[Zum Zeugen gewandt:]
Nun kommen wir zur Frage der Sowjetunion. Wie viele Truppen hatten wir im Osten während des Westfeldzuges?
JODL: Zuerst waren es zehn Divisionen, und die wurden im Laufe des Westfeldzuges noch auf sechs bis fünf Divisionen vermindert.
PROF. DR. EXNER: Was veranlaßte uns, nach dem Westfeldzug Truppen nach dem Osten zu verschieben?
JODL: Die Meldung des Oberbefehlshabers im Osten, daß er mit diesen schwachen Kräften weder Polen in Ruhe halten könne, noch die Demarkationslinie überwachen.
PROF. DR. EXNER: In Ihrem Tagebuch, dem sogenannten Tagebuch, 1809-PS, erster Band meines Dokumentenbuches, Seite 83, schreiben Sie am 24. Mai: »Lage im Osten wird durch russischen Aufmarsch gegen Bessarabien bedrohlich«. Das ist am 24. Mai 1940, das schreiben Sie in Ihr Tagebuch. Wie kamen Sie dazu?
JODL: Anlaß war eine Meldung von Canaris, der über den Aufmarsch von 30 russischen Divisionen gegen Bessarabien berichtet. Ob nun der Zusatz über die Besorgnis von mir stammt, oder ob es ein Gedanke des Führers war, den ich da niedergeschrieben habe, kann ich heute nicht mehr sagen.
PROF. DR. EXNER: Nun, am 6. September 1940 haben Sie einen Befehl unterschrieben, daß diese Umgruppierung nicht den Eindruck offensiver Absichten machen soll. Wie ist denn das zu verstehen?
JODL: Dieser von mir unterschriebene Befehl ist aufgefaßt worden als die erste Verschleierung des bevorstehenden Angriffes auf Rußland.
PROF. DR. EXNER: Einen Moment. Ich will das Gericht verweisen auf den Befehl, um den es sich dreht. Es ist Seite 78 des ersten Bandes, und zwar handelt es sich um 1229-PS, US-130. Es ist ein Befehl von Jodl unterzeichnet, an Ausland/Abwehr, und da heißt es nun:
»Der Ostraum wird in den kommenden Wochen stärker belegt werden. Bis Ende Oktober soll der aus anliegender Karte ersichtliche Stand erreicht sein.«
Und jetzt, Hohes Gericht, zu meinem Bedauern muß ich wieder auf einen Mangel in der englischen und französischen Übersetzung aufmerksam machen; es fehlt nämlich der nächste Absatz, und der ist sehr wichtig zum Verständnis des ganzen Dokuments. Es heißt nämlich:
»Für die Arbeit des eigenen Nachrichtendienstes, sowie für die Beantwortung von Fragen des russischen Nachrichtendienstes...«
VORSITZENDER: Es scheint nicht in unserem Dokument zu sein. Welchen Absatz lesen Sie jetzt?
PROF. DR. EXNER: Es ist der zweite Absatz in meinem Dokumentenbuch, Seite 78.
VORSITZENDER: Das ist nicht übersetzt.
PROF. DR. EXNER: Ja eben, das habe ich gesagt, das ist ja der Fehler, darum diktiere ich es jetzt oder lese es langsam.
VORSITZENDER: Sie wollen, daß es übersetzt werden soll?
PROF. DR. EXNER: Ja.
VORSITZENDER: Absatz 2 ist überhaupt nicht übersetzt. Es steht nichts hier.
PROF. DR. EXNER: Diese drei Zeilen sind überhaupt nicht übersetzt, sind aber sehr wichtig.
VORSITZENDER: Dann lesen Sie es über den Lautsprecher, diese Stelle.
MR. ROBERTS: Herr Vorsitzender! Im britischen Dokumentenbuch Nummer 7, Seite 102, ist das ganze Dokument enthalten.
VORSITZENDER: Danke vielmals. Fahren Sie fort.
PROF. DR. EXNER:
»Für die Arbeit des eigenen Nachrichtendienstes, sowie für die Beantwortung von Fragen des russischen Nachrichtendienstes, gelten folgende Richtlinien...«
und nun erklären Sie die Sache weiter.
