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[Das Gericht vertagt sich bis 14.00 Uhr.]

Nachmittagssitzung.

DR. SAUTER: Herr Zeuge! Wir haben uns vor der Pause beschäftigt mit der Frage der militärischen oder vormilitärischen Erziehung der Jugend. Ich komme nun zu einem verwandten Kapitel, nämlich zur Frage: Haben Sie als Jugendführer in Ihren Aufsätzen und Reden und Befehlen die Jugend irgendwie in der Richtung auf einen Angriffskrieg psychologisch zu beeinflussen versucht, um die Jugend auf diese Weise für eine Kriegsstimmung zu gewinnen?

VON SCHIRACH: Nein. Ich habe niemals in meinen Reden an die Jugend oder in dem, was ich für die Jugend in Befehlen und Weisungen niederlegte, die Jugend auf den Krieg vorbereitet. Ich habe auch nie im kleinsten Kreise vor Mitarbeitern mich in dieser Weise geäußert. Meine sämtlichen Reden sind in der Sammlung »Das Archiv«, jedenfalls in ihrem wesentlichsten Inhalt, erfaßt. Ein großer Teil meiner Reden ist in einer Sammlung in einem Buch »Revolution der Erziehung« zusammengefaßt, das dem Gericht vorliegt, Aus allen diesen Beweismitteln geht hervor, daß ich mich niemals in diesem Sinne der Jugend gegenüber geäußert habe; es hätte das auch in direktem Widerspruch zu allen meinen Bestrebungen gestanden, mit der Jugend der anderen Nationen zusammenzuarbeiten.

DR. SAUTER: Ich darf vielleicht, Herr Präsident, in diesem Zusammenhang auf die Urkunde im Dokumentenbuch Schirach Nummer 125, ich wiederhole, 125 und ebenso 126 verweisen, wo Schirach zur Frage der Erhaltung des Friedens und zur Ablehnung des Krieges Stellung nimmt, und ich bitte, von diesen Urkunden zu Beweiszwecken Kenntnis nehmen zu wollen.

Herr Zeuge! Sie sprachen eben von der Zusammenarbeit Ihrer Reichsjugendführung und der deutschen HJ mit der Jugend anderer Nationen. Können Sie uns hierüber nähere Angaben machen, insbesondere nach der Richtung, mit welchen Jugendvereinen anderer Nationen Sie zusammengearbeitet und eine Annäherung versucht haben und in welcher Form und in welchem Umfang?

VON SCHIRACH: Ich habe von 1933 ab von Jahr zu Jahr in steigendem Maße mich bemüht, Austauschlager mit Jugendorganisationen anderer Länder zustande zu bringen. Es sind bei uns sehr häufig Gruppen der englischen Jugend, der französischen Jugend, der belgischen Jugend und Jugend aus vielen anderen Ländern, natürlich besonders aus Italien, zu Gast gewesen. Ich erinnere mich, daß wir in einem Jahr allein, ich glaube, es war das Jahr 1936, rund 200000 Übernachtungen ausländischer Jugendlicher in unseren Jugendherbergen hatten. In dem Zusammenhang ist es vielleicht wichtig zu sagen, daß das Jugendherbergswerk, das ich 1933 übernommen hatte, von mir ausgebaut wurde und schließlich ein Bestandteil eines internationalen Herbergswerkes wurde, dessen Präsident zeitweise ein Deutscher, zeitweise ein Engländer gewesen ist. Durch ein internationales Herbergsabkommen ermöglichten wir den Jugendlichen unserer Nationen, in den Jugendherbergen der Gastländer übernachten zu können.

