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[Das Gericht vertagt sich bis

24. Mai 1946, 10.00 Uhr.]

Einhundertachtunddreißigster Tag.

Freitag, 24. Mai 1946.

Vormittagssitzung.

[Der Angeklagte von Schirach, im Zeugenstand.]

VORSITZENDER: Ist der Verteidiger für den Angeklagten Bormann anwesend?

DR. FRIEDRICH BERGOLD, VERTEIDIGER DES ANGEKLAGTEN BORMANN: Jawohl.

VORSITZENDER: Könnten Sie Ihre Dokumente am Dienstag um 10.00 Uhr vorlegen?

DR. BERGOLD: Ja, einverstanden.

VORSITZENDER: Ist die Anklagevertretung damit einverstanden?

SIR DAVID MAXWELL-FYFE: Gewiß, Herr Vorsitzender.

VORSITZENDER: Es ist Ihnen also recht, nicht wahr?

DR. BERGOLD: Bitte sehr, wir machen es so.

DR. SAUTER: Meine Herren Richter! Wir sind gestern stehen geblieben bei dem Dokument 1948-PS. Es ist das, wie Sie sich erinnern werden, eine Aktennotiz eines gewissen Dr. Fischer über ein Telephongespräch, das er mit einem Beamten der Geheimen Staatspolizei, einem Standartenführer Huber aus Wien, hatte und das sich auf die jüdische Pflichtarbeit der Jugend bezog. Es ist in diesem Vermerk insbesondere von dem Einsatz der Juden zur Beseitigung der zerstörten Synagogen die Rede. Zu diesem Aktenvermerk möchte ich an den Angeklagten Schirach nur noch die eine Frage richten:

[Zum Zeugen gewandt:]

Wann sind diese Synagogen in Wien zerstört worden? War das zu Ihrer Zeit und unter Ihrer Verantwortung oder zu einer anderen Zeit?

VON SCHIRACH: Die Synagogen in Wien sind zwei Jahre vor meinem Amtsantritt in Wien zerstört worden.

DR. SAUTER: Herr Zeuge! Ich wende mich nun dem Kapitel des Antisemitismus zu, zu dem Sie sich gestern für Ihre Jugendzeit bekannt haben. Nun würde mich interessieren, wie haben Sie sich denn zu der Zeit, als Sie der Partei beitraten und zu der Zeit, als Sie dann Beamter in der Partei wurden, die praktische Lösung des Antisemitismus vorgestellt?

VON SCHIRACH: Nach meiner Auffassung in den Jahren 1924/1925 sollten die Juden aus dem Staatsdienst ganz ausgeschaltet werden. Ihr Einfluß im Wirtschaftsleben sollte beschränkt werden. Im Kulturleben stellte ich mir vor, daß der jüdische Einfluß zurückgedämmt werden sollte. Aber für Künstler, etwa vom Range eines Max Reinhardt, stellte ich mir immer noch vor die Möglichkeit einer freien Betätigung. Das gibt, glaube ich, ziemlich exakt die Meinung wieder, die ich und meine Kameraden 1924/1925 und auch in den nachfolgenden Jahren von der Lösung der »Judenfrage« hatten. Später dann, als ich die Hochschulbewegung führte, habe ich die Forderung nach dem sogenannten »Numerus clausus« aufgestellt. Ich wollte, daß Juden nur entsprechend ihrem prozentualen Anteil an der Gesamtbevölkerung zum Studium zugelassen werden. Ich glaube, man sieht, daß aus dieser Forderung des »Numerus clausus«, die der ganzen Generation bekannt ist, die in jener Zeit studierte, erkennbar ist, daß ich an eine totale Ausscheidung des Judentums aus dem künstlerischen, wirtschaftlichen und aus dem wissenschaftlichen Leben nicht dachte.

DR. SAUTER: Herr Zeuge! Ich habe ein Dokument vorgelegt unter Dokumentenbuch Schirach, Nummer 136, das enthält Ausführungen eines Beamten der Reichsjugendführung über die Behandlung der jüdischen Jugend im Verhältnis zu der christlichen Jugend. Wissen Sie, auf welchen Standpunkt sich die Reichsjugendführung damals hinsichtlich der jüdischen Jugend gestellt hat?

VON SCHIRACH: Ich glaube, es handelt sich um einen Erlaß aus dem Jahre 1936.

DR. SAUTER: Herbst 1936?

VON SCHIRACH: Herbst 1936. Danach sollte es jüdische Jugendverbände geben unter der Dienstaufsicht des Jugendführers des Deutschen Reiches, der ja über die gesamte Jugend die Dienstaufsicht führte, und die jüdische Jugend sollte also autonom ihre eigene Jugenderziehung durchführen können.

DR. SAUTER: Es heißt in dem Erlaß unter anderem, ich zitiere nur einen Satz von Dokument 136 des Dokumentenbuches Schirach:

»In der Jugend nimmt das Judentum schon heute jene abgeschlossene und in sich ungebundene Sonderstellung ein, die einmal das Judentum im deutschen Staate und in der deutschen Wirtschaft erhalten wird und zum guten Teile bereits erhalten hat.«

Herr Zeuge! Etwa zur selben Zeit oder kurz vorher waren die sogenannten Nürnberger Gesetze erlassen worden, diese Rassengesetze, von denen hier ja schon öfters gesprochen wurde.

Waren Sie am Zustandekommen dieser Gesetze beteiligt, und wie haben Sie selbst diese Gesetze beurteilt?

VON SCHIRACH: Ich war an dem Zustandekommen der Gesetze nicht beteiligt. Ich wurde in meinem Hotelzimmer hier in Nürnberg im »Deutschen Hof« dadurch überrascht, daß ich einen Zettel vorfand, in dem vermerkt war, daß am nächsten Tag eine Reichstagssitzung, und zwar in Nürnberg stattfinden werde. Auf dieser Reichstagssitzung, an der ich teilgenommen habe, wurden die Nürnberger Gesetze beschlossen. Ich weiß heute noch nicht, wie sie zustandegekommen sind. Ich nehme an, daß Hitler selbst ihren Inhalt bestimmt hat. Mehr kann ich darüber nicht sagen.

DR. SAUTER: Können Sie mit gutem Gewissen auf Ihren Eid nehmen, daß Sie vorher, bevor diese Gesetze publiziert worden sind, von dem Plan solcher Gesetze nichts gewußt haben, obwohl Sie Reichsjugendführer und Reichsleiter gewesen sind?

