[Zum Zeugen gewandt:]
Hat sich die Ausbildung der Jugend, also die körperliche und sportliche Ausbildung, nur auf die Jungens bezogen, Herr von Schirach?
VON SCHIRACH: Nein, selbstverständlich wurde die gesamte Jugend körperlich ertüchtigt.
DR. SAUTER: Also auch die Mädchen?
VON SCHIRACH: Ja.
DR. SAUTER: Ist es richtig, daß Ihre Bemühungen um die körperliche Ausbildung und Ertüchtigung der Jugend sich außerdem auch bezog auf körperlich Behinderte, auf Blinde und auf sonstige Jugendliche, die von vornherein für eine militärische Verwendung nicht in Frage gekommen wären?
VON SCHIRACH: Ich habe schon sehr früh die blinde Jugend und die Gehörlosen und die Krüppel in die Hitler-Jugend mit aufgenommen. Ich habe für die Blinden eine eigene Zeitschrift gehabt und habe auch Bücher für sie in Blindenschrift hergestellt. Ich glaube, die Hitler-Jugend war die einzige Organisation in Deutschland, die solche Menschen betreute, außer den dafür vorgesehenen Organisationen der NSV und so weiter.
DR. SAUTER: Ich bitte, Herr Präsident, in diesem Zusammenhang zu Beweiszwecken Kenntnis zu nehmen von dem Dokument Nummer 27 des Dokumentenbuches Schirach. Es handelt sich dort um einen längeren Artikel unter der Überschrift: »Eingliederung körperbehinderter Jugendlicher in die Hitler-Jugend«. Also im Dokumentenbuch Nummer 27, Dokumentenbuch Schirach, wo insbesondere auch die Gehörlosen, also die Tauben, sowie die Blinden besonders erwähnt sind, daß sie zu vollwertigen, leistungsfähigen Berufstätigen herangezogen werden sollen.
MR. DODD: Ich habe den ganzen Tag über vermieden, Einspruch zu erheben, aber mir scheint, dieses Verhör wird zu weitschweifig. Wir haben keine Beschuldigungen gegen den Angeklagten erhoben hinsichtlich der Blinden, Tauben und Lahmen. Er geht immer wieder bis zu den Pfadfindern zurück, aber wir sind noch nicht auf die erheblichen Fragen gekommen, die wir bei diesem Angeklagten zu klären haben. Wenn wir so weitermachen, werden wir niemals fertig werden.
VORSITZENDER: Dr. Sauter! Wir haben diese langatmigen Berichte über die Ausbildung der Hitler-Jugend angehört. Glauben Sie nicht, Sie können nun zu einer wesentlicheren Frage übergehen? Wir können uns jetzt einen sehr guten Begriff davon machen, wie die Ausbildung der Hitler-Jugend vor sich ging, und alle diese Dokumente liegen uns ja vor.
DR. SAUTER: Ich werde versuchen, Herr Präsident, Ihren Wünschen soweit nur irgendwie möglich Rechnung zu tragen. Herr Zeuge! Ist es richtig, daß Sie sich persönlich bei Hitler bemühten, um zu verhindern, daß Kadettenanstalten als rein militärische Ausbildungsanstalten wieder errichtet werden sollten?
VON SCHIRACH: Jawohl, das ist richtig, ich habe die Wiedererrichtung der Kadettenanstalten verhindert.
DR. SAUTER: Ich wende mich jetzt einem anderen Kapitel zu. Dem Angeklagten ist vorgeworfen worden, er habe die protestantischen und katholischen Jugendorganisationen zerschlagen. Was haben Sie dazu zu antworten?
VON SCHIRACH: Zunächst folgendes: Ich wollte, wie ich das schon ausgeführt habe, die Vereinigung der ganzen Jugend. Ich wollte auch die zahlenmäßig nicht sehr starken protestantischen Verbände und die zahlenmäßig starken katholischen Jugendverbände in die Hitler-Jugend eingliedern, besonders auch deswegen, weil sich, ein Teil dieser Verbände nicht auf die Pflege des konfessionellen Bekenntnisses beschränkte, sondern mit der Hitler-Jugend konkurrierte in Bezug auf Leibesübungen, Zeltlager, Fahrten und so weiter.
Darin sah ich eine Gefahr für die Idee der Einheit der deutschen Nationalerziehung und vor allem fühlte ich auch, daß in der Jugend selbst eine sehr starke Strömung zur HJ war. Die Abwendung von den konfessionellen Verbänden ist eine Tatsache. Es gab auch viele Geistliche, die auf dem Standpunkt standen, daß die Entwicklung in folgender Richtung etwa verlaufen sollte: Alle Jugend zur HJ; Jugendseelsorge durch Geistliche; sportliche, staatspolitische Arbeit und so fort durch Jugendführer.
1933 oder 1934, ich glaube aber, es war schon 1933, kam nun der Reichsbischof Müller zusammen mit dem protestantischen Bischof Oberheidt zu mir aus eigenem Antrieb und machte mir den Vorschlag, die protestantischen Jugendorganisationen in die HJ zu überführen. Ich war natürlich über diesen Vorschlag sehr erfreut und habe ihn angenommen. Ich hatte damals keine Ahnung davon, daß innerhalb der protestantischen Kirche Widerstände gegen den Reichsbischof Müller waren. Ich habe erst sehr viel später davon erfahren. Ich glaubte eben vollberechtigt im Namen der evangelischen Kirche handeln zu dürfen, und auch der ihn begleitende andere Bischof bestärkte mich in diesem Eindruck. Ich glaubte auch heute noch, daß Müller mit diesem Akt der freiwilligen Eingliederung der protestantischen Jugend in die Staatsjugend dem Willen der Mehrheit der protestantischen Jugendlichen selbst entsprach, und ich habe bei meiner späteren Tätigkeit als Jugendführer immer wieder frühere Führer aus den protestantischen Jugendverbänden getroffen, die bei mir Führerstellen hatten und in meiner Jugendorganisation arbeiteten und mit großer Lust und Liebe bei der Sache waren. Durch diese Eingliederung der protestantischen Jugend, das möchte ich gleich betonen, wurde die Jugendseelsorge in keiner Weise beschränkt oder behindert. Eine Beschränkung des Jugendgottesdienstes ist überhaupt nicht erfolgt in Deutschland, weder damals noch später. Da die evangelische Jugend auf Grund eines Übereinkommens zwischen der Kirche und der HJ eingegliedert war, gab es praktisch nur einen Streit um die Jugenderziehung zwischen der katholischen Kirche und der HJ.