Ganz besonders habe ich mich bemüht um eine Verständigung mit der französischen Jugend. Ich muß sagen, daß das eine Lieblingsidee von mir gewesen ist; ich glaube, meine ehemaligen Mitarbeiter werden sich erinnern, wie intensiv ich an der Verwirklichung dieser Idee gearbeitet habe. Ich habe meine Führerzeitschrift – ich weiß nicht, ob mehrmals, aber bestimmt weiß ich, einmal – in französischer Sprache erscheinen lassen, um damit diese Verständigungsarbeit zwischen deutscher und französischer Jugend zu untermauern. Ich bin in Paris gewesen und habe an die Kinder von 1000 Frontkämpfern des ersten Weltkrieges Einladungen ergehen lassen, nach Deutschland zu kommen. Ich habe sehr häufig französische Jugend in Deutschland zu Gast gehabt, aber über diese Frankreichverständigung hinaus, die schließlich auch zu Schwierigkeiten zwischen dem Führer und mir führte, habe ich mit vielen, vielen, vielen anderen Jugendorganisationen zusammengewirkt. Ich darf vielleicht nachtragen, daß diese deutsch-französische Zusammenarbeit in der Jugend unterstützt wurde, vor allem durch den Botschafter Poncet in Berlin, durch den Ministerpräsidenten Chautemps und durch andere französische Persönlichkeiten, die in meiner eigenen Führerzeitschrift zu diesem Thema das Wort ergriffen.

Ich stand mit Jugendführern in aller Welt im Gedankenaustausch, und ich selbst habe weite Reisen unternommen, um die Jugendorganisationen der anderen zu besuchen und die Fühlung mit ihnen herzustellen. Der Krieg hat diese Arbeit beendet. Ich möchte hier auch nicht unerwähnt lassen, daß ich ein ganzes Jahr der Arbeit der Jugend unter die Parole »Verständigung« gestellt habe, daß ich in allen meinen Ansprachen an die Jugend versucht habe, sie zum Verständnis gegenüber anderen Völkern zu führen und zu erziehen.

DR. SAUTER: Ist es richtig, daß Sie zum Beispiel noch in den letzten Jahren vor dem Krieg, ich glaube, noch im Winter 1937/38 und dann 1938/39, größere Abordnungen englischer Jugend in Skilagern der HJ empfingen und daß umgekehrt auch noch in diesen Jahren größere Abordnungen von HJ-Führern und HJ-Mitgliedern nach England geschickt wurden, damit sich die Leute gegenseitig kennen und verstehen?

VON SCHIRACH: Ja, das ist richtig. Es fanden unzählige Lager von ausländischer Jugend in Deutschland statt und sehr viele Lager deutscher Jugend im Auslande. Ich habe selbst häufig solche Lager besucht oder Abordnungen aus solchen Lagern empfangen; ich habe, das möchte ich noch hinzufügen, noch im Jahre 1942 den Versuch gemacht, mit der französischen Jugend zusammenzuarbeiten. Damals lagen die Schwierigkeiten in der Haltung Mussolinis. Ich bin nach Rom gefahren, ich habe in Rom durch die Vermittlung des Grafen Ciano eine lange Unterhaltung mit Mussolini gehabt und habe erreicht, daß er keine Einwendungen dagegen hatte, daß die Jugend alle französischen Gruppen nach Deutschland einlud. Leider hat dann Hitler, als ich dieses Ergebnis dem Außenminister mitteilte, das abgelehnt; jedenfalls hat mir das Herr von Ribbentrop so gesagt.

DR. SAUTER: Aus einem Aufsatz in der Zeitschrift »Archiv« vom Jahre 1938 entnehme ich zum Beispiel, daß Sie in diesem Jahre unter anderem 1000 französische Frontkämpferkinder, also Kinder von französischen Frontkämpfern, nach Deutschland in die Lager der HJ und in die deutsch-französischen Jugend-Skilager eingeladen haben; stimmt das?

VON SCHIRACH: Ja, das habe ich schon ausgeführt.

DR. SAUTER: Aus einer anderen Quelle habe ich ersehen, daß Sie zum Beispiel, ich glaube 1939, eigens einen Gedenkstein setzen ließen, ich vermute im Schwarzwald, als einige Mitglieder einer englischen Jugendabordnung dort beim Sport verunglückten, stimmt das?

VON SCHIRACH: Ja.

DR. SAUTER: Herr Präsident! Der Angeklagte hat vorhin davon gesprochen, daß er in der Nähe von Berlin für diese Zwecke ein eigenes Haus errichtet hat unter dem Titel: »Das Auslandshaus der HJ«.

Ich darf das Bildwerk über dieses »Auslandshaus« als Dokument Nummer 120 im Original dem Gericht vorlegen, und ich bitte, sich dieses Bildwerk anzusehen, und zwar deshalb, weil die Abbildungen in dem Bildwerk...

VORSITZENDER: Wir sind gern bereit, Ihnen zu glauben, ohne das Haus anzusehen. Der besondere architektonische Stil wird uns nicht beeinflussen.