VON SCHIRACH: Jawohl.

DR. SAUTER: Nachdem diese Gesetze in Nürnberg erlassen waren, wie haben nun Sie persönlich sich die weitere Entwicklung der Judenfrage vorgestellt?

VON SCHIRACH: Ich muß zunächst sagen, daß wir diese Gesetze überhaupt nicht erwartet hatten. Ich glaube, daß die ganze Jugend damals die Judenfrage als gelöst ansah, denn von einem jüdischen Einfluß konnte ja 1935 gar keine Rede mehr sein. Nachdem nun diese Gesetze erlassen worden waren, waren wir der Meinung, daß nun definitiv das letzte Wort in der Judenfrage gesprochen sei.

DR. SAUTER: Herr Zeuge! Es wird Ihnen vorgeworfen, daß Sie die Jugend, kurz gesagt, beeinflußt und aufgehetzt hätten. Ich frage Sie deshalb: Haben Sie als Reichsjugendführer die Jugend zu antisemitischen Exzessen angehalten, oder haben Sie als Reichsjugendführer, insbesondere bei Versammlungen der Hitler-Jugend, irgendwelche antisemitische Hetzreden gehalten?

VON SCHIRACH: Ich habe keine antisemitischen Hetzreden gehalten, denn ich habe mich als Reichsjugendführer und Jugenderzieher bemüht, kein Öl ins Feuer zu gießen, denn weder in meinen Büchern noch in meinen Reden – mit Ausnahme einer Wiener Rede, auf die ich später noch zu sprechen komme, die aber nicht in die Zeit fällt, in der ich Reichsjugendführer war – habe ich mich antisemitisch-hetzerisch geäußert.

Ich will mich nicht hier mit der Erklärung lächerlich machen, daß ich kein Antisemit war, ich war Antisemit, trotzdem sprach ich die Jugend in diesem Sinne nicht an.

DR. SAUTER: Die Reichsjugendführung hat ein offizielles Monatsblatt herausgegeben unter dem Titel: »Wille und Macht, Führerorgan der nationalsozialistischen Jugend«. Auszüge aus diesem offiziellen Führerorgan sind im Dokumentenbuch dem Gericht bereits vorgelegt.

Nun interessiert mich folgendes: Ist es richtig, daß irgendwelche Parteiinstanzen wiederholt von Ihnen verlangt haben, Sie sollten eine antisemitische Sondernummer dieses offiziellen Führerorgans herausgeben, um der Jugend eine klare Marschroute für die Zukunft zu geben; und welche Stellung haben Sie zu diesem Verlangen eingenommen?

VON SCHIRACH: Es ist richtig, daß der Reichspropagandaminister wiederholt von meinem Hauptschriftleiter verlangt hat, daß eine solche antisemitische Nummer herausgegeben werden soll. Ich habe nach dem Vortrag des Hauptschriftleiters immer wieder abgelehnt, das zu tun. Ich glaube, daß der Hauptschriftleiter hierüber bereits eine eidesstattliche Erklärung abgegeben hat, die das bestätigt.

DR. SAUTER: Zur Frage des Antisemitismus, Herr Zeuge, gehört auch Ihre Stellungnahme zu der Zeitung »Der Stürmer«, die Ihr Mitangeklagter Streicher herausgegeben hat. Haben Sie diese antisemitische Schrift... Zeitschrift »Der Stürmer« innerhalb der Jugendorganisation irgendwie verbreitet oder zu ihrer Verbreitung beigetragen?

VON SCHIRACH: »Der Stürmer« wurde innerhalb der Jugend nicht verbreitet, ich glaube, daß mit Ausnahme der Jugend, die hier in diesem Gau gelebt hat...

DR. SAUTER: Im Gau Franken?

VON SCHIRACH: Im Gau Franken... die übrige deutsche Jugend den »Stürmer« überhaupt nicht las. Von den sämtlichen Führern und Führerinnen meiner Organisation wurde »Der Stürmer« restlos abgelehnt.

DR. SAUTER: Dann muß ich Ihnen vorhalten, Herr Zeuge, daß in der Anklage Ihnen vorgeworfen wird, Sie hätten dieser Zeitschrift, dieser antisemitischen, dem »Stürmer«, einmal ein Geleitwort zur Verfügung gestellt. Ist Ihnen das bekannt, und was sagen Sie dazu?

VON SCHIRACH: Ich kann folgendes dazu sagen: Ich habe immer sehr eng mit der Presse zusammengearbeitet, ich komme selbst von der Pressearbeit her. Ich habe an mein Presseamt als Reichsjugendführer eine grundsätzliche Weisung gegeben, daß allen Ersuchen von Gauzeitungen, die ein Geleitwort oder etwas Ähnliches von mir haben wollen, grundsätzlich zu entsprechen sei. Wenn nun eine Gauzeitung ein Jubiläum hatte, etwa ihres zehn oder zwanzigjährigen Bestehens oder irgendeine Festschrift herausgab, wurde von dem Referenten meines Presseamtes ein Entwurf gemacht, und mit meiner umfangreichen Abendpost, die mir zur Zeichnung vorgelegt wurde, wurden auch diese anderen Entwürfe und Ausarbeitungen mir gegeben. Auf solche Weise mag es gekommen sein, daß ich dieses Geleitwort für den »Stürmer«, der ja hier die Gauzeitung war, mit abgezeichnet habe. Ich habe sonst keine Erinnerung an diesen Vorgang.

DR. SAUTER: Sie wissen also nicht, ob Sie dieses kurze Geleitwort selbst entworfen haben oder ob es einer Ihrer Referenten entworfen und Ihnen zur Unterschrift vorgelegt hat?

VON SCHIRACH: Ich glaube bestimmt nicht, daß ich es selbst entworfen habe, denn ich habe solche kurze Geleitworte, wie erwähnt, immer vorgelegt bekommen. Ich habe meine Zeitungsartikel selbst geschrieben, aber nicht solche Geleitworte.

DR. SAUTER: Herr Zeuge! Weil wir gerade bei dem Namen Streicher sind, erinnere ich Sie an ein sehr häßliches Bilderbuch, das hier vorgelegt wurde von der Staatsanwaltschaft, mit diesen Abbildungen. Ist dieses Bilderbuch in der Jugend mit Ihrem Willen verbreitet worden, oder was wissen Sie sonst davon?