Ich habe im Mai oder Juni 1934 persönlich darum gebeten, bei den Durchführungsverhandlungen zum Reichskonkordat beteiligt zu werden, weil ich die zwischen der katholischen Kirche und der HJ schwebenden Streitfragen aus der Welt schaffen wollte. Ich legte großen Wert auf ein Übereinkommen auf diesem Gebiet und wurde tatsächlich an diesen Verhandlungen, die im Juni 1934 im Reichsministerium des Innern unter dem Vorsitz von Reichsinnenminister Frick stattfanden, beteiligt. Von katholischer Seite nahmen damals der Erzbischof Gröber und Bischof Berning an den Verhandlungen teil, und ich habe selbst damals eine Formel für die Zusammenarbeit vorgeschlagen, die mit Beifall von der katholischen Seite aufgenommen wurde und glaubte, damit die Basis für eine Befriedung auf diesem Gebiet gefunden zu haben. Die Sitzungen wurden leider unterbrochen am 29. Juni abends. Am 30. Juni 1934 erlebten wir den sogenannten Röhm-Putsch, und die Verhandlungen wurden nicht wieder aufgenommen. Das ist nicht meine Schuld, und ich trage hierfür keine Verantwortung. Hitler wollte einfach nicht aus dem Konkordat die Konsequenzen ziehen. Ich selbst habe den Wunsch gehabt, dieses Übereinkommen zustande zu bringen, und ich glaube, daß auch die kirchlichen Vertreter aus diesen Verhandlungen und vielleicht auch aus der einen oder anderen späteren Besprechung mit mir den Eindruck bekommen haben, daß die Schwierigkeiten nicht bei mir lagen. Jedenfalls hat mich, ich glaube, Herr Bischof Berning noch 1939 aufgesucht. Wir haben die schwebenden Fragen zwischen der Jugendführung und der Kirche erörtert. Ich glaube, er ist damals auch mit dem Eindruck von mir geschieden, daß nicht ich es war, der Schwierigkeiten machen wollte; die Schwierigkeiten lagen damals schon in dem immer stärker werdenden Einfluß von Martin Bormann, der absolut jede Einigung zwischen Parteiinstanzen und Kirche oder zwischen der Jugendführung und der Kirche zu verhindern versuchte. Im Verlaufe des Streites um die Führung der konfessionellen Jugendverbände und um die Eingliederung der Jugendverbände ist es zu lebhaften Erörterungen in der Öffentlichkeit gekommen. Ich selbst habe mich in verschiedenen Versammlungen dabei geäußert. Auch von kirchlicher Seite erfolgten Äußerungen; je nach der Sachlage waren sie mehr oder weniger temperamentvoll. Religionsfeindliche Äußerungen habe ich im Zusammenhang mit diesem Fragenkomplex oder überhaupt niemals in meinem Leben getan.
DR. SAUTER: Herr Zeuge! Ist es richtig, daß Sie im Jahre 1937 eine Vereinbarung mit der kirchlichen Seite getroffen haben, in dem Sinn, daß grundsätzlich die HJ an Sonntagen während der Kirche keinen Dienst haben soll, damit die Kinder den Gottesdienst besuchen können und ferner, daß Sie deshalb durch diese Vereinbarung erheblich Schwierigkeiten bekamen?
VON SCHIRACH: Das ist richtig.
DR. SAUTER: Herr Zeuge, ganz kurz bitte.
VON SCHIRACH: Ich glaube, man kann nicht sagen, daß es ein Übereinkommen mit der Kirche war. Wenn ich mich recht erinnere, habe ich auf Grund verschiedener Zuschriften, die ich von Geistlichen bekam, einen Erlaß gemacht, der den Wünschen, die in diesen Zuschriften zum Ausdruck kamen, weitgehendst Rechnung trug. Ich habe dann diesen Erlaß herausgegeben, und ich entnehme zahlreichen Affidavits, die von Jugendführern mir in der letzten Zeit zugeschickt wurden, daß dieser Erlaß auch sehr sorgfältig befolgt worden ist.
Es entstanden Schwierigkeiten wegen dieser meiner Haltung in der Parteikanzlei. Bormann war natürlich ein lebhafter Gegner eines solchen grundsätzlichen Zugeständnisses an die Kirche, und Hitler selbst hat, ich weiß nicht, ob im Zusammenhang mit diesem Erlaß, aber jedenfalls im Zusammenhang mit der Regelung der Streitfragen zwischen Kirche und Jugendführung, auch einmal mich zurechtgewiesen.
DR. SAUTER: Herr Zeuge! Mir liegt ein kleines Buch vor unter der Überschrift: »Ein gutes Jahr 1944« und mit dem Untertitel: »Weihnachtsgabe des Kriegsbetreuungsdienstes des Reichsleiters von Schirach«.
