des Angeklagten über Goethes Bedeutung für die nationalsozialistische Jugenderziehung die Rede. Es wird dabei erwähnt, daß Schirach damals sagte, ich zitiere wörtlich...

VORSITZENDER: Es ist nicht nötig, uns das vorzulesen, Dr. Sauter; es bezieht sich auf Goethe.

DR. SAUTER: Dann bitte ich fortzufahren, Herr von Schirach.

VON SCHIRACH: Es war das nicht nur die jährliche Reichskulturtagung, sondern die Führertagung der Hitler-Jugend fand alljährlich in Weimar statt. Daneben außerdem die Veranstaltungen, die wir die Weimarer Festspiele der Deutschen Jugend nannten.

Was wesentlich ist in diesem Zusammenhange ist, daß ich in dieser Rede ein Wort von Goethe zitiert habe, das gewissermaßen ein Leitmotiv meiner ganzen erzieherischen Arbeit geworden ist: »Die Jugend bildet sich wieder an der Jugend.«

Auch mein gehässigster Gegner kann an der Tatsache nicht vorbeigehen, daß ich der jungen Generation des deutschen Volkes zu allen Zeiten nicht nur der Propagandist eines nationalen Sozialismus, sondern auch der Propagandist Goethes war. Ein Herr Ziemer hat gegen mich ein umfangreiches Affidavit eingereicht, in dem er sich mit der Jugenderziehung, die ich zu verantworten habe, auseinandersetzt. Ich glaube, Herr Ziemer hat sich die Arbeit etwas leicht gemacht. Er hätte zumindest die erzieherische Aktivität, die ich im Hinblick auf die Heranführung der Jugend an das Lebenswerk Goethes verwendet habe, auch bei seiner Darstellung der deutschen nationalen Erziehung berücksichtigen müssen.

Ich war zehn Jahre alt, als ich in die erste Jugendorganisation eintrat. Ich war also gerade so alt, wie die Jungen und Mädel, die später in das Jungvolk aufgenommen wurden. Es war dies der sogenannte Jungdeutschlandbund, eine Organisation, die Graf von der Goltz geschaffen hatte, eine Pfadfinderorganisation. Graf von der Goltz und Haeseler hatten unter dem Eindruck der britischen Boy-Scout-Bewegung Pfadfinderbünde in Deutschland geschaffen, und eine dieser Pfadfinderorganisationen war der eben erwähnte Jungdeutschlandbund. Er spielte eine bedeutende Rolle in der deutschen Jugenderziehung etwa bis 1918/1919 hinein.

Viel wesentlicher für meine Entwicklung war aber eine Zeit, die ich in einem Waldpädagogium verbrachte. Es war dies ein Landerziehungsheim, das ein Mitarbeiter des bekannten Erziehers Hermann Lietz leitete. Dort wurde ich in den Gedankengängen erzogen, die ich später auf einer ganz anderen Basis...

VORSITZENDER: Dr. Sauter! Glauben Sie, daß die Erziehung des Angeklagten selbst wesentlich ist? Die Erziehung, die er vermittelte, ist wesentlich. Was er gelehrt hat, nicht was er selbst lernte.

DR. SAUTER: Herr Präsident! Der Angeklagte würde Sie aber trotzdem bitten, ihm diese Darlegungen etwas zu gestatten, und zwar insbesondere auch unter dem Gesichtspunkt, weil er Ihnen damit zeigen will, daß die Grundsätze, nach denen er dann die Jugenderziehung geleitet hat, zu ihm gekommen sind nicht etwa von Hitler und nicht von irgendeiner Parteidienststelle, sondern daß sie, sich ergeben haben aus seinen eigenen Jugenderfahrungen in seiner eigenen Jugend. Es ist doch für das Gericht bis zu einem gewissen Grade von Bedeutung, der Frage nachzugehen: Nach welchen Grundsätzen hat der Angeklagte die Jugenderziehung geführt, und wie ist er zu diesen Grundsätzen gekommen? Das bittet der Angeklagte darlegen zu dürfen.

VORSITZENDER: Nun, Dr. Sauter, der Angeklagte hat bereits beträchtliche Zeit in Anspruch genommen, um uns über seine frühe Jugend und seine Ausbildung zu erzählen. Der Gerichtshof ist der Meinung, daß dies abgekürzt werden sollte und daß nicht noch mehr Zeit auf die Frage der Erziehung des Angeklagten zu verwenden sei. Wie ich Ihnen schon sagte, ist für uns die Erziehung, die er der deutschen Jugend vermittelte, wesentlich und nicht die Erziehung, die er selbst genoß.

DR. SAUTER: Wir werden selbstverständlich Ihrem Wunsche Rechnung tragen, Herr Präsident.