VON SCHIRACH: Selbstverständlich ist dieses Buch in der Jugend nicht verbreitet worden. Es ist ganz ausgeschlossen, daß eine Dienststelle der HJ dieses Buch an die Jugend weitergegeben hat. Die Bilderbücher des Stürmerverlages sind mir überhaupt nicht bekannt. Ich bin für die Schulerziehung zwar nicht zuständig, aber ich möchte doch auch für die Schulerziehung sagen, daß ich nicht glaube, daß dieses Bilderbuch außerhalb dieses Gaues in einer Schule eingeführt war. Jedenfalls innerhalb der Jugend und Jugendorganisation wurde dieses Buch und wurden ähnliche Schriften des Stürmerverlages grundsätzlich nicht verbreitet. Es trifft für die Beurteilung eines solchen Buches dasselbe zu, was ich hinsichtlich des »Stürmer« sagte, daß das Führerkorps der Jugend derartige Schriften ablehnte.

DR. SAUTER: Herr Zeuge! Sie haben dann miterlebt, wie sich die antisemitische Frage in der Wirklichkeit entwickelte und wie sie dann zu den bekannten Vorfällen, zu den Judenpogromen vom November 1938 geführt hat. Waren Sie selber an diesen Judenpogromen vom November 1938 irgendwie beteiligt?

VON SCHIRACH: Ich war selbst in keiner Weise daran beteiligt; ich habe aber an der Tagung in München teilgenommen...

DR. SAUTER: Welche Tagung?

VON SCHIRACH: Die Tagung, die traditionell am 9. November eines jeden Jahres für die Gefallenen des 9. November 1923 zu ihrem Gedächtnis veranstaltet wurde. Ich habe nicht an sämtlichen Besprechungen dieses Tages teilgenommen. Ich erinnere mich aber einer Rede, im Zusammenhang mit der Ermordung des Herrn vom Rath hielt. Diese Rede war ausgesprochen hetzerisch, und es war aus ihr zu entnehmen, daß Goebbels vorhatte, eine Aktion zu starten. Er soll nähere Weisungen für diese Aktion bereits – das habe ich aber erst später gehört – von München aus, von seinem Hotel aus, direkt an die Reichspropagandaämter gegeben haben. Ich nahm mit meinem Mitarbeiter Lauterbacher, der mein Stabsführer war, an der Münchener Tagung teil. Wir beide haben die Aktion abgelehnt. Es ist die Hitler-Jugend als größte nationalsozialistische Organisation überhaupt nicht eingesetzt worden bei diesen Judenpogromen des 9., 10., 11. November 1938. Ich erinnere mich an einen Fall, wo ein Jugendführer ohne Rückfrage an mein Amt in Berlin teilgenommen hat und sich hat hinreißen lassen durch irgendeine örtliche Propagandastelle zur Teilnahme an einer Demonstration und daß ich diesen zur Rechenschaft gezogen habe. Ich habe nach dem 10. November mich wieder ein paar Tage in München aufgehalten und habe unter anderem einige zerstörte Geschäftshäuser und auch Villen gesehen. Es hat damals auf mich einen furchtbaren Eindruck gemacht, und unter diesem Eindruck habe ich die ganze Führung der Jugend, die Gebietsführer meiner Erinnerung nach, also das heißt die höchsten verantwortlichen Führer der Jugend, nach Berlin zusammenberufen und habe dort in einer Ansprache an diese Jugendführer die Ereignisse des 9. und 10. November als eine Kulturschande bezeichnet, und ich habe in dem Zusammenhang auch von einer verbrecherischen Aktion gesprochen. Ich glaube, daß alle die Mitarbeiter, die damals dabei waren, sich genau werden erinnern können, in welcher Erregung ich damals war und wie ich damals ihnen auch sagte, daß meine Organisation jetzt und in Zukunft mit derartigen Aktionen nie etwas zu tun haben darf.

DR. SAUTER: Sie haben vorhin von einem vereinzelten Fall gesprochen, wo ein Ihnen unterstellter HJ-Führer sich Irgendwie an Aktionen beteiligt haben soll. Sind Ihnen im November 1938 oder in der Folgezeit weitere Fälle bekanntgeworden, wo Einheiten der HJ sich an diesen Judenpogromen tatsächlich beteiligt haben sollen?

VON SCHIRACH: Nein, es sind mir keine weiteren Fälle bekanntgeworden. Das einzige, was ich gehört habe, war, daß hier und da einzelne Jungens oder Gruppen von Jungens durch örtliche Stellen, nicht der HJ, auf die Straße gerufen wurden. Sie sind aber von den Jugendführern in den meisten Fällen wieder nach Hause geschickt worden. Ein Einsatz der Organisation hat nicht stattgefunden. Ich lege großen Wert auf die Feststellung, daß die Jugend, die mehr Menschen umfaßte als die Partei und alle ihre Gliederungen zusammenaddiert, mit diesen Ereignissen nicht verbunden ist.

DR. SAUTER: Sie haben nun, Herr Zeuge, mindestens aus den Vorkommnissen des November 1938 gesehen, daß die Entwicklung in Deutschland eine andere Richtung genommen hat, als Sie nach Ihrer bisherigen Darstellung erwartet haben. Wie haben Sie sich denn nun nach dem November 1938 die weitere Behandlung des Judenproblems in Deutschland vorgestellt?

VON SCHIRACH: Nach dem, was 1938 sich ereignet hatte, sah ich die einzige Möglichkeit für das Judentum in einer vom Staat unterstützten Auswanderung; denn bei dem Temperament von Goebbels schien es mir möglich, daß immer wieder derartige Aktionen über Nacht hervorgerufen werden könnten, und in diesem Zustande einer Rechtsunsicherheit konnte ich mir ein Weiterleben der jüdischen Bevölkerung in Deutschland nicht vorstellen. Das ist auch einer der Gründe, warum mir der Gedanke, den Hitler 1940 mir gegenüber aussprach im Hauptquartier, nämlich einer geschlossenen Ansiedlung des Judentums im Generalgouvernement in Polen, einleuchtete. Ich dachte, daß das Judentum dort besser aufgehoben sein würde in einem geschlossenen Siedlungsgebiet als in Deutschland und Österreich, wo es den Launen des Propagandaministers ausgesetzt war, der ja der Hauptträger des Antisemitismus in Deutschland gewesen ist.

DR. SAUTER: Ist es richtig, daß Sie selbst, wenn Sie Gelegenheit hatten, zu Hitler zu kommen, ihm von Ihnen aus positive Vorschläge machten, damit die Juden in einem neutralen Land unter menschlichen Bedingungen angesiedelt werden könnten?