Ich übergebe dieses Buch als Dokument Nummer 84 dem Gericht zur Kenntnisnahme. Auf Seite 55 ist ein Madonnenbild dargestellt, auf Seite 54 findet sich ein christliches Gedicht aus der Feder des Angeklagten unter der Überschrift: »Bayerische Weihnachtskrippe«, und auf der unteren Hälfte dieser Seite 54 ist das berühmte »Wessobrunner Gebet« abgedruckt, das älteste Gebet der deutschen Sprache, stammend aus dem achten Jahrhundert.
Herr Zeuge! Ist es richtig, daß Sie auch wegen des christlichen Inhaltes dieses Büchleins Schwierigkeiten seitens des Reichsleiters Bormann bekommen haben, und welche?
VON SCHIRACH: Das ist richtig. Ich habe diese Weihnachtsgabe für – ich glaube – 80000 Soldaten oder 100000 Soldaten herstellen lassen und habe sie ins Feld geschickt noch im Jahre 1944. Ich habe von Bormann zwar nicht direkt etwas deswegen gehört, er forderte nur plötzlich zehn Exemplare dieses Buches an, und ich erfuhr aus der Umgebung des Führers, aus dem Hauptquartier, daß er dieses Buch irgendwie benutzte, um gegen mich bei Hitler zu hetzen.
Ich möchte noch hinzufügen, daß ich eigentlich zu allen Zeiten meines Lebens mich – jedenfalls soweit ich mich dichterisch geäußert habe – im gleichen Sinne, wie in diesem Gedicht, ausgesprochen habe. Auch in dem Gedichtsbuch »Die Fahne der Verfolgten«, das ich leider nicht hier habe, das aber in einer sehr großen Auflage in der Jugend verbreitet war, wo meine revolutionären Gedichte gefunden werden, befinden sich Gedichte christlichen Inhaltes, die aber von der Parteipresse nicht nachgedruckt wurden in den Zeitungen und infolgedessen nicht so bekanntgeworden sind wie meine anderen Verse. Ich möchte aber ganz klar zum Ausdruck bringen, ich bin ein Gegner der konfessionellen Jugendorganisationen gewesen, ebenso klar möchte ich zum Ausdruck bringen, daß ich kein Gegner der christlichen Religionen war.
DR. SAUTER: Kein Gegner?
VON SCHIRACH: Selbstverständlich nicht.
DR. SAUTER: Sind Sie aus der Kirche ausgetreten?
VON SCHIRACH: Ich bin trotz manchen Hinweises Bormanns niemals aus der Kirche ausgetreten.
DR. SAUTER: Ich darf, Herr Präsident, das Gericht bitten, von den Urkunden Nummer 85 mit Nummer 93 des Dokumentenbuches Schirach Kenntnis zu nehmen Es sind das lauter Urkunden aus seiner Zeit als Reichsjugendführer, die seine Einstellung zur Kirchenfrage erkennen lassen.
VON SCHIRACH: Ich bitte, hierzu noch etwas sagen zu dürfen.
DR. SAUTER: Bitte?
VON SCHIRACH: Ich habe in meiner religiösen Einstellung nur mir immer die Ausführungen zu eigen gemacht, die in »Wilhelm Meisters Wanderjahre« zu finden sind über die Religionen und über den Rang der christlichen Religionen. Ich möchte hier sagen, daß ich in meiner erzieherischen Arbeit insofern geirrt habe, als ich der Meinung war, daß es ein positives Christentum außerhalb der Kirche gibt. Ich habe mich aber niemals antichristlich geäußert, und ich will hier zum ersten Male in der Öffentlichkeit sagen, daß ich im engsten Führungskreise der Jugend ein ganz eindeutiges Bekenntnis zur Persönlichkeit und Lehre Christi ausgesprochen habe. Ich habe vor den Erziehern der Adolf-Hitler-Schulen, was natürlich die Parteikanzlei niemals erfahren durfte, über Christus als die größte Führerpersönlichkeit der Weltgeschichte gesprochen und von dem Postulat der Nächstenliebe als einer universalen Idee unserer Kultur. Ich glaube, daß auch darüber mehrere Zeugnisse von Jugendführern in Ihrer Hand sind, Herr Verteidiger.
DR. SAUTER: Ja, ich komme bei der Zeugenvernehmung noch darauf zurück. Ich möchte jetzt ein anderes Kapitel anschneiden: Sie sind 1940 als Reichsjugendführer abberufen worden?
VON SCHIRACH: Ja.
DR. SAUTER: An Ihre Stelle trat der schon erwähnte Axmann. Sie blieben aber mit der Jugenderziehung noch verbunden, durch welches Amt?
VON SCHIRACH: Durch das Amt des Reichsleiters für die Jugenderziehung.
DR. SAUTER: Und dazu bekamen Sie dann noch einen weiteren Titel, glaube ich?
VON SCHIRACH: Ja, ich wurde Beauftragter des Führers für die Inspektion der Hitler-Jugend.
DR. SAUTER: War das bloß ein Titel, oder war das irgendein Amt?
VON SCHIRACH: Das war insofern doch ein Amt, als ja das Reichsleiteramt die Jugendarbeit im Sektor Partei deckte. Der Jugendführer des Deutschen Reiches, der Axmann als mein Nachfolger wurde, hatte aber auch einen Arbeitsbereich im Staate, und für diesen wurde ich durch die Ernennung zum Inspekteur mit zuständig.
DR. SAUTER: Wie kam es zu Ihrer Abberufung als Reichsjugendführer, und warum wurden Sie ausgerechnet nach Wien als Gauleiter berufen? Was ist Ihnen darüber bekannt?