JODL: Solche Anweisungen, wie diese hier an das Amt Canaris, habe ich alle sechs Wochen gegeben. Es waren die Grundlagen für die Arbeit der sogenannten Gegenspionage, die ich hier nicht näher erörtern will. In diesem Falle kam es mir darauf an, daß die schwachen Kräfte, die wir um diese Zeit im Osten hatten, daß diese tatsächlich stärker erscheinen sollten. Das geht aus der Ziffer 3 zum Beispiel hervor, in der es heißt, ich zitiere:
»Bei Angaben über die Ausrüstungslager der Verbände, besonders der Panzerdivisionen, ist erforderlichenfalls zu übertreiben.«
In der nächsten Ziffer weise ich auch darauf hin, daß der Flakschutz zu übertreiben ist. Das alles ist geschehen, weil zu dieser Zeit ja schon eine Sorge bestanden hat, daß eventuell eine russische Aktion gegen Rumänien sich entwickeln könnte. Davor abzuschrecken, war der Zweck dieser Anweisung, die nur für den Nachrichtendienst bestimmt war. Hätte ich am 6. September schon von irgendeiner Angriffsabsicht gegen Rußland etwas gewußt, dann hätte ich ja genau das Umgekehrte gesagt; denn mit diesem Befehl, wie ich ihn ausgegeben habe, da hätte ich mich ja im Sinne des Freundeskreises Gisevius betätigt, nämlich die Russen darauf hingewiesen, daß wir da zum Aufmarsch ansetzen.
PROF. DR. EXNER: Nun, wann hörten Sie denn zum erstenmal von der Sorge des Führers, daß Rußland sich feindlich zu uns stellen könnte?
JODL: Zum erstenmal am 29. Juli 1940 auf dem Berghof bei Berchtesgaden.
PROF. DR. EXNER: In welchem Zusammenhang?
JODL: Der Führer behielt mich nach der Lagebesprechung allein zurück und sagte mir überraschend, er hätte Sorge, daß Rußland noch vor dem Winter in Rumänien weitere Besetzungen vornehmen könnte und uns damit das rumänische Ölgebiet, das die »conditio sine qua non« für unsere Kriegführung war, wegnehmen würde. Er frug mich, ob wir nicht sofort einen Aufmarsch führen könnten, um noch im Herbst bereit zu sein, einer solchen russischen Absicht mit starken Kräften entgegentreten zu können. Das ist nahezu der Wortlaut, mit dem er sich geäußert hat, und alle anderen Darstellungen sind falsch.
PROF. DR. EXNER: Sie erwähnten soeben Hitlers Sorge um die Besitzergreifung der rumänischen Ölfelder. Hat der Führer auf Grund dieser Sorge etwas veranlaßt?
JODL: Auf Grund dieses Gespräches eben hier, bei dem ich ihm erwiderte, es sei ganz unmöglich, jetzt einen Aufmarsch aufzufahren, der dauerte vier Monate, da befahl der Führer, daß diese Aufmarschverhältnisse gebessert werden müssen; und es ergingen nun zwei Befehle in der nächsten Zeit. Der eine ist, glaube ich, vom 9. August, er nannte sich »Aufbau Ost« und enthielt alle Maßnahmen, die notwendig waren, die Aufmarschverhältnisse im Ostraum zu verbessern. Der zweite Befehl erging am 27. August. Er liegt uns nicht vor, aber er ist dokumentarisch festgehalten in dem Kriegstagebuch der Skl.
PROF. DR. EXNER: Ja, das ist Seite 85 des ersten Bandes meines Dokumentenbuches. Da ist ganz am Ende der Seite eine Eintragung im Tagebuch der Seekriegsleitung:
»Verschiebung von 10 Divisionen und 2 Panzerdivisionen in das Generalgouvernement für eventuell notwendiges schnelles Eingreifen zum Schutz des rumänischen Ölgebietes.«
Das ist also ein Auszug aus C-170, US-136.
VORSITZENDER: Sie lesen anscheinend von Seite 85?
PROF. DR. EXNER: Ja, von Seite 85. Bei mir ist es auf Seite 85 im Deutschen, vielleicht stimmt es im Englischen nicht ganz mit der Seite überein? Es ist die Eintragung »Verschiebung von 10 Divisionen und 2 Panzerdivisionen in das Generalgouvernement«.