VON SCHIRACH: Nein, das ist nicht richtig.

DR. SAUTER: Sondern?

VON SCHIRACH: Ich möchte das ganz klarstellen. Ich habe gestern erwähnt, wie ich mich bei Hitler gemeldet habe und wie er mir sagte, daß die Wiener Juden ins Generalgouvernement verschickt würden. Ich habe vorher niemals an eine Aussiedlung der Juden aus Österreich und Deutschland und Ansiedlung im Generalgouvernement gedacht. Ich dachte nur an eine Auswanderung des Judentums in Länder, die das Judentum aufsuchen wollte. Aber der Plan Hitlers, wie er damals bestand, und ich glaube, daß damals auch in seinem Hirn der Gedanke einer Ausrottung des Judentums nicht lebte, der Plan Hitlers einer solchen Ansiedlung erschien mir vernünftig, er schien mir damals vernünftig.

DR. SAUTER: Sie sollen aber doch – ich glaube 1942 – sich bemüht haben, Hitler durch Vermittlung Ihres Freundes Dr. Colin Roß einen Vorschlag zu unterbreiten dahingehend, daß die Juden aus Ungarn und aus den Balkanstaaten unter Mitnahme der beweglichen Habe in ein neutrales Land sollten auswandern können?

VON SCHIRACH: Das ist zu einem späteren Zeitpunkt gewesen – ich weiß nicht mehr genau zu welchem – jedenfalls nach der Besetzung Ungarns. Unter den unzähligen Vorschlägen, die ich durch Colin Roß dem Führer beziehungsweise dem Reichsaußenminister zur Weiterleitung an den Führer gemacht habe, war auch der, die gesamte jüdische Bevölkerung Ungarns in das neutrale Ausland zu überführen. Wenn der Zeuge Steengracht hier ausgesagt hat, daß ein solcher Gedanke im Auswärtigen Amt erörtert wurde und daß er ein Gedanke des Auswärtigen Amtes war, so hat er sicher in gutem Glauben ausgesagt. Der Gedanke stammt in seinem Ursprung aus Gesprächen zwischen mir und Colin Roß. Er ist dann durch Colin Roß in einer Denkschrift festgehalten worden. Er ist aber – das ist besonders wichtig – in einem mündlichen Vortrag dem Reichsaußenminister vorgetragen worden, der aber dann bei einem neuen Besuch von Colin Roß beim Außenminister ihm gesagt hatte, daß der Führer definitiv das abgelehnt hätte.

DR. SAUTER: Die Auswanderung ins neutrale Ausland?

VON SCHIRACH: Jawohl, ins neutrale Ausland.

DR. SAUTER: Die Juden, Herr Zeuge, in Wien sind dann – das wissen Sie ja selbst – von dort zum größten Teil abtransportiert worden. Haben nun Sie im Jahre 1940, als Sie Gauleiter in Wien wurden, oder in der Folgezeit von Hitler irgendeinen Auftrag bekommen, daß Sie diesen Abtransport der Juden aus Wien durchführen oder bei dem Abtransport der Juden mitwirken sollen?

VON SCHIRACH: Ich habe keinen solchen Auftrag erhalten. Der einzige Auftrag, der im Zusammenhang mit der Verschickung der jüdischen Bevölkerung aus Wien an mich erging, war eine Frage Hitlers nach der Zahl der in Wien lebenden jüdischen Bevölkerung. Diese Zahl, die mir entfallen war, ist mir wieder ins Gedächtnis zurückgerufen worden durch ein Dokument, das die Anklage hier gegen mich vorgebracht hat. Danach habe ich Hitler berichtet, daß damals 60000 Juden in Wien lebten. Diese Zahl stammt wahrscheinlich vom Einwohnermeldeamt. In früherer Zeit lebten in Wien rund – ich glaube, das ist die stärkste Ziffer – 190000 Juden. Als ich nach Wien kam, befanden sich also noch 60000 Juden dort. Die Verschickung der Juden war eine Maßnahme, die direkt im Auftrage Hitlers vom Reichssicherheitshauptamt oder von Himmler geleitet wurde, und es bestand in Wien eine Dienststelle des Reichssicherheitshauptamtes oder ein Außenposten von Himmler-Heydrich, der diese Maßnahmen durchführte.

DR. SAUTER: Wer war der Leiter dieser Stelle?

VON SCHIRACH: Der Leiter dieser Stelle war – das habe ich letzt erfahren, sein Name war mir früher nicht geläufig – ein gewisser Brunner.

DR. SAUTER: Ein SS-Sturmführer?

VON SCHIRACH: SS-Sturmführer Dr. Brunner.

DR. SAUTER: Der vor einiger Zeit zum Tode verurteilt worden sein soll. Ist Ihnen das bekannt?

VON SCHIRACH: Ich habe es gestern gehört.

DR. SAUTER: Haben Sie diesem Brunner, der SS-Führer war, irgendwelche Befehle zu erteilen gehabt oder irgendwelche Richtlinien geben können?

VON SCHIRACH: Ich habe keinerlei Möglichkeit gehabt, die Judenverschickung etwa abzustoppen oder sonst auf sie Einfluß zu nehmen. Ich habe einmal dem Chef meines Landesernährungsamtes bereits 1940 gesagt, er soll sich darum kümmern, daß die abfahrenden jüdischen Personen mit ausreichenden Nahrungsmitteln versehen werden. Ich habe häufiger, wenn von Juden an mich geschrieben wurde, die die Bitte äußerten, von der Verschickung ausgenommen zu werden, meinen Adjutanten oder sonst einen Mitarbeiter beauftragt, bei Brunner zu intervenieren, um zu erreichen, daß für diese Personen eine Ausnahme gemacht würde. Mehr konnte ich nicht tun. Ich muß hier aber ehrlich bekennen, daß ich ja der Meinung war, daß diese Verschickung wirklich auch im Interesse des Judentums lag aus den Gründen, die ich im Zusammenhang mit den Ereignissen von 1938 schilderte.

DR. SAUTER: Haben Sie von der SS, die auch in Wien mit der Durchführung der Judenevakuierung beauftragt war, laufende Berichte darüber bekommen, wie und in welchem Ausmaß diese Judenevakuierung durchgeführt wird?

VON SCHIRACH: Nein, ich bin deshalb auch nicht imstande zu sagen, in welchem Zeitraum die Judenverschickung abgeschlossen wurde und ob alle diese 60000 Menschen aus Wien weggeschleppt wurden oder ob nur ein Teil von ihnen weggeschafft wurde.