DR. SAUTER: Ja, aber wenn Sie die Abbildungen nicht ansehen, dann wissen Sie ja nicht, wie das Haus ausgestattet war, und Sie werden nicht sehen, daß zum Beispiel in dem ganzen Haus nicht ein Hakenkreuz oder nicht ein einziges Hitlerbild und dergleichen angebracht war. Das ist also auch eine Rücksichtnahme auf die Einstellung der Auslandsgäste.

Und in diesem Zusammenhang, Herr Präsident, darf ich noch bitten, von einer Reihe von Urkunden zu Beweiszwecken Kenntnis nehmen zu wollen, die alle Bezug haben auf die Bemühungen des Angeklagten von Schirach um eine Annäherung der deutschen Jugend an die Jugend anderer Völker.

Es sind das im Dokumentenbuch Schirach die Dokumente Nummer 99 mit 107 einschließlich, dann das Dokument Nummer 108 mit Nummer 113, ferner das Dokument Nummer 114 mit Nummer 116a und dann die Dokumente Nummer 117, 119 und 120. Alle diese Dokumente beziehen sich auf den gleichen Komplex.

Herr Zeuge! Wenn Sie solche Abordnungen ausländischer Jugend nach Deutschland eingeladen haben, ist vor diesen Jugendabordnungen irgend etwas an deutschen Einrichtungen, insbesondere bei der HJ, verheimlicht worden, oder wie war das?

VON SCHIRACH: Nein, es ist grundsätzlich ausländischen Jugendführern, die den Wunsch hatten, unsere Einrichtungen kennenzulernen, alles, aber rücksichtslos auch alles gezeigt worden. Es gibt überhaupt keine Einrichtung der deutschen Jugend der vergangenen Zeit, die nicht unseren ausländischen Gästen gezeigt worden wäre. Auch die sogenannte vormilitärische Ausbildung wurde in allen Einzelheiten ihnen vorgeführt.

DR. SAUTER: Im Jahre 1939 brach dann der zweite Weltkrieg aus. Haben Sie in den letzten Monaten vorher ernstlich mit einem Krieg gerechnet, oder womit haben Sie sich damals befaßt?

VON SCHIRACH: Ich war der festen Überzeugung, daß Hitler es nicht zum Krieg kommen lassen würde. Ich war der Meinung, daß er sich keiner Täuschung darüber hingeben könnte, daß die Westmächte entschlossen waren, ernst zu machen. Ich habe bis zum Tage des Ausbruches des Krieges fest geglaubt, daß der Krieg sich würde vermeiden lassen.

DR. SAUTER: Haben Sie mit militärischen Führern oder mit politischen Persönlichkeiten damals über die Kriegsgefahr und über die Aussichten einer Friedenserhaltung irgendwelche Besprechungen gepflogen?

VON SCHIRACH: Nein. Ich möchte überhaupt hier einmal etwas über meine Besprechungen mit militärischen Persönlichkeiten sagen. Ich habe vorhin schon angeführt, daß ich im Laufe von zwölf Jahren, also von 1933 bis 1944 oder 1945 – also dreizehn Jahre – mit Herrn Feldmarschall Keitel eine oder vielleicht zwei halbstündige Besprechungen gehabt habe. Ich erinnere mich an eine davon, bei der es sich ausschließlich um eine persönliche Angelegenheit gehandelt hat. Ich habe im gleichen Zeitraum mit dem Großadmiral Raeder, ich glaube, nur eine einzige Besprechung gehabt. Den Großadmiral Dönitz habe ich überhaupt erst hier in Nürnberg kennengelernt. Mit Generaloberst Jodl habe ich überhaupt nie eine dienstliche Besprechung gehabt. Mit dem verstorbenen Generalfeldmarschall von Blomberg habe ich, wenn ich mich recht erinnere, im Abstand vielleicht zweimal eine halbstündige Besprechung gehabt. Mit dem früheren Oberbefehlshaber des Heeres von Fritsch habe ich überhaupt keine dienstlichen Besprechungen gehabt. Ich bin nur einmal sein Gast gewesen, als er Skiwettkämpfe für das Heer veranstaltete. Und dazu hat er mich freundlicherweise, weil er mein Interesse für den Skisport kannte, eingeladen.