VORSITZENDER: Ja, ich sehe schon.
JODL: Dieser Eintrag ist ein Beweis, welche Absicht damals der Führer mit dieser Verstärkung im Osten verfolgte.
PROF. DR. EXNER: Nun, wann wurde der Befehl des Führers erteilt, den Angriff vorzubereiten?
JODL: Der erste Befehl, Angriffsüberlegungen oder Überlegungen für eine Angriffsoperation überhaupt anzustellen, ist schriftlich vom Wehrmachtführungsstab aus am 12. November dem Führer vorgelegt worden. Es ist das das Dokument 444-PS.
PROF. DR. EXNER: Es ist auf Seite 66 des ersten Bandes meines Dokumentenbuches.
JODL:... und ist dem Gericht schon bekannt. Aber diesem ersten Befehl, der mir bekannt ist, müssen unbedingt mündliche Anweisungen des Führers an den Oberbefehlshaber des Heeres vorausgegangen sein.
PROF. DR. EXNER: Das ist aus dem Dokument selbst zu entnehmen, nämlich auf Seite 67 heißt es:
»Gleichgültig, welches Ergebnis diese Besprechungen haben werden, sind alle schon mündlich befohlenen Vorbereitungen für den Osten fortzuführen«,
ein Zeichen also, daß bereits mündliche Befehle und Vorbereitungen vorausgingen.
JODL: Ich bin aber nicht in der Lage zu sagen, wann diese mündlichen Anweisungen an das Heer gegeben worden sind.
PROF. DR. EXNER: Sagen Sie, war bei diesen Ausführungen Hitlers Ihnen gegenüber je von Dingen die Rede wie Erweiterung des Lebensraums und der Ernährungsbasis als Grund für einen Eroberungskrieg und so weiter?
JODL: Der Führer hat in meiner Gegenwart niemals auch nur eine Andeutung von einem anderen Grunde genannt als den rein strategisch-operativen. Unaufhörlich, durch Monate hindurch, kann man sagen, führte er aus: »Es ist kein Zweifel mehr, England hofft auf diesen letzten Festlandsdegen, sonst hätte es schon nach Dünkirchen den Krieg eingestellt. Unter der Hand oder unter der Decke sind sicher schon Vereinbarungen getroffen. Der russische Aufmarsch ist ja unverkennbar. Eines Tages werden wir plötzlich entweder eiskalt politisch erpreßt oder angegriffen.« Aber – darüber könnte man noch wochenlang sprechen – es ist kein anderes Wort mir gegenüber gefallen als derartige rein strategische Gründe.
PROF. DR. EXNER: Wie hatte sich nach den Meldungen, die Sie bekamen, die militärische Lage seit dem Polenfeldzug im Osten entwickelt?
JODL: Als wir zum erstenmal mit den Russen in Fühlung kamen, im Polenfeldzug, war das Verhältnis ein ziemlich frostiges. Jeder Einblick in die Truppe oder in die Ausrüstung wurde sorgfältig verwehrt. Es kam dann laufend zu unangenehmen Zwischenfällen am San. Die Russen schossen auf alles, auf flüchtige Polen oder auf deutsche Soldaten; es gab Verwundete und Tote, und es wurde die Demarkationslinie in zahlreichen Fällen überflogen. Die ungewöhnlich starken Kräfte, mit denen Rußland die Besetzung der baltischen Staaten, von Polen und von Bessarabien durchführte, die fielen uns vom ersten Augenblick an auf.
PROF. DR. EXNER: Enthielten die Meldungen, die Sie bekamen, Angaben über militärische Verstärkungen der Roten Armee?
JODL: Durch die Karten, die alle paar Tage vorgelegt wurden und die ja auf den Meldungen der Abwehr, auch der Horcherabteilung basierten, da formte sich folgendes Bild: Im Sommer 1940 waren etwa 100 russische Divisionen entlang der Grenze; im Januar 1941 waren es bereits 150 Divisionen, und die waren mit Nummern angegeben; also waren es zuverlässige Meldungen. Zum Vergleich dieser Stärke darf ich anfügen, daß die englisch-amerikanisch-französischen Kräfte, die von Frankreich aus gegen Deutschland operierten, nach meiner Kenntnis niemals 100 Divisionen stark waren.