DR. SAUTER: Haben die Zeitungen in Wien über diese Judenverschickungen und über deren Umfang und über die dabei vorgekommenen Mißstände nichts berichtet?

VON SCHIRACH: Nein.

DR. SAUTER: Nichts? Herr Zeuge! Ich muß Ihnen aber ein von der Staatsanwaltschaft vorgelegtes Dokument vorhalten. Es ist das das Dokument 3048-PS, ein Auszug aus der Wiener Ausgabe des »Völkischen Beobachter« über eine Rede, die Sie, Herr Zeuge, am 15. September 1942 in Wien gehalten haben und in welcher der Satz vorkommt – ich zitiere hier wörtlich aus der Zeitung:

»Jeder Jude, der in Europa wirkt, ist eine Gefahr für die europäische Kultur. Wenn man mir den Vorwurf machen wollte, daß ich aus dieser Stadt, die einst die europäische Metropole des Judentunis gewesen ist, Zehntausende und aber Zehntausende von Juden ins östliche Ghetto abgeschoben habe, muß ich antworten: Ich sehe darin einen aktiven Beitrag zur europäischen Kultur.«

Soweit das Zitat aus dieser Rede, die im übrigen keine antisemitischen Äußerungen von Ihnen aufweist. Angesichts Ihrer bisherigen Darstellung, Herr Zeuge, muß ich Sie fragen: Haben Sie diese Rede gehalten, und wie sind Sie zu dieser Rede gekommen trotz der grundsätzlichen Einstellung, die Sie uns bisher geschildert haben?

VON SCHIRACH: Ich will zuerst sagen, daß ich diese Rede gehalten habe. Das Zitat ist richtig. Ich habe das gesagt. Ich muß dafür einstehen. Obwohl der Plan der Judenverschickung Hitlers Plan war und die Durchführung nicht mir oblag, habe ich dieses Wort gesprochen, das ich aufrichtig bereue. Ich habe mich aus einer falschen Loyalität dem Führer gegenüber mit dieser Aktion moralisch identifiziert. Das habe ich getan. Ich kann es nicht ungeschehen machen. Wenn ich nun erklären soll, wie ich dazu gekommen bin, so muß ich sagen, daß ich in jener Zeit bereits mich in einer Zwangslage befand. Ich glaube, es wird auch aus meinen späteren Ausführungen hervorgehen, daß ich von einem gewissen Zeitpunkt ab Hitler gegen mich hatte, die Parteikanzlei gegen mich hatte, große Teile der Partei selbst gegen mich hatte. Es wurde mir ununterbrochen durch die Funktionäre der Parteikanzlei, die das gegenüber dem Gauleiter von Wien zum Ausdruck brachten und durch Äußerungen aus der Umgebung Hitlers gesagt, daß man das Gefühl hätte, daß das auch aus meinen Handlungen und meiner Haltung deutlich zu erkennen sei, daß ich nicht in der üblichen Weise in der Öffentlichkeit antisemitisch und in sonstiger Beziehung mich äußerte; und ich habe eben keine Entschuldigung. Aber es ist eine Erklärung vielleicht – aus dieser Zwangslage heraus dann mich so geäußert zu haben in einer Weise, die ich heute vor mir selber nicht zu rechtfertigen vermag.

DR. SAUTER: Herr Zeuge! In diesem Zusammenhang möchte ich Sie fragen: Sie sprechen eben von einer gewissen Zwangslage, in der Sie in Wien gewesen wären. Ist es richtig, daß Hitler auch selbst einige Male Ihnen persönlich schwere Vorwürfe machte, daß Sie in Wien nicht energisch genug auftreten würden, daß Sie dort zu lax und zu nachgiebig seien, daß Sie sich um die Interessen der Partei mehr kümmern und daß Sie viel schärfere Methoden anwenden müßten. Und was, Herr Zeuge haben Sie darauf getan?

VORSITZENDER: Dr. Sauter! Ich nehme an, Sie sind sich bewußt, daß Ihre Frageform sehr suggestiv ist. Ihre Fragen legen dem Zeugen die Antworten in den Mund. Und solche Fragen können unmöglich... Die Antworten auf solche Fragen können unmöglich denselben Wert haben, wie Fragen, die Sie nicht in suggestiver Form stellen.

DR. SAUTER: Herr Zeuge! Haben Sie von Hitler persönlich Vorwürfe bekommen wegen Ihrer Haltung in Wien, und welche Stellung haben Sie dazu eingenommen? Ich glaube, das ist keine suggestive Frage.

VORSITZENDER: Ich glaube, ja. Meiner Meinung nach ist das eine suggestive Frage. Er sagt, daß er sich in einer sehr schwierigen Lage befand, und Sie hätten ihn fragen sollen, worin diese schwierige Lage bestand.

DR. SAUTER: Gut, beantworten Sie diese Frage, Herr Zeuge!