Mit seinem Nachfolger von Brauchitsch habe ich im Jahre 1933, als ich in Königsberg zur Jugend sprach, eine allgemeine Unterhaltung über erzieherische Fragen gehabt, und später habe ich ihn, ich glaube, einmal dienstlich aufgesucht und eine Frage besprochen, die von keiner wesentlichen Bedeutung für die Jugenderziehung gewesen ist. Es war irgendeine technische Angelegenheit. Das sind die Besprechungen mit militärischen Persönlichkeiten gewesen Ich muß überhaupt sagen, daß ich für Besprechungen keine Zeit gehabt habe. Ich habe eine Organisation von acht Millionen Menschen geführt, und ich bin eingespannt gewesen in den Dienst dieser Organisation in einer solchen Weise, daß ich gar nicht die Möglichkeit hatte, in Berlin an Konferenzen und Erörterungen über die Lage teilzunehmen, selbst wenn ich dazu Zutritt gehabt hätte, was nicht der Fall war.

DR. SAUTER: Herr Zeuge! Sie waren seit 1932 Reichsleiter, gehörten also zur obersten Führergruppe innerhalb der Partei. Sind Sie nicht in dieser Eigenschaft als Reichsleiter von Hitler oder seinem Stellvertreter oder anderen politischen Persönlichkeiten über die politische Lage informiert worden?

VON SCHIRACH: Hitler hat, ich glaube, durchschnittlich zweimal im Jahre die Reichs- und Gauleiter zusammen zu einem Vortrag eingeladen, in dem er rückschauend zu den politischen Ereignissen Stellung nahm. Niemals hat Hitler in diesem Kreis zu zukünftigen Unternehmungen militärischer oder politischer Art Stellung genommen.

DR. SAUTER: Sie wurden infolgedessen, wenn ich Ihre Antwort recht verstehe, von diesen außenpolitischen Tatsachen jeweils überrascht.

VON SCHIRACH: Jawohl.

DR. SAUTER: War es so auch bei der Frage Anschluß Österreich?

VON SCHIRACH: Jawohl. Ich habe von dem Anschluß Österreichs, den ich natürlich lebhaft begrüßt habe, erfahren auf – wenn ich mich recht erinnere – auf einer Autofahrt von meiner Akademie in Braunschweig nach Berlin durch das Radio. Ich bin dann nach Berlin weitergefahren, bin dort gleich in einen Zug gestiegen und bin am nächsten Morgen in Wien eingetroffen und habe dort die Jugend begrüßt: Die Jugendführer, die zum Teil sehr lange in den Gefängnissen und im Konzentrationslager Wöllersdorf gesessen haben, und die vielen Jugendführerinnen, die auch ein ziemlich schweres Schicksal hinter sich hatten.

DR. SAUTER: Von dem Einmarsch in die Tschechoslowakei?

VON SCHIRACH: Erfuhr ich wie jeder andere deutsche Staatsbürger durch den Rundfunk, und ich erfuhr nicht mehr darüber, als jeder andere Staatsbürger durch den Rundfunk erfuhr.

DR. SAUTER: Waren Sie in irgendeiner Eigenschaft beteiligt bei den Verhandlungen betreffend das Münchener Abkommen mit Chamberlain und Daladier im Jahre 1938?

VON SCHIRACH: Nein.

DR. SAUTER: Was war Ihre Meinung?

VON SCHIRACH: Ich habe in diesem Abkommen die Grundlage für einen Frieden gesehen, und ich war der festen Überzeugung, daß Hitler dieses Abkommen halten würde.

DR. SAUTER: Wußten Sie dann etwas von den Verhandlungen mit Polen im Jahre 1939?

VON SCHIRACH: Nein. Ich habe von den Verhandlungen, die zum Kriege geführt haben, erst hier im Gerichtssaal erfahren. Ich kenne nur von diesen Verhandlungen die Version, die amtlich durch den Rundfunk beziehungsweise durch das Propagandaministerium herausgegeben wurde und weiß also nicht mehr darüber als das, was jeder andere deutsche Staatsbürger weiß. Die Darstellung, die Hitler im Reichstag gab, hielt ich für absolut wahr. Ich habe nie daran gezweifelt oder jedenfalls nicht daran gezweifelt bis etwa 1943, und alles das, was ich darüber gehört habe, war für mich neu.