PROF. DR. EXNER: Hat Hitler versucht, die politische Situation diplomatisch zu klären?
JODL: Er versuchte das durch die bekannte Besprechung mit Molotow, und ich muß sagen, daß ich auf diese Besprechung große Hoffnungen setzte; denn die militärische Lage für uns Soldaten war doch so: mit einem sicher neutralen Rußland im Rücken, das uns noch dazu belieferte, konnten wir den Krieg überhaupt nicht mehr verlieren. Eine Invasion wie am 6. Juni 1944 war völlig ausgeschlossen, wenn wir alle die Kräfte zur Verfügung gehabt hätten, die wir in diesem gewaltigen Kampf in Rußland verbrauchten und verloren. Daß ohne Not ein Staatsmann und letzten Endes war er auch ein Feldherr, eine solche Lage preisgibt, das muß ich sagen, ist mir keinen Augenblick in den Sinn gekommen. Und es ist eine Tatsache, daß er auch monatelang innerlich auf das schwerste mit diesem Entschluß gerungen hat, sicherlich beeinflußt durch die vielen Gegenvorstellungen, die sowohl der Reichsmarschall wie der Oberbefehlshaber der Kriegsmarine als auch der Außenminister erhoben haben.
PROF. DR. EXNER: Wie stellte sich auf Grund der Meldungen, die Sie bekamen, die weitere militärische Lage dar auf beiden Seiten?
JODL: Vom Januar 1941 an ist der Nachrichtendienst aktiviert worden. Die Divisionen an unseren Grenzen und auch an den rumänischen Grenzen wuchsen rapide an. Am 3. Februar 1941 hat der Chef des Generalstabs des Heeres dem Führer über die eigenen beabsichtigten Operationen vorgetragen. Er legte dabei eine Karte vor über den russischen Aufmarsch. Damals waren in dieser Karte eingezeichnet – und es liegt dokumentarisch fest – 100 Schützendivisionen, 25 Kavalleriedivisionen...
VORSITZENDER: Dr. Exner! Brauchen wir alle diese strategischen Einzelheiten der Pläne, die der deutsche Generalstab entworfen hat?
PROF. DR. EXNER: Es ist von ganz großer Bedeutung festzustellen, vor welchem Bild der Generalstab damals gestanden hat. Wenn nicht ein übermächtiger Aufmarsch der russischen Truppen...
VORSITZENDER: Aber darüber spricht er ja gar nicht. Er sagt uns, daß das OKW im Februar 1941 Pläne entworfen hatte, um den Aufmarsch deutscher Truppen zu zeigen.
PROF. DR. EXNER: Das ist ein Plan, der entwickelt worden ißt vom...
VORSITZENDER: Es ist unnötig, auf solche Einzelheiten einzugehen, zum Beispiel wie viele Kavallerieregimenter sie dort hatten.
PROF. DR. EXNER: [zum Zeugen gewandt] Ja bitte, sagen Sie ganz allgemein nach der Meldung vom Februar 1941, wie Halder Ihnen das Bild entwickelte. Nur eine Zahl: Wie viele Divisionen sind aufmarschiert?
JODL: Ich habe schon gesagt: Es waren im Februar 150 Divisionen gegen uns aufmarschiert.
VORSITZENDER: Das hat er doch schon gesagt.
PROF. DR. EXNER: Und wie viele waren auf unserer Seite?
JODL:... und ich möchte demgegenüber sagen, daß zu diesem selben Zeitpunkt unser Aufmarsch soeben begonnen hatte, was General Halder in diesem Augenblick vortrug. Und ich möchte ferner darauf hinweisen, daß aus dem Dokument C-39, US-138 – das ist Seite 92 des ersten Dokumentenbuches – daß aus diesem Dokument hervorgeht – es ist die Zeittafel für den, Aufmarsch –, daß erst ab 1. Juni die wirklichen Angriffsverbände, nämlich die vierzehn Panzerdivisionen und die zwölf motorisierten Infanteriedivisionen, antransportiert worden sind, und zwar, wie aus der Bemerkung in der äußersten Spalte rechts hervorgeht, sogar erst ab 10. Juni antransportiert worden sind. Ich erwähne das deswegen, damit man nicht sagt: ja, die deutsche Angriffsabsicht, die war ja schon im Februar 1941 erkennbar. Das war sie nicht.