VON SCHIRACH: Herr Verteidiger! Ich hätte sowieso die Frage in der Formulierung, die Sie gebraucht haben vorhin, nicht akzeptieren können. Der Gegensatz zwischen Hitler und mir entstand zunächst wegen einer Kunstausstellung, und der Riß zwischen Hitler und mir im Jahre 1943 war das Ergebnis differierender Auffassungen in der Kulturpolitik im Anfang. Ich wurde 1943 zum Berghof befohlen, und dort machte mir Hitler in Gegenwart Bormanns die heftigsten Vorwürfe wegen meiner kulturellen Arbeit, und zwar drückte er sich wortwörtlich aus, daß ich die kulturelle Opposition in Deutschland gegen ihn anführe. Und im weiteren Verlaufe sagte er, daß ich die Wiener und österreichischen geistigen Kräfte zusammen mit den Kräften der Jugend gegen ihn aus dem kulturellen Sektor mobilisiere; er wisse das sehr genau. Er habe einige meiner Reden gelesen, vor allem die Düsseldorfer Rede. Er habe festgestellt, daß ich in Weimar und in Wien Ausstellungen mit entarteter Kunst durchführe, und er stelle mich vor die Alternative, entweder sofort mit dieser meiner gegnerischen Arbeit aufzuhören, dann könne zunächst noch alles beim alten bleiben, oder aber er werde die Reichszuschüsse für Wien sperren. Diese Szene machte auf mich einen furchtbaren Eindruck, sie stellte insofern für mich auch einen Wortbruch Hitlers mir gegenüber dar, als er mir ja bei der Erteilung des Auftrages für Wien absolute Freiheit zugesichert hatte, und zum anderen erkannte ich, daß auf seiner Seite mir gegenüber ein eiskalter Haß bestand und daß sich hinter diesen Äußerungen über die Kulturpolitik noch irgend etwas anderes verbarg. Ob er mit meiner Amtsführung in Wien damals in allen Einzelheiten unzufrieden war, das weiß ich nicht. Er pflegte sich über solche Dinge selten direkt zu äußern. Ich erfuhr nur aus seiner Umgebung das eine oder andere. Ich habe dann – und hier trat der vollständige Bruch zwischen Hitler und mir ein – ich habe dann einige Wochen nach diesem Befehlsempfang, wenn ich so sagen darf, auf dem Berghof merkwürdigerweise eine Einladung für mich und meine Frau bekommen zu einem längeren Aufenthalt auf dem Berghof. Ich habe damals naiverweise geglaubt, daß Hitler das Bestreben hatte, die entstandene Kluft zu überbrücken und in irgendeiner Weise zum Ausdruck zu bringen, daß er zu weit gegangen sei. Ich habe allerdings dann am Ende meines nur dreitägigen Aufenthaltes auf dem Berghof – ich habe ihn dann abgebrochen – festgestellt, daß ich mich in einem fundamentalen Irrtum befand. Ich will mich hier nur auf wenige Dinge beschränken. Ich habe mir vorgenommen und habe das auch durchgeführt, wenigstens drei Dinge zur Sprache zu bringen bei meinem Aufenthalt. Das eine war die Russenpolitik, das andere war die Judenfrage, und das andere war das Verhältnis Hitlers zu Wien. Ich muß vorausschicken, daß von Bormann ein Erlaß mir und wahrscheinlich allen Gauleitern zugegangen war, daß es uns verboten war, in der Judenfrage zu intervenieren, also überhaupt Hitler gegenüber für einen Juden oder für einen Halbjuden, auch das stand in diesem Erlaß drin, einzutreten. Ich muß das erwähnen, weil nur so verständlich wird, was sich jetzt abspielt. Ich habe am ersten Abend meines Aufenthaltes bei einer mir günstig erscheinenden Gelegenheit Hitler gesagt, daß ich der Meinung sei, daß eine freie autonome Ukraine auch dem Reiche nützlicher sein würde als eine von Herrn Koch mit Gewalt beherrschte. Das war alles, was ich sagte. Es war nicht mehr und es war nicht weniger. Es ist, wenn man Hitler gekannt hat, schon äußerst schwierig gewesen, überhaupt eine solche Bemerkung anzubringen. Hitler hat mir darauf verhältnismäßig ruhig, aber betont schart geantwortet. Und am selben Abend oder am darauffolgenden Abend noch ist die Judenfrage angeschnitten worden, und zwar nach einer Verabredung, die ich mit meiner, Frau getroffen hatte. Da es mir verboten war, das Gespräch auf diese Dinge zu bringen, hat meine Frau eine Schilderung dem Führer gegeben eines Erlebnisses, das sie in Holland hatte. Sie war da in der Nacht Zeuge eines Abtransports von Jüdinnen geworden durch die Gestapo und hatte das von ihrem Hotelzimmer aus beobachtet. Und wir waren beide der Meinung, daß dieses Reiseerlebnis und diese Schilderung vielleicht die Möglichkeit bieten würde, bei Hitler eine Änderung seiner Auffassung in der ganzen Judenfrage und in der Behandlung der Juden herbeizuführen. Meine Frau gab einen sehr drastischen Bericht, einen Bericht, der etwa dem entsprach, was man heute in der Presse über solche Dinge liest. Hitler schwieg. Es schwiegen auch die anderen Zeugen dieser Besprechung; unter anderen war mein eigener Schwiegervater, Professor Hoffmann, Zeuge. Es entstand ein eisiges Schweigen und nach einiger Zeit sagte Hitler bloß darauf: »Das sind Sentimentalitäten.« Das war alles. Es kam an dem Abend keine Unterhaltung mehr auf. Er zog sich auch früher als sonst zurück; ich hatte den Eindruck, daß nun eine Situation entstanden war, die völlig unhaltbar war. Es haben dann Männer aus der Umgebung Hitlers meinem Schwiegervater gesagt, daß ich von nun an für meine Sicherheit fürchten müßte. Ich habe dann nur getrachtet, so rasch als möglich vom Berghof wegzukommen, ohne daß es zu einem vollkommenen Bruch kam; aber es ist mir das nicht gelungen.

Dann kam am nächsten Abend Goebbels an, und es wurde dann in meiner Gegenwart, ohne daß ich davon anfing, das Thema Wien angeschnitten. Ich war natürlich gezwungen, den Äußerungen entgegenzutreten, die zunächst Goebbels gegen die Wiener machte. Der Führer fing nun an, in einem, ich möchte sagen, maßlosen Haß sich gegen die Wiener Bevölkerung zu äußern. Ich muß hierzu bekennen, daß, wenn mich heute auch die Wiener Bevölkerung verflucht, ich immer eine besondere Freundschaft für sie empfunden habe. Ich habe mich mit dieser Bevölkerung verbunden gefühlt. Ich will nicht mehr sagen, als daß Josef Weinheber einer meiner nächsten Freunde war. Bei dieser Auseinandersetzung nun trat ich, wie es meine Pflicht war, wie es meinem Gefühl entsprach, für die Menschen ein, die ich dort führte. Hitler sprach unter anderem gegen vier Uhr morgens ein Wort aus, das ich aus historischen Gründen hier festhalten will. Er sagte: »Wien hätte eigentlich nie in den Verband des Großdeutschen Reiches aufgenommen werden dürfen.« Hitler hat Wien niemals geliebt. Er hat die Wiener Bevölkerung gehaßt. Ich glaubte, daß er eine Neigung zur Stadt hätte deswegen, weil er die Architektur der Ringstraßenbauten schätzte. Aber jeder, der Wien kennt, weiß, daß das eigentliche Wien nicht die Bauten der Ringstraße, sondern das gotische Wien ist.

DR. SAUTER: Ich glaube wohl, Herr Zeuge, daß der Gegenstand mit der Anklage wenig zu tun hat... Ich bitte, bei der Anklage zu bleiben.