VON SCHIRACH: Ich war am Ende des Frankreich- Feldzuges, den ich als einfacher Infanterist mitgemacht habe, in Lyon, als ein Funkspruch oder Telegramm des Führerhauptquartiers dort einlief und mir mein Kompaniechef mitteilte, daß ich mich im Führerhauptquartier zu melden hätte. Ich fuhr sofort dorthin, und im Führerhauptquartier, das damals im Schwarzwald lag, sah ich bei meinem Eintreffen den Führer im Freien stehen im Gespräch mit dem Reichsaußenminister von Ribbentrop. Ich wartete einige Zeit, vielleicht eine Viertelstunde oder 20 Minuten, bis die Unterredung beendigt war und meldete mich sodann sogleich bei Hitler, und er teilte mir nun im Freien draußen, vor diesem Kasinogebäude, in dem wir später dann alle gemeinsam die Mahlzeit einnahmen, in etwa zehn Minuten folgendes mit:
Ich sollte ihm einen Nachfolger für die Führung der Jugend vorschlagen. Er beabsichtige, mir den Auftrag zu geben, den Reichsgau Wien zu übernehmen. Ich schlug sofort meinen Mitarbeiter Axmann vor, nicht etwa einen Mann der körperlichen Ertüchtigung, der Wehrausbildung, sondern eben den Mann der sozialen Arbeit in der Jugend, weil es mir auf diese besonders ankam. Er akzeptierte diesen Vorschlag...
VORSITZENDER: Dr. Sauter! Wir haben uns nicht mit Axmanns Fähigkeiten zu befassen, nicht wahr? Ist es von wesentlichem Interesse für den Gerichtshof, zu wissen, wie sein Nachfolger war?
DR. SAUTER: Axmann? Axmann war der Nachfolger als Reichsjugendführer.
VORSITZENDER: Ich habe Sie gefragt, ob es für den Gerichtshof wichtig ist, die Fähigkeiten Axmanns zu kennen. Wir haben nichts damit zu tun.
DR. SAUTER: Herr von Schirach! Sie können sich über diesen Punkt ja kürzer fassen.
VON SCHIRACH: Hitler sagte dann, ich sollte mein Amt als Reichsleiter für die Jugenderziehung behalten, ich solle ein Amt als Inspekteur der Jugend gleichzeitig dazu übernehmen und solle nun nach Wien gehen als Nachfolger von Bürckel. Es seien in Wien, insbesondere auf kulturellem Gebiet, erhebliche Schwierigkeiten entstanden. Ich möchte also mein Hauptaugenmerk auf die Pflege der Kulturstätten richten, insbesondere der Theater, Galerien, Bibliotheken und so weiter; und ich solle mich insbesondere auch der Arbeiterschaft der Stadt annehmen.
Ich habe den Einwand gemacht, daß ich diese kulturelle Arbeit nur unabhängig von Goebbels durchführen könnte. Hitler hat mir damals versprochen, daß diese Unabhängigkeit voll gewahrt werden würde, aber er hat dieses Versprechen später nicht gehalten.
Und dann sagte er zum Schluß, er verschicke aus Wien die jüdische Bevölkerung, das habe er Himmler oder Heydrich – ich weiß nicht mehr genau, was er erwähnte – bereits mitgeteilt oder würde es ihnen noch mitteilen; Wien müsse eine deutsche Stadt werden. Und er sprach sogar in dem Zusammenhang von einer Evakuierung der tschechischen Bevölkerung.
Damit fand diese Unterredung ihren Abschluß. Ich habe keine weitere Einweisung in mein Amt bekommen, und es fand dann das übliche gemeinsame Mittagessen statt.
Ich verabschiedete mich dann und fuhr nach Berlin, um mit meinen Mitarbeitern zu sprechen.
DR. SAUTER: Wien galt damals, wenn ich richtig informiert bin als der schwierigste Gau des Reiches. Stimmt das?
VON SCHIRACH: Wien war bei weitem das schwierigste politische Problem, das wir unter den Gauen hatten.
DR. SAUTER: Warum?
VON SCHIRACH: Aus dem Grunde – ich habe die Einzelheiten erst nach meiner Beauftragung durch Hitler in Berlin durch andere Personen erfahren:
In Wien war eine große Ernüchterung eingetreten, nachdem sich die ersten Wellen der Begeisterung über den Anschluß gelegt hatten. Herr Bürckel, mein Vorgänger, hatte sehr viele Beamte von auswärts nach Wien gebracht. Es wurde das deutsche Verwaltungssystem, das keineswegs praktischer und zweckmäßiger ist als das österreichische, dort eingeführt. Es entstand eine gewisse Überorganisation auf administrativem Gebiet; und Bürckel hatte eine Kirchenpolitik eingeschlagen, die mehr als unerfreulich war. Es war zu Demonstrationen unter ihm gekommen. Bei einer wurde das erzbischöfliche Palais beschädigt, und die Theater und sonstigen Kulturstätten wurden nicht zweckmäßig betreut. Es war in Wien das Gefühl einer großen Enttäuschung.
Ich wurde, bevor ich dahin kam, noch dahin unterrichtet, daß, wenn man in der Straßenbahn norddeutschen Dialekt sprach, die Wiener zum Teil eine unfreundliche Haltung gegen den Betreffenden, der sich so ausdrückte, einzunehmen begannen.
DR. SAUTER: Herr Zeuge! Welche Aufgaben, also welche Ämter hatten Sie in Wien?
VON SCHIRACH: Ich hatte in Wien das Amt des Reichsstatthalters, in dem zwei Verwaltungen zusammenliefen, die Selbstverwaltung oder Gemeindeverwaltung und die allgemeine staatliche Verwaltung. Außerdem war ich Reichsverteidigungskommissar für den Wehrkreis XVII, das aber nur bis 1942. 1942 wurde der Wehrkreis aufgeteilt und jeder Gauleiter des Wehrkreises wurde sein eigener Reichsverteidigungskommissar.