PROF. DR. EXNER: Von der Anklagebehörde wurde besonders betont, daß lange vorher schon dieser Plan zum Überfall auf Sowjetrußland gefaßt worden ist. Können Sie dazu vielleicht noch einen Punkt sagen?
JODL: Ich will da mit einem Satz darauf hinweisen: Wir hatten für diesen Aufmarsch 10000 Züge zu fahren. Und wenn man am Tage 100 hätte fahren können, dann hätte das allein 100 Tage gedauert. Aber diese Zahl haben wir nie erreicht. Also rein technisch hat dieser Aufmarsch schon vier Monate gedauert, rein technisch.
PROF. DR. EXNER: Hatten die jugoslawischen Ereignisse Einfluß auf die Entschlüsse des Führers?
JODL: Sie gaben den letzten Ausschlag. Bis dahin waren immer noch Zweifel beim Führer vorhanden. Am 1. April und nicht früher, am 1. April stand sein Entschluß fest, den Angriff zu führen, und am 1. April hat er befohlen, ihn etwa für den 22. Juni vorzusehen. Der Angriffsbefehl selbst, also die wirkliche Auslösung des Feldzuges, die wurde erst am 17. Juni befohlen, was ebenfalls dokumentarisch festliegt.
PROF. DR. EXNER: Der Führer hat also nach Ihrer Ansicht einen Präventivkrieg geführt. Haben die späteren Erkenntnisse diese militärische Notwendigkeit erwiesen?
JODL: Es war zweifellos ein reiner Präventivkrieg. Das, was wir nachträglich noch feststellten, war aber jedenfalls die Gewißheit einer ungeheuren militärischen russischen Vorbereitung gegenüber unseren Grenzen. Ich will auf Einzelheiten verzichten, aber ich kann nur sagen, es ist uns zwar die taktische Überraschung nach Tag und Stunde gelungen, die strategische Überraschung nicht. Rußland war in vollem Maße kriegsbereit.
PROF. DR. EXNER: Als Beispiel: Können Sie vielleicht dem Gericht noch nennen die Zahl der neuen Flugplätze, welche im russisch-polnischen Gebiet gefunden worden sind?
JODL: Ich habe ungefähr in Erinnerung, daß die vorhandenen Flugplätze in Ostpolen etwa zwanzig waren und inzwischen auf über hundert vermehrt worden sind.
PROF. DR. EXNER: Was wären nun unter solchen Umständen die Folgen eines russischen Zuvorkommens gewesen? Nur ganz kurz.
JODL: Ich will nicht auf die strategischen Grundsätze der Operationen auf der inneren Linie eingehen, sondern nur ganz kurz sagen: Wir waren niemals stark genug, um uns im Osten verteidigen zu können; das haben die Ereignisse seit dem Jahre 1942 bewiesen. Das mag grotesk klingen; aber, um diese Front von über 2000 Kilometer überhaupt zu besetzen, brauchte man mindestens 300 Divisionen, und die haben wir nie gehabt. Wenn wir gewartet hätten, bis wir vielleicht gleichzeitig durch die Invasion und durch einen russischen Angriff in die Zange genommen worden wären, so wären wir mit Sicherheit verloren gewesen. Wenn also die politische Prämisse richtig war, nämlich, daß uns dieser Angriff drohte, dann war auch – militärisch betrachtet – der Präventivangriff berechtigt. Uns Soldaten war die politische Lage so dargestellt worden. Infolgedessen haben wir auch unsere militärischen Arbeiten darauf abgestellt.
PROF. DR. EXNER: Jetzt noch einige Fragen betreffs Japan. Welche Bedeutung hatte die Weisung Nummer 24 vom 5. März 1941 für die Zusammenarbeit mit Japan? Es war davon schon die Rede, aber nicht ganz klar. Das ist Seite 94 des ersten Bandes unseres Dokumentenbuches, es ist das Dokument C-75, US-151. Der Großadmiral Raeder hat als Zeuge schon etwas über diese Weisung gesagt. Haben Sie noch etwas Neues dazu zu sagen?