VON SCHIRACH: Ich will das abschließen. Ich will nur sagen, daß ein so totaler Bruch aus dieser Unterhaltung oder aus dieser Explosion Hitlers entstand, daß ich mich noch in der gleichen Nacht, es war inzwischen halb fünf Uhr früh geworden, verabschiedete und am nächsten Morgen abreiste und den Berghof verließ. Ich habe seitdem keine Besprechung mehr mit Hitler gehabt. Ich muß nun auf etwas eingehen, was im Zusammenhang damit stand. Der Reichsmarschall Göring hat hier auf dem Zeugenstand von einem Brief gesprochen, den Hitler ihm gezeigt hat, der von mir geschrieben war, und Herr von Ribbentrop hat hier ausgesagt, daß er Zeuge war einer Unterhaltung, in der Himmler Hitler vorschlug, mich vor dem Volksgerichtshof anzuklagen, das heißt praktisch, mich aufzuhängen. Ich muß dazu etwas sagen: Was Göring über den Brief gesagt hat, ist im großen und ganzen richtig. Ich habe mich in diesem Brief in einer durchaus korrekten Form über verwandtschaftliche Beziehungen geäußert. In diesem Brief habe ich einen Satz geschrieben, der lautete, daß ich den Krieg mit Amerika für ein Unglück halte.

DR. SAUTER: Von wann war der Brief?

VON SCHIRACH: Es war ein Brief, 1943 geschrieben, nicht lange nach meinem Aufenthalt auf dem Berghof. Diese Äußerung enthielt nichts Besonderes, da Hitler ohnehin...

VORSITZENDER: Er hat noch nicht das Datum seines Aufenthaltes auf dem Berghof angegeben. Welches Jahr war das?

DR. SAUTER: Er hat gesagt, Herr Präsident, 1943; er sagte eben 1943.

VORSITZENDER: 1943 hat zwölf Monate.

DR. SAUTER: [zum Zeugen gewandt] Ich glaube, Sie sollten uns den Monat angeben.

VON SCHIRACH: Ich glaube, daß die Berghofbesprechung im Frühjahr war und der Brief – ich kann es aber nicht exakt sagen – im Sommer geschrieben wurde.

DR. SAUTER: Im Sommer 1943?

VON SCHIRACH: Ja, 1943, ich kann es aber nicht exakt angeben. Der Brief war korrekt, er war mit der Hand geschrieben, keine Sekretärin hat ihn gelesen, er ging durch einen Kurier an das Staatsoberhaupt.

DR. SAUTER: An Hitler persönlich?

VON SCHIRACH: An Hitler. Es ist auch möglich, daß er zu Händen von Bormann adressiert war, das weiß ich nicht genau. Er lief durch eine Kurierpost. Und dieser Brief enthielt weiter nichts als die Klarstellung, die notwendig war, um die Fragen zu beantworten, die an mich gerichtet worden waren in einem Zirkular, das Göring in seiner Aussage hier erwähnt hat. Dieser Brief hat bei Hitler eine absolute Ablehnung meiner Person hervorgerufen. Ungefähr zur gleichen Zeit wurde im Reichssicherheitshauptamt ein Akt gegen mich angelegt. Das kam dadurch, daß ich in einem Kreis von Politischen Leitern – von höheren Politischen Leitern – die außenpolitische Situation so darstellte, wie ich sie sah, wie ich das gewohnt war zu tun von der Jugend her. Und einer dieser Männer war Nachrichtenmann der SS, er hat das gemeldet. Es ist dann ein Akt angelegt worden. Das Material wurde zusammengetragen, um mir eventuell einen Prozeß machen zu können. Daß es nicht dazu kam, verdanke ich ausschließlich und allein der Tatsache, daß im Heere und in der Heimat meine Kameraden aus der Führung der Jugend waren, die mit mir solidarisch waren, und ein Vorgehen gegen mich hätte damit Schwierigkeiten gehabt. Nach dem 20. Juli 1944 war für mich die Lage außerordentlich ernst. Meine Freunde im Heer haben deshalb eine Kompanie von ganz besonders ausgesuchten Soldaten mir zur Verfügung gestellt. Sie standen unter dem Befehl des früheren Adjutanten von Generaloberst Fromm. Diese Kompanie unterstand mir unmittelbar. Sie hat meinen Schutz übernommen und ist bei mir bis zuletzt geblieben.

DR. SAUTER: Trat diese Kompanie der Wehrmacht, von der Sie eben sprechen, an die Stelle des polizeilichen Schutzes, den Sie bis dahin in Wien gehabt hatten?

VON SCHIRACH: Ja.

DR. SAUTER: Herr Zeuge! Ich komme auf Ihre Wiener Rede vom September 1942 nochmals zurück. In dieser Rede sprechen Sie von der Verschickung von Zehntausenden von Juden in das östliche Ghetto. Sie sprachen hier nicht von einer Vernichtung oder Ausrottung der Juden. Wann haben Sie denn davon erfahren, daß der Plan Hitlers auf eine Vernichtung oder Ausrottung gerichtet war?

VON SCHIRACH: Herr Verteidiger! Wenn ich damals von einer Ausrottung, das heißt Vernichtung der Juden etwas gewußt hätte, so säße ich heute nicht hier. Erfahren habe ich das erstemal meiner Erinnerung nach von einer Ausrottung der Juden durch folgendes Ereignis: Dr. Roß kam zu mir.

DR. SAUTER: Wer?

VON SCHIRACH: Dr. Colin Roß kam 1944 nach Wien gefahren und sagte mir, daß er aus Auslandszeitungen Anhaltspunkte dafür hätte, daß Massenmorde an Juden im Osten in großem Umfange begangen würden. Ich habe dann versucht, in Erfahrung zu bringen, was ich in Erfahrung bringen konnte. Was ich erfuhr war, daß im Warthegau Exekutionen an Juden durch Gaswagen durchgeführt wurden. Von diesen Erschießungen im Osten, die...

VORSITZENDER: Dr. Sauter! Wie war der Name des Gaues, von dem er sprach, Warthegau?

DR. SAUTER: Warthegau, mein Herr.

VON SCHIRACH: Warthegau.

DR. SAUTER: Das ist ein Gau, also ein Landstrich an der Grenze Polens, eine Gegend im Osten Deutschlands, Warthegau. Westlich von Polen, bei Schlesien.

Bitte, Herr Zeuge, fahren Sie kurz weiter!