DR. SAUTER: Und außerdem waren Sie Gauleiter?
VON SCHIRACH: Und außerdem war ich Gauleiter, also der höchste Funktionär der Partei.
DR. SAUTER: Sie haben also in Ihrer Person vereinigt: Stadt, Staat und Partei? Die oberste Spitze von Staat, Stadt und Partei in Wien?
VON SCHIRACH: Ja. Es war nun in der Verwaltung so, daß für die staatliche Verwaltung ein amtlicher Vertreter bestimmt war für die Führung der Geschäfte, das war der Regierungspräsident. Für die Selbstverwaltung oder Kommunalverwaltung ein Vertreter, das war der Bürgermeister. Und in der Partei war es so, daß der stellvertretende Gauleiter in Wien den Titel Gauleiter führte.
Ich möchte damit nicht meine Verantwortung für den Gau irgendwie verkleinern, und ich möchte durchaus diesen außerordentlich tüchtigen stellvertretenden Gauleiter decken, der dort gewirkt hat. Ich möchte das nur zum Ausdruck bringen, um meine Stellung zu kennzeichnen.
DR. SAUTER: Welche Stellung, Herr Zeuge, hatten Sie eigentlich als Reichsverteidigungskommissar? War das eine militärische Stellung, oder was war das?
VON SCHIRACH: Es war durchaus keine militärische Stellung, sondern der Reichsverteidigungskommissar war ganz einfach der Chef der Zivilverwaltung. Und im Gegensatz zu der Ordnung, wie sie im ersten Weltkrieg herrschte, wo der Chef der Zivilverwaltung dem kommandierenden General beigegeben und unterstellt war, war es nun in diesem Kriege so, daß der Reichsverteidigungskommissar ihm nebengeordnet war, nicht unterstellt.
Die Aufgaben des Reichsverteidigungskommissars – jedenfalls so habe ich meine Aufgaben aufgefaßt – bestanden darin, in gewissen Zeitabständen die dringendsten Fragen der Ernährungswirtschaft, des Transportes, also des Nah- und Fernverkehrs, der Kohlenversorgung und der Preisregelung für die Gaue Wien, Oberdonau und Niederdonau, die alle zu dem Wehrkreis XVII gehörten, abzustimmen. Es kam zu mehreren solchen Sitzungen, ich glaube, insgesamt zu drei solchen Sitzungen. Aber 1942 wurde dann die Neuregelung getroffen, die ich vorhin erwähnte. Bormann setzte sich gegenüber dem Reichsmarschall durch; der Reichsmarschall nahm den Standpunkt ein, der Reichsverteidigungskommissar muß für den ganzen Wehrkreis Verteidigungskommissar sein. Bormann wollte, daß jeder Gauleiter Verteidigungskommissar ist. Und so erfolgte die Trennung; ab 1942 war ich nur Reichsverteidigungskommissar für Wien.
DR. SAUTER: Herr Zeuge! In diese Zeit scheint eine Anordnung zu fallen – ich bitte mir zu sagen, wann Sie davon Kenntnis erhalten haben –, nämlich eine Anordnung des Reichsleiters Bormann, daß nicht mehr als zwei Gauleiter miteinander zusammenkommen durften?
VON SCHIRACH: Das ist keine Anordnung Bormanns, das ist ein Befehl Hitlers gewesen.
DR. SAUTER: Welchen Inhalt hatte dieser?
VON SCHIRACH: Ich muß das kurz erklären. Ich hatte, weil das Reichsverteidigungskommissariat aufgeteilt wurde, das Bedürfnis, ab und zu mit den Reichsstatthaltern der anderen Provinzen zusammenzukommen, um dringendste Fragen, vor allem unserer Ernährungswirtschaft, zu besprechen. Es kam aber, ich glaube 1943, Dr. Ley zu mir nach Wien gefahren und übermittelte mir offiziell einen Befehl des Führers, wonach es als illegal – so drückte er sich aus – betrachtet würde, wenn mehr als zwei Gauleiter zu einer Besprechung zusammenkämen. Ich habe damals nur Dr. Ley ganz sprachlos angesehen, und er sagte: »Ja, es betrifft nicht nur Sie. Es ist noch ein anderer Gauleiter, der eine Konferenz von mehreren durchgeführt hat, und es wird bereits als der Tatbestand einer Meuterei oder Verschwörung betrachtet.«
DR. SAUTER: Herr Zeuge! Wie Sie dann in Wien waren, haben Sie dann noch einen weiteren Auftrag erhalten, der sehr viel Zeit in Anspruch nahm? Ich bitte, das kurz zu machen.
VON SCHIRACH: Ich war gerade dabei, mich in Wien einzuarbeiten, als ich im Oktober 1940 den Befehl erhielt, in die Reichskanzlei zu kommen.
DR. SAUTER: Machen Sie es kurz, bitte.
VON SCHIRACH: Dabei hat mir Hitler persönlich den Auftrag gegeben, die Evakuierung der ganzen deutschen Jugend aus den luftgefährdeten Gebieten durchzuführen und gleichzeitig auch durchzuführen die Evakuierung der Mütter und Kleinkinder. Und er sagte, daß diese in Berlin beginnen sollte und dann das ganze Reich umfassen sollte. Der Unterricht sei jetzt nebensächlich, Hauptsache sei die Erhaltung der Nervenkraft der Jugend und Erhaltung des Lebens. Ich habe aber doch sofort darum gebeten, daß mir die Möglichkeit gegeben würde, eine Unterrichtsorganisation aufzubauen und habe das auch dann getan.