DR. SAUTER: Es ist Ihnen von der Anklage, Herr Zeuge, unter anderem auch vorgeworfen worden, Sie hätten in Ihrem Buch »Die Hitler-Jugend, Idee und Gestalt« – es ist das, Herr Vorsitzender, Nummer 1458-PS – die Ausdrücke »Lebensraum« und »Ostraum« gebraucht, und Sie hätten damit zum Ausdruck gebracht, daß Sie Eroberungen Deutschlands in östlicher Richtung, also auf Kosten Sowjetrußlands und Polens begrüßen oder für notwendig halten. Was sagen Sie dazu?

VON SCHIRACH: In meinem Buch »Die Hitler-Jugend, Idee und Gestalt« ist meines Wissens das Wort »Lebensraum« überhaupt nicht erwähnt. Es ist nur das Wort »Ostraum« erwähnt, und zwar, ich glaube, im Zusammenhang mit einem Pressedienst im Ostraum. Es ist in einem Nebensatz gesagt bei einer Schilderung der Aufgaben des Kolonialreferates in der Reichsjugendführung, daß durch die Tätigkeit des Kolonialreferates nicht vergessen werden sollte die Notwendigkeit, die Jugend auf die Ausnützung des Ostraumes hinzuweisen, damit ist gemeint der deutsche Ostraum, der schwachbesiedelte deutsche Ostraum. Es war das eine Zeit, in der uns in der Jugend ganz besonders beschäftigte das Problem der Landflucht, das heißt, der Abwanderung der zweiten und dritten Bauernsöhne vom Land in die Stadt.

Dagegen habe ich eine eigene Bewegung in der Jugend gegründet, den Landdienst, der die Aufgabe hatte, diesen Strom der Jugend vom Lande in die Stadt abzudämmen und die Aufgabe hatte, der Jugend auch in der Stadt das Land als Aufgabe vorzustellen. Ich habe selbstverständlich nie an eine Eroberung russischen Gebietes gedacht, denn politisch stand ich, seit ich mich überhaupt mit Geschichte beschäftigt habe, immer auf dem Standpunkt, daß wir die durch Bismarcks Entlassung abgebrochene Politik der Rückversicherung mit Rußland wieder aufzunehmen hätten. Ich habe den Angriff auf die Sowjetunion als einen Selbstmord der deutschen Nation angesehen.

DR. SAUTER: Herr Zeuge! Haben Sie als Jugendführer des Deutschen Reiches unmittelbares Vortragsrecht bei Hitler gehabt?

VON SCHIRACH: Ja, das ist richtig. Allerdings stand dieses Vortragsrecht mehr oder weniger auf dem Papier. Ich habe, um das genau darzustellen, vor der Machtergreifung häufiger Hitler persönlich Vortrag halten können. Im Jahre 1932 sagte er sich mehrfach abends bei mir zum Essen an, aber es ist klar, daß in Gegenwart meiner Frau und der anderen Gäste über politische Fragen dabei nicht gesprochen wurde, insbesondere nicht über Aufgaben meines Spezialaufgabengebietes. Ich konnte nur vielleicht hin und wieder mal ein Thema anschneiden, was mich im Zusammenhang mit der Erziehung interessierte. 1933 habe ich ihm, meiner Erinnerung nach, zweimal Vortrag gehalten, einmal wegen der Finanzierung der Jugend und das andere Mal im Zusammenhang mit dem Parteitag 1933. In den nachfolgenden Jahren habe ich durchschnittlich ein- oder zweimal im Jahr ihm Vortrag gehalten, wobei es mir aber so erging wie wohl fast allen, die Hitler Vortrag gehalten haben. Von den vielleicht 15 Punkten, die ich ihm vortragen wollte, konnten drei oder vier behandelt werden, das andere fiel unter den Tisch, weil er mich unterbrach und sich sehr ausführlich nun über das verbreitete, was ihm besonders wichtig war.

Ich habe mir dann dadurch zu helfen versucht, daß ich Modelle von Jugendbauten, Ansichten von den großen Sportanlagen, von den Jugendheimen, in einem Saal der Reichskanzlei aufstellen ließ und die Gelegenheit benutzte, wenn er sich das ansah, von zwei oder drei Fragen an ihn zu stellen.