VON SCHIRACH: Die Exekutionen, die Erschießungen auf russischem Boden, die m den Dokumenten erwähnt worden sind, die im Falle Kaltenbrunner im Kreuzverhör vorgelegt wurden, sind mir damals nicht bekanntgeworden. Ich habe aber zu einem etwas späteren Zeitpunkt vor 1944 von Erschießungen im russischen Raum gehört, in den Ghettos und brachte das in Zusammenhang mit dem Kriegsgeschehen, weil ich an bewaffnete Aufstände in den Ghettos dachte. Von dieser organisierten Vernichtung, wie wir sie im Prozeß dargestellt bekommen haben, wußte ich nichts.

DR. SAUTER: Sie haben also, wenn ich recht höre, von diesen Dingen erstmals erfahren im Jahre 1944 durch Dr. Colin Roß, Ihren Freund, der das aus ausländischen Meldungen Ihnen mitteilte?

VON SCHIRACH: Ja.

DR. SAUTER: Wissen Sie noch den Monat?

VON SCHIRACH: Das kann ich nicht sagen.

DR. SAUTER: Jedenfalls im Jahre 1944?

VON SCHIRACH: Das kann ich nicht sagen.

Ich glaube aber doch, ich muß noch etwas dazu ausführen. Ich habe mir selbst die Frage vorgelegt, was kann man dagegen tun, und ich frage mich heute täglich, was habe ich dagegen getan. Ich kann darauf nur antworten: Praktisch nichts. Ich war seit dem Jahre 1943 politisch ein toter Mann. Ich habe über das hinaus, was Ich 1943 auf dem Berghof versucht habe, nichts tun können.

DR. SAUTER: Nichts?

VON SCHIRACH: Nichts.

DR. SAUTER: Herr Zeuge! Ich möchte in diesem Zusammenhang eine ganz prinzipielle Frage an Sie stellen. Sie haben gestern bekannt, wie Sie in frühester Jugend Antisemit, und zwar in Ihrem Sinne, wurden. In der Zwischenzeit haben Sie eine Zeugenaussage Höß' gehört, Höß, der Kommandant von Auschwitz, der uns berichtete, daß allein in diesem Lager, ich glaube, zweieinhalb bis drei Millionen unschuldige Menschen, hauptsächlich Juden, hingemordet worden sind. Was bedeutet für Sie heute der Name Auschwitz?

VON SCHIRACH: Es ist das der größte und satanischste Massenmord der Weltgeschichte. Aber dieser Mord ist nicht von Höß begangen worden. Höß war nur der Henker. Den Mord befohlen hat Adolf Hitler, das steht in seinem Testament, Das Testament ist echt; ich habe die Photokopie des Testaments in meinen Händen gehabt. Er und Himmler haben gemeinsam dieses Verbrechen begangen, das für immer ein Schandfleck unserer Geschichte bleibt. Es ist ein Verbrechen, das jeden Deutschen mit Scham erfüllt. Die deutsche Jugend trägt daran keine Schuld. Sie dachte antisemitisch, aber sie wollte nicht die Ausrottung des Judentums. Sie wußte und ahnte nichts davon, daß Hitler diese Ausrottung durch tägliche Morde an Tausenden von unschuldigen Menschen durchführte Die jungen Menschen, die heute ratlos zwischen den Trümmern Ihrer Heimat stehen, haben von diesen Verbrechen nichts gewußt und haben sie nicht gewollt. Sie sind unschuldig an dem, was Hitler dem jüdischen und dem deutschen Volk angetan hat. Ich möchte zum Fall Höß aber noch folgendes sagen: Ich habe diese Generation im Glauben an Hitler und in der Treue zu ihm erzogen. Die Jugendbewegung, die ich aufbaute, trug seinen Namen. Ich meinte, einem Führer zu dienen, der unser Volk und die Jugend groß, frei und glücklich machen würde. Mit mir haben Millionen junger Menschen das geglaubt und haben im Nationalsozialismus ihr Ideal gesehen. Viele sind dafür gefallen. Es ist meine Schuld, die ich fortan vor Gott, vor meinem deutschen Volk und vor unserer Nation trage, daß ich die Jugend dieses Volkes für einen Mann erzogen habe, den ich lange, lange Jahre als Führer und als Staatsoberhaupt als unantastbar ansah, daß ich für ihn eine Jugend bildete, die ihn so sah wie ich. Es ist meine Schuld, daß ich die Jugend erzogen habe für einen Mann, der ein millionenfacher Mörder gewesen ist. Ich habe an diesen Mann geglaubt, und das ist alles, was ich zu meiner Entlastung und zur Erklärung meiner Haltung sagen kann. Diese Schuld ist aber meine eigene und meine persönliche. Ich trug die Verantwortung für die Jugend. Ich trug den Befehl für sie, und so trage ich auch allein für diese Jugend die Schuld. Die junge Generation ist schuldlos. Sie wuchs auf in einem antisemitischen Staat mit antisemitischen Gesetzen. Die Jugend war an diese Gesetze gebunden, sie verstand deshalb unter Rassenpolitik nichts Verbrecherisches. Wenn aber auf dem Boden der Rassenpolitik und des Antisemitismus ein Auschwitz möglich war, dann muß Auschwitz das Ende der Rassenpolitik und das Ende des Antisemitismus sein. Hitler ist tot. Ich habe ihn nicht verraten, ich habe nicht gegen ihn geputscht, ich habe kein Attentat gegen ihn geplant, ich habe meinen Eid ihm gehalten als Offizier, als Jugendführer, als Beamter. Ich war nicht sein Mitläufer, ich war auch kein Opportunist. Ich war Nationalsozialist aus Überzeugung von Jugend auf; als solcher war ich auch Antisemit. Hitlers Rassenpolitik war ein Verbrechen. Diese Politik ist fünf Millionen Juden und allen Deutschen zum Verhängnis geworden. Die Jugend ist ohne Schuld. Wer aber nach Auschwitz noch an der Rassenpolitik festhält, macht sich schuldig. Das ist, was ich zum Fall Höß zu erklären für meine Pflicht halte.

DR. SAUTER: Herr Präsident! Ist das vielleicht eine geeignete Zeit zur Pause?

VORSITZENDER: Wie lange wird das Verhör des Angeklagten noch dauern?

DR. SAUTER: Ich schätze, vielleicht eine Stunde noch.

VORSITZENDER: Ich habe nichts gehört.

DR. SAUTER: Ich schätze, vielleicht eine Stunde noch, eine knappe Stunde, denke ich. Haben Sie mich gehört, Herr Vorsitzender?

VORSITZENDER: Ich höre Sie nun, ja. Wir haben Sie schon sehr lange angehört.

DR. SAUTER: Ja.