JODL: Das Dokument ist recht wichtig. Zunächst muß ich ein Geständnis machen. Es ist mir bisher nur vorgeworfen, dieses Dokument empfangen zu haben. Aber es stammt von mir, ich habe es veranlaßt. In meinem Stabe ist es bearbeitet worden in der Gruppe Kriegsmarine. Ich kenne infolgedessen dieses Dokument besser als irgend jemand. Das ist kein Operationsbefehl, sondern das ist eine Sprachregelung für die deutschen Offiziere.
PROF. DR. EXNER: Was heißt das?
JODL: Das heißt, es soll allen denjenigen deutschen Offizieren, die dienstlich oder außerdienstlich mit japanischen Offizieren in Verbindung kommen, genau dargelegt werden, was die Ziele der deutschen Politik sind, nämlich England auch im Fernen Osten anzugreifen und Amerika gerade dadurch aus dem Kriege herauszuhalten.
PROF. DR. EXNER: Das steht unter Punkt 3a dieser Weisung:
»Als gemeinsames Ziel der Kriegführung ist herauszustellen, England rasch niederzuzwingen und USA dadurch aus dem Kriege herauszuhalten.«
JODL: Eine solche Weisung war notwendig, damit nicht durch unbedachte Äußerungen deutscher Offiziere die japanischen Heeres- oder Seeoffiziere dies für ihre politischen Zwecke ausnützen; und aus diesem Grunde hat auch das Auswärtige Amt einen Abdruck bekommen, wie aus dem Verteiler hervorgeht, auf Seite 96. Das wäre bei einem Operationsbefehl nie geschehen. Deswegen hat ihn auch der Führer nicht unterschrieben.
PROF. DR. EXNER: Auf Seite 96 oben dieses Dokuments ist auch wiederum als Ziel der deutschen Kriegführung hingestellt:
»Außerdem sind Angriffe auf andere Stützpunktsysteme der englischen – der amerikanischen Seemacht nur, wenn Kriegseintritt USA nicht verhindert werden kann – geeignet, das dortige Machtsystem des Feindes zu erschüttern.«
Also wiederum das Streben, den Kriegseintritt der USA zu verhindern und nur, wenn es nicht anders möglich ist, es anzugreifen.
JODL: Ich darf noch hinzusetzen, daß der Zweck des Dokuments nicht war, auf Japan einzuwirken; das wäre ja eine politische Handlung; sondern es sollte nur allen Offizieren die Anweisung geben, was sie in einem solchen Falle äußern sollten.
PROF. DR. EXNER: Der Großadmiral Raeder hat uns schon gesagt, durch welche Marinebefehle er versucht hat, Amerika aus dem Kriege herauszuhalten. Haben Sie da etwas hinzuzufügen?
JODL: Nur einen einzigen Punkt, den der Großadmiral nicht genannt hatte; der ergibt sich aus dem Dokument C-119 und Jodl-14. Es ist nachzulesen auf Seite 98 des ersten Dokumentenbuches.
PROF. DR. EXNER: Seite 98 des ersten Bandes, AJ- 37, welches wir übergeben. Da heißt es:
»Besondere Anordnungen über das Verhalten bei der Besetzung Dänemarks und Norwegens« und dann...
JODL: Es braucht nur der letzte Satz gelesen zu werden.
PROF. DR. EXNER: Bitte lesen Sie dies.
JODL:
»Ausgenommen von dem Auslauf- beziehungsweise Startverbot sind sämtliche unter USA-Flagge fahrenden Kriegs- und Handelsschiffe sowie Flugzeuge«.
PROF. DR. EXNER: Das ist also auf Seite 98 der allerletzte Satz unten. Der Absatz spricht von einem Auslaufverbot für Kriegs- und Handelsschiffe, Flugzeuge und so weiter unter Ausnahme für die Amerikaner.
JODL: Amerika hat hier also eine Ausnahmestellung eingenommen wie lange Zeit bei allen Kriegsmaßnahmen der Seekriegsleitung.
PROF. DR. EXNER: Haben Sie vor dem Angriff Japans auf Amerika dienstlich mit japanischen Offizieren zu tun gehabt?
