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[Zum Zeugen gewandt:]

Herr von Schirach! Fassen Sie also Ihre Ausführungen so kurz wie möglich.

VON SCHIRACH: Ich kann es sehr kurz machen.

DR. SAUTER: Ich bitte.

VON SCHIRACH: Die Idee von Lietz war, der Jugend eine Erziehung zu geben, durch die sie in der Schule ein Abbild des Staates erhielt. Die Schulgemeinde war ein Miniaturstaat, und es entwickelte sich in dieser Schulgemeinde eine Selbstverwaltung der Jugend. Ich will nur kurz andeuten, daß er auch Ideen weiterführte, die lange vor ihm Pestalozzi und der große Jean Jacques entwickelt haben. Irgendwie geht ja alle moderne Erziehung auf Rousseau zurück, ob es sich nun um Hermann Lietz oder die Boy Scouts, die Pfadfinderbewegung, oder den deutschen Wandervogelbund handelt. Jedenfalls, aus dieser Idee der Selbstverwaltung der Jugend in einer Schulgemeinde habe ich meine Idee von der Selbstführung der Jugend.

Mein Gedanke war, in der Schule die junge Generation mit Ideen zu erfassen, die 80 Jahre vorher Fröbel begründet hatte. Lietz wollte von der Schule aus die junge Generation erfassen.

Ich darf vielleicht ganz kurz erwähnen, daß, als 1898 Lietz mit seiner Erziehungsarbeit begann, im selben Jahre in einer südafrikanischen Stadt der britische Major Baden-Powell durch Aufständische eingeschlossen wurde und dort die Jugend zu Spähern in Wäldern ausbildete und daraus den Grund legte zu seiner eigenen Boy-Scout-Bewegung, und daß im selben Jahre 1898 Karl Fischer aus Berlin-Steglitz die Wandervogelbewegung gründete.

DR. SAUTER: Herr Zeuge! Ich glaube, dieses Kapitel, das ja eigentlich nur die Vorgeschichte darüber behandelt, können wir ja doch, dem Wunsche des Herrn Präsidenten entsprechend, abschließen, Wenn ich Sie richtig verstanden habe, wollen Sie sagen, die Grundsätze, die Sie dann später als Reichsjugendführer angewandt haben, die haben Sie kennengelernt in Ihrer eigenen Jugend und in der damaligen Jugendbewegung.

Stimmt das?

VON SCHIRACH: Ja, im Grunde ja. Ja, die Grundlagen meiner späteren Arbeit liegen dort.

DR. SAUTER: Nun würde mich in dieser Beziehung noch eines interessieren. Hatte diese Erziehung damals irgendeine politische oder antisemitische Tendenz, und wie sind Sie denn dann eigentlich zur Politik gekommen?

VON SCHIRACH: Nein, diese Erziehung hatte gar keine politische oder schon gar nicht eine antisemitische Tendenz, denn Lietz stammte ja aus dem Kreis des Demokraten Naumann, aus dem Kreis Damaschkes.

DR. SAUTER: Wie sind Sie denn dann zur Politik gekommen?

VON SCHIRACH: Inzwischen war die Revolution ausgebrochen. Mein Vater...

DR. SAUTER: Die Revolution von 1918/1919?

VON SCHIRACH: Ja, die Revolution von 1918/1919. Mein Vater war von den Roten aus seinem Amt gejagt worden. Die Nationalversammlung in Weimar hatte getagt, die Weimarer Republik war gegründet, wir hatten ein parlamentarisches System, wir hatten eine Demokratie oder was wir in Deutschland für Demokratie hielten, ich bezweifle, daß es eine war. Es war die Zeit um 1923. Ich befand mich im Elternhaus. Es war eine Periode allgemeiner Unsicherheit, Not und Unzufriedenheit; viele angesehene Familien waren durch die Inflation an den Bettelstab gekommen, die Ersparnisse des Arbeiters und des Bürgers waren verloren. Der Name Hitler tauchte auf im Zusammenhang mit den Ereignissen des 9. November 1923. Es war mir damals nicht möglich, etwas Genaues über ihn zu erfahren. Erst der Prozeß hat mich und meine Altersgenossen über das unterrichtet, was Hitler eigentlich gewollt hat. Ich war damals nicht Nationalsozialist, sondern ich trat mit einigen Altersgenossen einer Jugendorganisation bei, die den Namen »Knappenschaft« trug. Sie gehörte irgendwie mit zur völkischen Bewegung, war aber an keine Partei gebunden. Die einfachen Grundsätze dieser Organisation waren Kameradschaft, Patriotismus und Selbstzucht. Wir waren damals etwa 100 Jungens in meiner Heimatstadt, die in dieser Jugendgemeinschaft gegen die Verflachung in der jungen Generation der Nachkriegszeit uns wandten und gegen die Verlotterung, gegen den Amüsierbetrieb der Halbwüchsigen.