Hitler hat sich, ich muß das hier aussprechen, ich glaube, ich bin das der Jugend schuldig, außerordentlich wenig um die erzieherischen Fragen gekümmert. Ich habe von ihm auf erzieherischem Gebiet so gut wie keine Anregungen erhalten. Das einzige Mal, wo er eine wirkliche Anregung auf dem Gebiet der Leibeserziehung gab, war, ich glaube 1935, als er mir sagte, ich möchte mich darum kümmern, daß der Boxsport in der Jugend mehr Verbreitung finde. Ich habe das getan, er hat aber nie einen Boxkampf der Jugend besucht.

Mein Freund, der Reichssportführer von Tschammer und Osten, und ich haben sehr oft versucht, ihn zu anderen Sportveranstaltungen, insbesondere zu den Ski-Wettkämpfen und Eishockey-Meisterschaften in Garmisch, zu bringen, aber abgesehen von den Veranstaltungen der Olympischen Spiele war es nicht möglich, ihn zu einer Beteiligung zu bringen.

DR. SAUTER: Sie haben uns eben erzählt von der sogenannten militärischen oder vormilitärischen Erziehung. Soweit man davon überhaupt sprechen könnte, hat sie nur eine sehr untergeordnete Rolle in der Ausbildung der Hitler-Jugend gebildet. Ich bitte nun, und zwar nicht ausführlich, sondern lediglich schlagwortweise, uns zu sagen, was nach Ihrer Idee die Hauptziele Ihrer Jugenderziehung waren. Bitte nur schlagwortartig.

VON SCHIRACH: Zeltlager.

DR. SAUTER: Zeltlager?

VON SCHIRACH: Fahrten, Bau von Jugendheimen und Jugendherbergen.

DR. SAUTER: Fahrten, was heißt das, Fahrten?

VON SCHIRACH: Wanderungen der Jugend, und zwar Einzelwanderungen und Wanderungen in Gruppen. Und dann der Bau von immer mehr Jugendherbergen. Ich habe in einem einzigen Jahre in Deutschland über 1000 Heime und Jugendherbergen gebaut. Dann die zusätzliche Berufsschulung, und dann das, was ich das »Olympia der Arbeit« nenne, der jährlich wiederkehrende Reichsberufswettkampf. Das war ein freiwilliger Leistungswettbewerb aller Jugendlichen beiderlei Geschlechts, die daran teilnehmen wollten. Tatsächlich haben Millionen daran teilgenommen. Dann unsere großen Reichssportwettkämpfe, Meisterschaften in allen sportlichen Disziplinen, unsere Kulturarbeit, der Aufbau unserer Spielscharen, unserer Singscharen, unserer Jugendkonzertchöre und der Aufbau unserer Jugendbibliotheken. Dann der schon vorher kurz im Zusammenhang mit der Bekämpfung der Landflucht erwähnte Landdienst mit seinen Landhelfergruppen, also den Jugendlichen, die aus Idealismus nun auf dem Lande arbeiteten, auch Stadtjungen, um den Bauernkindern zu zeigen, daß das Land eigentlich doch schöner ist als die Stadt, daß auch ein Stadtjunge sein Leben dort vorübergehend aufgibt, um sich dem Lande zu widmen und dem Dienst am Boden. Dann als große Gemeinschaftsleistung der Jugend muß ich die Zahnsanierungen erwähnen und die ärztlichen Reihenuntersuchungen. Das sind in ein paar Stichworten die wesentlichen Aufgaben unserer Jugendorganisation, aber noch lange nicht alle.

DR. SAUTER: Herr Präsident! Diese Ideen und Gedanken und Ziele des Angeklagten von Schirach sind in einer Reihe von Urkunden niedergelegt, die im Dokumentenbuch Schirach aus seinen Werken und aus seinen Reden und Anordnungen aufgenommen sind. Es handelt sich um den Dokumentenband Schirach, Nummer 32 mit 39, dann Nummer 44 mit 50, dann Nummer 66 mit 74a, dann Nummer 76 mit 79 und endlich Nummer 80 mit 83.

Alle diese Dokumente beschäftigen sich mit den geschilderter Aufgaben, wie sie der Angeklagte eben Ihnen vorgetragen hat. Und ich bitte, wegen der Einzelheiten von den Dokumenten zu Beweiszwecken Kenntnis zu nehmen.