Ich will hier auf Einzelheiten nicht eingehen. Eine der Forderungen – es ist im Zusammenhang mit der Anklage wichtig –, die ich sofort stellte, war, daß hinsichtlich der Ausübung des Gottesdienstes, der Teilnahme am Gottesdienst, den Jugendlichen keinerlei Schwierigkeiten gemacht werden dürfen. Das ist mir zugesagt worden und in meiner ersten Anordnung für die Kinderlandverschickung klar zum Ausdruck gekommen. Das werden auch die Jugendführer, die in diesem Sektor meiner organisatorischen Arbeit tätig waren, bestätigen.
DR. SAUTER: Diese Kinderlandverschickung war eine außergewöhnlich umfangreiche Arbeit, nicht wahr?
VON SCHIRACH: Es war die schwierigste, psychologisch komplizierteste organisatorische Arbeit, die ich überhaupt durchgeführt habe. Ich habe Millionen von Menschen auf diese Weise verschickt, verpflegt, unterrichtet, ärztlich versorgt und so fort. Allerdings hat mich diese Arbeit nur in den ersten Jahren ganz in Anspruch genommen oder sehr in Anspruch genommen; dann hatte ich mir meine Mitarbeiter auch dafür herangebildet.
DR. SAUTER: Sie haben sich dann in der Folgezeit – habe ich von Ihnen gehört – immer wieder von Zeit zu Zeit bemüht, über Ihre Erfolge und über Zweifelsfragen Hitler Berichte zu erstatten. Wie oft sind Sie nun während der ganzen Jahre vorgelassen worden, um dieses wichtige Arbeitsgebiet mit Hitler zu besprechen?
VON SCHIRACH: Herr Verteidiger! Ich muß Sie leider korrigieren, ich habe mich nie bemüht, Hitler über meine Erfolge Vortrag zu halten, sondern nur über meine Sorgen.
DR. SAUTER: Sorgen, ja.
VON SCHIRACH: Ich habe über diese ganze Kinderlandverschickungsarbeit zum Beispiel ihm nur zweimal Vortrag halten können, das erstemal 1940, nachdem ich das Ganze in Gang gebracht hatte, und das zweitemal 1941, als die Verschickung ein großes Ausmaß angenommen hatte.
Und sonst über Wien habe ich ihm sehr, sehr selten nur berichten können. Mit 1943 hörte die Möglichkeit der Berichterstattung überhaupt auf mit dem Bruch, den ich etwas später beschreiben werde.
DR. SAUTER: Sie sind dann während Ihrer Wiener Zeit noch Präsident der Würzburger Bibliophilen Gesellschaft geworden, stimmt das?
VON SCHIRACH: Das ist ein Ehrenamt, die Würzburger Bibliophile Tagung hat mich zum Präsidenten der Deutschen Bibliophilen Gesellschaft gemacht.
DR. SAUTER: Auf diese Sache, Herr Präsident, bezieht sich das Dokument Nummer 1 des Dokumentenbuches Schirach, das ich zu Beweiszwecken überreiche. Es ist eine eidesstattliche Versicherung eines alten Antifaschisten, Karl Klingspor, Ehrenmitglied der Gesellschaft, der über die Persönlichkeit des heutigen Angeklagten von Schirach wertvolle Auskünfte gibt.
Außerdem, Herr von Schirach, waren Sie, glaube ich, Präsident der Südosteuropa-Gesellschaft; stimmt das?
VON SCHIRACH: Ja.
DR. SAUTER: Kurz, was hatte die für eine Aufgabe?
VON SCHIRACH: Sie hatte die Aufgabe, die Handelsbeziehungen, die wirtschaftlichen Beziehungen mit dem Südosten zu pflegen. Ihre Funktionen waren im wesentlichen auf dem Gebiete der Forschung und der Repräsentation.
DR. SAUTER: Worin lag nun, Herr Zeuge, der Schwerpunkt Ihrer Wiener Tätigkeit?
VON SCHIRACH: Der Schwerpunkt der Wiener Tätigkeit lag in der Sozialarbeit und in der Kulturarbeit, wie ich schon vorhin ausführte.
DR. SAUTER: Sozialarbeit und Kulturarbeit?
VON SCHIRACH: Das sind die beiden Pole, die mein ganzes politisches Leben kennzeichnen.
DR. SAUTER: Ich komme nun zu den speziellen Vorwürfen, die aus der Wiener Zeit gegen Sie von der Staatsanwaltschaft erhoben werden.
Sie sind unter anderem angeklagt, am sogenannten Sklavenarbeitsprogramm teilgenommen zu haben. Ich bitte Sie, sich darüber zu äußern und dabei auch die Anordnung Nummer 1 des Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz vom 6. April 1942 zu behandeln, vorgetragen unter Dokument, glaube ich, 3352-PS. Darf ich bitten?
VON SCHIRACH: Ich beginne vielleicht am besten mit diesem Erlaß, durch den die Gauleiter zu Bevollmächtigten für den Arbeitseinsatz unter dem Generalbevollmächtigten bestimmt werden.
DR. SAUTER: 6. April 1942.
VON SCHIRACH: Material enthält dieser Erlaß nicht viel mehr, als daß die Gauleiter Anregungen und Wünsche gegenüber den zuständigen Dienststellen des Arbeitseinsatzes zum Ausdruck bringen können. Sie sind aber verantwortlich gemacht – ich weiß nicht, ob durch diesen Erlaß oder einen anderen – für die Überwachung der Verpflegung, Unterbringung und so weiter der fremdvölkischen Arbeitskräfte. Diese Verpflegung, Unterbringung und so weiter der fremdvölkischen Arbeitskräfte lag in meinem Gau und, ich glaube, auch in den ganzen anderen Gauen des Reiches in den Händen vor allem der Deutschen Arbeitsfront. Der Gauobmann der Deutschen Arbeitsfront in Wien hat mir sehr häufig über die Zustände in der deutschen Arbeiterschaft und in der fremdvölkischen Arbeiterschaft des Gaues Bericht erstattet. Er hat mich sehr häufig bei Betriebsbesichtigungen begleitet, und ich kann aus eigener Anschauung hier meine Eindrücke schildern von dem Leben der fremdvölkischen Arbeitskräfte in Wien, soweit ich es beobachtet habe.