JODL: Nein, vorher nicht.
PROF. DR. EXNER: Überhaupt nicht?
JODL: Nein.
PROF. DR. EXNER: Hatten Sie den Angriff auf Pearl Harbor erwartet?
JODL: Der Angriff kam völlig überraschend, für mich überraschend, aber meinem Gefühl nach auch für den Führer überraschend; denn er kam mitten in der Nacht in meinen Kartenraum, um Generalfeldmarschall Keitel und mir diese Nachricht zu übermitteln. Er war vollkommen überrascht.
PROF. DR. EXNER: Ich möchte noch, daß Sie hier eine irrtümliche Auffassung dieses Briefes Falkensteins aufklären. Ich weiß nicht, ob das schon geschehen ist, das ist Seite 81 im ersten Band unseres Dokumentenbuches. Da ist ein Brief 376-PS, US-161. Da ist ein Brief von Falkenstein an Sie selbst, glaube ich?
JODL: Nein, nein.
PROF. DR. EXNER: Nicht?
JODL: An den General Waldau des Luftwaffenführungsstabes.
PROF. DR. EXNER: Da heißt es:
»Den Führer beschäftigt im Hinblick auf eine spätere Kriegführung gegen Amerika die Frage der Besetzung der Atlantischen Inseln.«
Das kann so gelesen werden, als ob die Absicht bestand, Amerika anzugreifen: »Den Führer beschäftigt im Hinblick auf eine spätere Kriegführung gegen Amerika...« Was ist damit gemeint, und wie haben Sie es aufgefaßt?
JODL: Das ist ganz selbstverständlich. Zu dieser Zeit waren tatsächlich Überlegungen im Gange, atlantische Inseln zu besetzen, was der Führer immer wollte.
PROF. DR. EXNER: Zu welchem Zweck?
JODL: Als eine gewisse Sicherungsbasis, also ein Vorfeld für ein Eingreifen Amerikas, und mit diesem Gedanken mußten wir uns, obwohl sowohl die Kriegsmarine wie auch der Wehrmachtführungsstab und der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht dies strikte ablehnten, mußten wir uns mit diesen Dingen wenigstens gedanklich beschäftigen; und das erzählt er in diesem Brief dem General von Waldau.
Im übrigen ist dasselbe dann niedergelegt in einem Dokument, später in einem Befehl 444-PS, genau dasselbe, was er hier schreibt.
PROF. DR. EXNER: Hatten wir überhaupt ein Interesse an der Ausweitung des Krieges?
JODL: Ich persönlich nicht. Ich kann nur sagen, die Ausdehnung vom Nordkap bis nach Tobruk und von Brest bis nach Rostow am Don, die war größer als mir lieb war.
PROF. DR. EXNER: Und hatten wir ein Interesse daran, daß Japan mit USA in den Krieg käme?
JODL: Nein, sehr viel lieber wäre uns ein neuer, starker Bundesgenosse ohne einen neuen, starken Gegner gewesen.
PROF. DR. EXNER: Haben wir Italien in den Krieg gezogen?
JODL: Was politisch geschehen ist, weiß ich nicht; aber als sich Italien nach dem Zusammenbruch Frankreichs praktisch an diesem Krieg auch noch beteiligen wollte, da versuchten wir das zu verhindern, wir Soldaten im OKW. Aber es gelang uns nur, eine Verzögerung seines Eingreifens um etwa vier bis sechs Tage zu erreichen; ganz ablehnen konnte der Führer nicht. Daß aber Italien während des ganzen Krieges keine Hilfe sondern nur eine Belastung war, das wird die spätere Kriegsgeschichtsschreibung bestätigen.
PROF. DR. EXNER: Zu all den Vorwürfen, betreffend Verbrechen gegen Frieden, möchte ich mich noch berufen auf die betreffenden Dokumente, welche von Göring, Ribbentrop, Raeder, Dönitz vorgelegt worden sind. Ich weiß nicht, ob eine solche Berufung prozessual überhaupt notwendig ist.
Nun eine letzte Frage: Die Anklage hat diese ganze Reihe von Feldzügen als einen lange vorbedachten und vereinbarten Eroberungsplan dargestellt, den Sie als Verschwörer provozierten und ausgeführt haben. Was sagen Sie zu dieser Darstellung?