In diesem Kreis erlebte ich als Sechzehnjähriger zum erstenmal den Sozialismus, denn hier fand ich Jugend aller Berufe, Arbeiterjungen, Handwerker, junge Angestellte, Bauernsöhne. Es waren aber auch ältere unter uns, die ihren Platz im Leben bereits ausfüllten und auch einige, die im Weltkrieg gewesen waren. In der Aussprache mit diesen Kameraden habe ich zuerst die Folgen des Versailler Diktats in ihrem ganzen Umfange begreifen gelernt. Die Lage der jungen Generation war damals folgende: Der Schüler hatte die Aussicht, als Werkstudent sich durchschlagen zu können, schlecht und recht, und dann würde er aller Wahrscheinlichkeit nach dem akademischen Proletariat anheimfallen, denn die Möglichkeit auf einen akademischen Beruf bestand für ihn so gut wie gar nicht. Der Jungarbeiter hatte kaum die Aussicht, eine Lehrstelle zu bekommen. Für ihn gab es nichts anderes als das graue Elend des Erwerbslosendaseins. Es war eine Generation, der niemand helfen würde, wenn sie sich nicht selbst half.

DR. SAUTER: Und dieser Kreis, dem Sie damals als etwa Sechzehnjähriger angehörten, geriet dann allmählich in das nationalsozialistische Fahrwasser?

VON SCHIRACH: Ja, und zwar auf ganz natürliche Weise.

DR. SAUTER: Wie kam das?

VON SCHIRACH: In Mitteldeutschland waren Unruhen. Ich brauche bloß den Namen des kommunistischen Bandenführers Max Holz zu nennen, um anzudeuten, welche Verhältnisse damals waren. Und auch nachdem äußerlich Ruhe eingetreten war, hatten wir doch solche Zustände, daß es unmöglich war, nationale Versammlungen durchzuführen, weil diese von Kommunisten gesprengt zu werden pflegten. Man appellierte nun an uns junge Leute, den Versammlungsschutz für die patriotischen Veranstaltungen zu übernehmen. Wir haben das getan. Wir haben dabei Verwundete gehabt. Einer von uns, ein gewisser Garschar, wurde von Kommunisten erschlagen. Wir haben nun auf solche Weise sehr viele nationale Versammlungen ermöglicht, die sonst in der Weimarer Republik überhaupt nicht hätten abgehalten werden können, auch nationalsozialistische Versammlungen, und in zunehmendem Maße waren es gerade solche Versammlungen, die wir schützen mußten, weil besonders gegen sie sich der kommunistische Terror richtete.

Ich lernte durch diese Schutztätigkeit führende nationalsozialistische Männer – als Redner zunächst natürlich, nicht persönlich – kennen. Ich hörte damals den Grafen Reventlow, ich glaube, ich habe damals auch Rosenberg gehört, ich habe Streicher reden gehört, und ich habe die ersten rednerischen Anfänge von Sauckel damals erlebt, der ja bald darauf in Thüringen Gauleiter der Nationalsozialistischen Partei wurde. Auf diese Weise...

VORSITZENDER: Von welchem Datum spricht er jetzt?

DR. SAUTER: Es handelt sich um die Zeit von 1924, also ein Jahr nach dem Hitler-Putsch.