Ich erinnere mich zum Beispiel genau an den Besuch in einer großen Waschmittelfabrik, wo ich eine Wohnbaracke sah, in der Russinnen und Französinnen untergebracht waren. Sie waren dort besser untergebracht als manche Wiener Familie, die mit sechs oder acht Köpfen in der für Wien üblichen Zimmer- Küche-Kabinett-Wohnung hauste.
Ich erinnere mich an eine andere Besichtigung, wo ich eine Unterkunft von russischen Arbeitskräften gesehen habe. Diese war sauber und ordentlich. Ich habe bei den Russinnen, die dort waren, festgestellt: sie waren fröhlich, gut ernährt und anscheinend zufrieden. Aus meinem Bekanntenkreis weiß ich und aus dem Bekanntenkreis vieler Mitarbeiter von der Behandlung russischer Hausangestellter. Auch hier habe ich nur gehört und zum Teil beobachtet, daß diese außerordentlich gut behandelt wurden, und ich muß hier überhaupt etwas zu dem Thema Wien als Aufnahmestadt fremdvölkischer Arbeiter bemerken: Seit Jahrhunderten arbeiten fremdvölkische Arbeitskräfte in Wien. Arbeitskräfte aus dem Südosten nach Wien zu bringen, ist überhaupt kein Problem. Nach Wien kommt man genau so gern, wie man nach Paris kommt. Ich habe sehr viele Franzosen und Französinnen in Wien arbeiten sehen und zuweilen mit ihnen gesprochen. Ich habe mich auch mitunter in Fabriken unterhalten mit französischen Vorarbeitern, die wohnten in Untermiete irgendwo in der Stadt wie eine andere Privatperson. Man sah sie im Prater; sie verlebten ihren Feierabend nicht anders als unsere einheimischen Arbeitskräfte. Ich habe während der Zeit, wo ich in Wien war, mehr Werksküchen gebaut als in irgendeinem anderen Gau Deutschlands bestehen. An diesen Werksküchen, an der Verpflegung dieser Werksküchen partizipierten selbstverständlich die ausländischen Arbeitskräfte ganz genau so wie die inländischen.
Behandlung durch die Bevölkerung: Ich kann nur sagen, die Bevölkerung einer Stadt, die seit Jahrhunderten gewohnt ist, mit fremdvölkischen Elementen zusammenzuleben, behandelt auch von sich aus jeden Arbeiter, der von draußen kommt, gut.
Ausgesprochene Mißstände sind mir nicht gemeldet worden. Es ist immer mal mir berichtet worden, daß hier oder da etwas nicht funktionierte. Es war die Pflicht des Gauobmannes der Arbeitsfront, mir das zu berichten. Ich habe dann meistens direkt von meinem Schreibtisch aus durch Telephon eine Anweisung gegeben, sei es an das Landesernährungsamt, sei es an irgendeine Kontingentstelle für Beschaffung von Material, für Küchen oder Heizungen oder sonst etwas. Jedenfalls habe ich mich bemüht, innerhalb von 24 oder 48 Stunden alle Beschwerden, die zu mir kamen, abzustellen.
In dem Zusammenhang möchte ich meinen Eindruck wiedergeben von dem Arbeitseinsatz überhaupt. Für die Hereinbringung der Arbeitskräfte bin ich nicht verantwortlich. Ich kann nur sagen, was ich an Anordnungen und Befehlen vom Generalbevollmächtigten, also dem Mitangeklagten Sauckel, gelesen habe, ging immer wieder hinaus auf eine humane, anständige, gerechte, saubere Behandlung der uns anvertrauten Arbeitskräfte. Sauckel hat seine Dienststellen förmlich überschwemmt mit solchen Anweisungen. Ich hielt es für meine Pflicht, das hier zum Ausdruck zu bringen.
DR. SAUTER: Herr Zeuge! Diese ausländischen Arbeitskräfte, die im Bezirk des Gaues Wien sich befanden und für die Sie sich nicht verantwortlich fühlen, waren die in der Rüstungsindustrie oder wo sonst beschäftigt?
VON SCHIRACH: Ein großer Teil war in der Landwirtschaft beschäftigt, ein Teil in der Zulieferungsindustrie; ob direkt in der Rüstungsindustrie, kann ich nicht sagen, ist mir in allen diesen Teilen als Gauleiter selbst nicht zugänglich gewesen, weil es Fertigungen im Rahmen der Kriegsproduktion gab, die selbst vor den Reichsstatthaltern geheimgehalten wurden.
DR. SAUTER: Herr Zeuge! Im Zusammenhang mit dem Kapitel jüdische Pflichtarbeit ist ein Brief verlesen worden, Urkunde 3803-PS. Es ist ein, glaube ich, eigenhändiges Schreiben des Angeklagten Kaltenbrunner an Blaschke. Blaschke war, glaube ich, der Zweite Bürgermeister von Wien.
VON SCHIRACH: Er war Bürgermeister von Wien.