JODL: Ich glaube, daß ich dieses historisch völlig verzerrte Bild bereits durch meine Aussage im wesentlichen korrigiert habe. Der Krieg gegen Polen brach aus, ohne daß ich an seiner Vorbereitung irgendwie beteiligt war. Er weitete sich zu einem Weltkrieg aus entgegen allen Hoffnungen der Soldaten. Für diesen Krieg mußte alles improvisiert werden. Es gab nichts als wie den Angriffsplan gegen Polen; es gab weder genügend Bomben noch Munition. Kein Soldat dachte damals an Norwegen, an Belgien, an Holland, an Jugoslawien, an Griechenland oder gar an Rußland. Es waren keinerlei militärische Vereinbarungen mit Italien oder mit Japan getroffen.
Die Darstellung des amerikanischen Generalstabschefs, des Generals Marshall, erkenne ich in fast allen Punkten als absolut richtig an.
PROF. DR. EXNER: Herr Vorsitzender! Ich habe keine Frage mehr.
VORSITZENDER: Wünscht ein anderer Verteidiger noch Fragen an den Zeugen zu stellen?
DR. HANS LATERNSER, VERTEIDIGER FÜR GENERALSTAB UND OBERKOMMANDO: Herr Generaloberst! Als Chef des Wehrmachtführungsstabes waren Sie längere Jahre der erste Generalstabsoffizier der Deutschen Wehrmacht?
JODL: Ja.
DR. LATERNSER: Sie waren auch im Laufe Ihrer militärischen Tätigkeit längere Zeit Lehrer an der Kriegsakademie?
JODL: Nicht gerade an der Kriegsakademie, sondern an den Generalstabskursen, die der Kriegsakademie vorausgingen und die damals an dem Sitz der einzelnen Wehrkreiskommandos abgehalten wurden.
DR. LATERNSER: Da nun alle höheren militärischen Führer aus der Generalstabsoffizierslaufbahn hervorgegangen sind, bitte ich Sie, in aller Kürze anzugeben, in welchem Sinne diese Offiziere auf der Kriegsakademie erzogen worden sind. Ich bitte Sie, sich nur auf folgende Punkte zu beschränken:
Wie wurde... oder welchen Raum nahm der Unterricht über Angriff ein; ferner Propagierung der Angriffskriege, Stellungnahme zum Kriegs- und Völkerrecht und zur Politik?
VORSITZENDER: Der Gerichtshof hält diese Fragen für vollkommen unerheblich.
DR. LATERNSER: Wenn das Gericht glaubt, daß diese Fragen unerheblich sein sollten, dann werde ich auf die Beantwortung dieser Fragen verzichten.
Herr Generaloberst! Sie kennen den Standpunkt der Anklage, daß die militärischen Führer eine Gruppe gebildet haben sollen mit dem Ziel, Angriffskriege zu entfesseln und im Verlaufe dieser Kriege Verbrechen zu begehen gegen das Kriegsrecht und gegen die Gesetze der Menschlichkeit. Ich bitte Sie, zu diesem Punkt Ihre Stellungnahme dem Gericht angeben zu wollen, insbesondere darüber, ob eine Gruppenbildung der höheren militärischen Führer tatsächlich vorgelegen hat.
JODL: Ich habe den Begriff dieser Gruppe nie verstanden und werde ihn auch nie verstehen. Es ist genau so, wie wenn die Passagiere eines Passagierdampfers auf einem Ozeandampfer zusammenkommen, und dort einigten sie oder mußten sie einigen die Anordnungen des Kapitäns. Diese sogenannte Gruppe höherer Offiziere, die war vielleicht in der kaiserlichen Zeit eine absolute Einheit; aber auch da nicht. Aber hier, nach der nationalsozialistischen Revolution, waren diese Gruppen auf allen Gebieten des Lebens völlig in sich gespalten, politisch und weltanschaulich und ideologisch. Das Ziel, das sie vereinigt hat, war das Soldatentum und der notwendige Gehorsam.
VORSITZENDER: Wir sollen jetzt eine Verhandlungspause machen.