DR. SAUTER: Ein Schreiben vom 30. Juni 1944. In diesem Schreiben teilt Kaltenbrunner dem Blaschke mit, daß Kaltenbrunner angeordnet habe, einige Evakuierungstransporte nach Wien-Straßhof zu leiten. Es handle sich, so heißt es im Brief, um vier Transporte mit etwa 12000 Juden, die bereits in den nächsten Tagen eintreffen würden. Soweit der Inhalt des Briefes, dessen weiterer Inhalt nur noch insofern von Bedeutung erscheint, als es am Schluß heißt, ich zitiere wörtlich:
»Weitere Einzelheiten bitte ich, mit der Staatspolizeileitstelle Wien, SS-Obersturmbannführer Dr. Ebner und SS-Obersturmbannführer Krumey vom Sondereinsatzkommando Ungarn, der sich zur Zeit in Wien aufhält, zu besprechen.«
Soweit das Zitat. Haben Sie mit dieser Sache etwas zu tun gehabt, und eventuell was?
VON SCHIRACH: Ich kenne die Korrespondenz zwischen dem Mitangeklagten Kaltenbrunner und dem Bürgermeister von Wien nicht. Meines Wissens befindet sich dieses Lager Straßhof überhaupt nicht auf dem Boden von Wien, ich glaube es nicht. Es befindet sich in einem ganz anderen Gau. Die Bezeichnung Wien-Straßhof ist also irrig, dazwischen geht die Grenze.
DR. SAUTER: Und von der Sache selbst haben Sie damals Kenntnis bekommen oder jetzt hier durch die Vorhaltungen im Sitzungssaal?
VON SCHIRACH: Ich kenne diese Sache nur aus dem Sitzungssaal. Es ist mir aber erinnerlich, daß im Zusammenhang mit dem Bau des Südostwalles vom Einsatz jüdischer Arbeitskräfte gesprochen wurde. Der Südostwall befand sich aber nicht auf dem Boden des Reichsgaues Wien, er war eine Einlage auf dem Boden des Gaues Niederdonau, Niederösterreich beziehungsweise Steiermark. Der Bau des Südostwalles war mir nicht übertragen worden, sondern an Dr. Jury, beziehungsweise der OT...
DR. SAUTER: OT ist also Organisation Todt?
VON SCHIRACH:... der Organisation Todt und in dem anderen Teil der Grenze dem Gauleiter Dr. Uiberreither und dessen technischen Mitarbeitern.
DR. SAUTER: Ich fasse also Ihre Aussage dahin zusammen, daß Sie mit diesen Sachen nichts zu tun hatten, weil es sich uns Angelegenheiten handelte, die sich gar nicht auf Ihr Gaugebiet beziehen.
VON SCHIRACH: Ja, ich kann mir nicht vorstellen, welcher Zusammenhang sich für den Gau Wien daraus ergeben sollte. Ob der Bürgermeister den Wunsch hatte, sich von diesen Arbeitskräften welche abzuzweigen für besondere Wiener Aufgaben oder nicht, das ist mir nicht bekannt. Ich kenne den Vorgang nicht.
DR. SAUTER: Im gleichen Zusammenhang, Herr Zeuge, ist ein anderes Dokument vorgelegt worden, 1948-PS, ein Aktenvermerk vom 7. November 1940, also aus einer Zeit, wo Sie bereits einige Monate Gauleiter in Wien waren und betrifft ebenfalls Pflichtarbeit der arbeitsfähigen Juden.
Diese Notiz ist geschrieben auf einem Briefbogen mit dem Kopf »Der Reichsstatthalter in Wien«, und anscheinend ist der Aktenvermerk, um den es sich handelt, geschrieben von einem Dr. Fischer. Wer ist der Dr. Fischer? Was haben Sie, der Sie Reichsstatthalter waren, mit dieser Sache zu tun? Was wissen Sie davon?
VON SCHIRACH: Zunächst, Dr. Fischer ist mir persönlich nicht bekannt. Ich will nicht die Möglichkeit bestreiten, daß er mir einmal vorgestellt wurde, daß ich mich seiner nicht erinnere, aber ich weiß nicht, wer Dr. Fischer ist. Jedenfalls war er kein Referent meines Zentralbüros, sondern ich nehme an, er war ein Referent, da sein Name noch im Zusammenhang mit anderen Urkunden erscheint. Wahrscheinlich war er der persönliche Referent des Regierungspräsidenten.
Der Vermerk zeigt, daß dieser Referent auf meinem Briefpapier – dazu war er berechtigt, dazu sind in Wien, glaube ich einige tausend Personen berechtigt gewesen, dieses Papier zu benutzen nach dem Usus der deutschen Behörden –, er hat auf diesem Vermerk ein Telephongespräch mit der Gestapo niedergeschrieben. Es geht daraus hervor, daß das Reichssicherheitshauptamt, also Heydrich, die Stelle war, die über den Arbeitseinsatz der Juden durch interne Weisung an die Gestapo verfügte. Der Regierungspräsident wollte hierüber noch mehr wissen. Ich glaube, man kann nicht daraus folgern, daß ich über Grausamkeiten der Gestapo unterrichtet worden bin, wie die Anklage daraus ableitet. Es ist fraglich, ob ich zu der Zeit überhaupt in Wien war. Ich verweise auf meine vorhin geschilderten anderen Aufgaben. Wenn ich da war, habe ich mich bestimmt nicht über die Aufräumungsarbeiten in den Straßen gekümmert. Ich möchte aber grundsätzlich sagen, die Vielzahl meiner Arbeiten brachte es mit sich, daß ich eine Konstruktion schaffen mußte organisatorischer Art, die es in anderen Gauen nicht gab, nämlich das Zentralbüro des Reichsleiters.
DR. SAUTER: Vielleicht sagen Sie zum Abschluß des heutigen Tages noch das eine: Wie viele Beamte hatten Sie denn in Wien unter sich, ungefähr?
VON SCHIRACH: Ich schätze etwa 5000 Beamte und Angestellte.
DR. SAUTER: 5000 Beamte und Angestellte. Soll ich noch fortfahren, Herr Präsident? Es ist fünf Uhr.
VORSITZENDER: Wir vertagen nun die Verhandlung.